Paul Sédir, Pseudonym für Yvan Leloup (1871 – 1926)

 

Französischer Okkultist, Rosenkreuzer und esoterischer Schriftsteller, der mit Papus
befreundet
war.

Siehe auch Wikipedia

 

Allgemeine Bemerkungen über die Kabbala
Die Kabbala ist einer der berühmtesten unter den Wissenszweigen des Okkultismus der Tradition; sie ist die esoterische, Philosophie der alten Hebräer. Nach den Rabbis ist der Patriarch Abraham ihr Begründer, und die Bücher, in denen sich die Darlegung aller ihrer Geheimnisse findet, sind eben nur die Bücher Moses.

Die modernen Gelehrten schreiben der Kabbala ein viel geringeres Alter zu. Nicolas lässt sie bis ins erste vorchristliche Jahrhundert zurückgehen. Andere behaupten, dass sie im 13. Jahrhundert durch Rabbi Mose de Leon erfunden worden sei; aber A. Franck hält sie in seinem berühmten Buche für viel älter als die Kompilationen der Mishna und des Talmud. Das ist die Meinung aller Eingeweihten, die über die Frage geschrieben haben, und F'abre d'Olivet sagt das ganz deutlich: »Nach der Ansicht der berühmtesten Rabbis scheint es, dass Moses selbst, der das Los voraussah, das sein Buch treffen würde, die falschen Interpretationen, auf die man notwendigerweise im Laufe der Zeiten kommen werde, zu einem mündlichen Gesetz Zuflucht nahm, das er Männern überlieferte, deren Zuverlässigkeit er erprobt hatte und denen er auftrug, es in der Verborgenheit des Heiligtums wieder anderen zu übermitteln, die es dann, da sie es ihrerseits von Jahrhundert zu Jahrhundert fortpflanzten; bis auf die fernsten Nachkommen gelangen lassen mussten. Dieses mündliche Gesetz, das auch heute noch die Juden zu besitzen glauben, heißt Kabbala, nach einem hebräischen Worte, das »das Empfangene« bedeutet, das von Hand zu Hand überliefert wird.«
Unser Werk soll die Theorien derer darstellen, die nicht nur auf archäologische Beweise sich stützen, sondern auch der geheimen Stimme der Eingeweihten Vertrauen schenken.

Da Moses ein ägyptischer Eingeweihter war, muss die Kabbala eine vollständige Darlegung der Mysterien Mizraims (alter Name für Ägypten) enthalten; aber man darf nicht vergessen, dass auch Abraham viel zur Begründung dieser Wissenschaft beigetragen hat. Und da der Name (= »Vater der Menge«) dieser symbolischen Persönlichkeit und deren Legende andeuten, dass er ein Kollegium chaldäischer Priester versinnbildlicht, kann man sagen, dass die Kabbala auch die Mysterien des Mithras enthält.

Ich kann hier nicht für alles das, was ich vorbringe, die Beweise geben; man müsste die ganze Sprachwissenschaft und die alte Geschichte heranziehen. Ich wiederhole nur, meine Absicht ist, in aller Kürze und mit möglichster Klarheit wenig bekannte Ideen darzulegen.

Die Überlieferung lehrt, dass vor der weißen Rasse drei andere Menschenrassen nacheinander auf der Erde erschienen waren, indem immer eine Vernichtung durch Wasser oder durch Feuer den Fall der einen und das Aufkommen der folgenden bezeichnete. Zwei dieser Rassen hatten auf Kontinenten gelebt, die heute verschwunden sind, und da gelegen waren, wo sich jetzt der pazifische und der atlantische Ozean ausdehnen.

Man wird in den Werken Elisée Reclus und Ignatius Donnellys geographische, geologische, ethnographische und historische Beweise finden, die für diese Theorie sprechen.

Ohne uns auf die Einzelheiten der bei diesen verschwundenen Völkern herrschenden Vorstellungen einzulassen, begnügen wir uns damit, zu wissen, dass in der Epoche, in der der junge, aus dem Nil errettete Hebräer lebte, die Tempel Thebens die Priesterarchive der Atlanten und die der Kirche von Ram umschlossen. Die letzteren waren der Ausdruck des Esoterismus der schwarzen Rasse, der im alten Indien seinen Sitz hatte, bevor dieses von den Weißen überschwemmt wurde. Andererseits empfing Moses in den Tempeln Jethros, des letzten der schwarzen Priester, die Mysterien dieser Rasse. So umfasste die mündliche Überlieferung, die der Führer der Hebräer 70 Auserwählten hinterließ, die gesamten geheimen Traditionen, die es jemals gegeben hatte.

So haben wir in der Kabbala eine Emanationslehre wie in Ägypten, einen Pantheismus wie in China; wie Pythagoras kannte sie die mystischen Kräfte der Buchstaben und Zahlen; sie lehrte psychurgische Künste wie die indischen Yogis; sie enthüllt die geheimen Kräfte der Pflanzen, der Steine oder der Planeten wie die Astronomen Chaldäas und die Alchemisten Europas. Deshalb haben sie die Altertumsforscher mit Lehren verwechselt, die viel späteren Ursprungs sind und einen viel beschränkteren Umfang haben.

Aus einer Stelle des Exodus weiß man, dass Moses dem Josua die Schlüssel der mündlichen Überlieferung anvertraute. Aber diese Schlüssel verrosteten, wie Saint-Yves sagt, während der Schrecken der Kriege und Umwälzungen, die über Israel bis zu den Zeiten Esdras kamen; aber sie wurden nicht durch den Priesterstand der Israeliten, sondern in dem Schoß der Propheten- und Seherschulen, deren bekannteste die Essenier sind, erhalten. Die Vorlesung der Bücher Moses geschah jeden Sabbat öffentlich vor dem Volke. Die Kommentare, die dazu gegeben wurden, die Targums, waren anfangs mündlich, wurden aber später niedergeschrieben.

Diese ganze kasuistische und scholastische Literatur, die sich nach der Rückkehr aus dem Exil bis zur Zerstörung des dritten Tempels anhäufte, wurde Midrashim oder »Kommentare« genannt. Man unterscheidet hier die »Hallachah«, Wandel oder Regelung des Wandels, und »Haggadah«, Erzählung.

In diesem letzterem Teile, sagt Saint-Yves, haben die esoterischen Schulen ein wenig von ihrem Wissen - Shemata, Kabbala - durchsickern lassen. Das Wort Kabbala, das man gewöhnlich als Überlieferung erklärt, scheint noch eine andere, vielleicht richtigere Etymologie zuzulassen. Gewöhnlich leitet man es von dem hebräischen Worte québil ab, das »empfangen« bedeutet, und übersetzt es mit »Überlieferung«. Doch ist das Wort »Kabbala« vielleicht chaldäo-ägyptischen Ursprungs.

Die ägyptische Wurzel Khepp, Khop oder Kheb, Khob, im Hebräischen: gab, Khebb oder Khebet, bedeutet verbergen, einschließen, und al oder ol im Ägyptischen »nehmen«: so würde das Wort bedeuten »Wissenschaft«, die aus geheimen Prinzipien abgeleitet ist.

Nach Esdras wurde die Interpretation der esoterischen Texte des Moses aus einer dreifachen eine vierfache, das heißt aus einer solaren eine lunare, oft eine polytheistische. Infolge dieser letzteren, auf fremdländische Einflüsse sich stützenden Interpretationsart kam auch das berühmte persische Wort »Paradies« auf, in seinen Konsonanten: P. R. D. S., der Schlüssel für die Lehre in den Synagogen, ganz verschieden von den Schlüsseln, die durch Moses dem Josua übergeben wurden.

Diese vier Arten oder Stufen der Interpretation lassen sich nach Molitor in folgender Weise charakterisieren:

Die niedrigste, Pashut, ist der wörtliche Sinn,

die zweite heißt Remmez, die den Text als Allegorie auffasst;

die dritte, Derash, beruht auf einem Symbolismus höherer Art, der nur als Geheimnis unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt wird;

die vierte endlich, Sod, was Mysterium oder Analogie bedeutet, ist unbeschreiblich und unaussprechlich; sie lässt sich nur auf Grund direkter Offenbarung verstehen.

Die theoretische Kabbala umfasste:

1. Die Überlieferungen der Patriarchen über das heilige Mysterium Gottes und der göttlichen Personen;

2. über die geistige Schöpfung und über die Engel;

3. über das Chaos, den Ursprung der Materie, und über die Erneuerung der Welt im Sechstage-Werk der Schöpfung.

4. über die Schöpfung des sichtbaren Menschen, seinen Fall und die göttlichen Wege, die auf seine Wiedereinsetzung in seine frühere Stellung abzielen.

Das Werk der Schöpfung heißt Maasse Bereschit. Der himmlische Wagen heißt Maasse Mercaba. Im Folgenden geben wir nach Molitor die theoretische Darlegung, die sich auf die Schöpfung bezieht: Die Kosmogonie.

Die mündliche Überlieferung im Zeitalter von Tohu.
Das Wesen alles geschaffenen Seins beruht auf drei Kräften; die mediane oder mittlere Kraft ist das Lebensprinzip der Kreaturen, die sie in ihrer Gleichförmigkeit erhält.

Die Kreatur ist als solche nur Kraft eines realen Prinzips, das in einer Tendenz zur Invidualisierung sich offenbart, um dadurch auf die Außenwelt zu wirken.

Diese Aktion ist ganz verschieden von jener bösen, die die Kreatur aus ihrem Einssein mit der Gottheit losgelöst hat. Der Akt, durch den die Kreatur entsteht, ist, seinem ursprünglichen Wesen nach nur ein blinder Instinkt der Natur. Dieses negative Sichzusammenziehen und Loslösen der Kreatur ist aber eine Aktion, die nur in ihrer Kontinuität Existenz hat und nur bis zu einem gewissen Wendepunkt anwächst. Hat sie diesen erreicht, so lechzt dann die Kreatur wieder dem Prinzip entgegen, aus dem sie hervorgeht.

Die Offenbarung hat auch zwei Aktionsformen, entsprechend denen der Kreatur, und man nennt sie Schiur Koma (Exteriorisation des Typus).

Die eine erzeugt das Sein, erhält ihm das Leben und gibt ihm eine eigene Sonderexistenz (der Sohn). Das ist die Schöpfung; die andere vereinigt wieder, das ist die Erlösung, die Offenbarung des Sohnes in Gnade und Liebe (der Geist), die darauf ausgeht, die Kreatur aus ihrem Nichts, aus ihrer Nichtigkeit emporzuheben, und so mit dem sehnenden Verlangen in Einklang steht, mit dem diese eine Vereinigung mit dem Urprinzip anstrebt, aus dem sie hervorgegangen ist.

Das Leben der Kreatur ist dann am vollkommensten, wenn in dem Augenblick, wo ihre Sonderexistenz anfängt, auch ihre Vereinigung mit Gott erfolgt. Um das zu erreichen, muss sie freiwillig auf ihre Sonderexistenz verzichten; denn Seligkeit ist für sie Verschmelzung der doppelten Wonne, der des Seins und der des Nichtseins.

Das Leben, Mercaba, »der Wagen«, umfasst drei Welten oder Funktionsprinzipien:

1. Neschamma, das Innere - der Geist - umfasst die Intelligenzen oder Entelechinen, die Gott so nahe stehen, dass die Sonderwirkung und Sonderexistenz als Kreatur durch das Göttliche fast völlig aufgehoben ist, derart, dass diese Wesenheiten fähig sind, in Gott völlig aufzugehen;

2. Ruach, ein vermittelndes und verbindendes Prinzip; die Hierarchie der unsichtbaren Wesen, die sogenannten »Kanäle«, die empfindende Seele;

3. Nephesch, das zum äußeren Ausdruck gebrachte oder Geoffenbarte, der Körper der Schöpfung, in dem die Sonderwirkung der Kreatur ihren höchsten Grad erreicht.

Jede Kreatur hat ihren Anteil an diesen drei Prinzipien. Abgesehen von dem vermittelnden Ruach ist es Neschamma, das sie mit ihrem letzten Ursprung, mit ihrer letzten Ursache verbindet, wo sie bereits in der Idee existiert hat. Nephesch aber ermöglicht der Kreatur die Sonderexistenz.

Neschamma und Nephesch äußern sich in zwei entsprechenden Kraftströmen: Or Hajaschor, das aus eigener Kraft ausstrahlende Licht, und Or Hachoser, das reflektierte Licht.

Das Leben strebt unaufhörlich der Einheit, der Vereinigung entgegen. Die elementaren Wesen sind keines geistigen Lebens fähig, sie suchen emporzusteigen, können aber keine höhere Entwicklung erreichen; bei keinem von ihnen kann das Äußere im Innern, das Reale im Idealen aufgehen.

Das Wesen, das das Ganze krönt und ihm seine hohe Weihe gibt, ist der Mensch, der auch an den erwähnten drei Prinzipien Anteil hat. Er vereinigt gewissermaßen wie im Brennpunkt einer Linse alle Formen des Seins, um so der Welt eine Art Verklärung zu verleihen.

Gott bedient sich des Menschen, um sich durch ihn mit der Natur zu verbinden. Der Mensch dient als Band und Verbindung zwischen Gott und der Natur, zwischen Schöpfer und Schöpfung. Beide reflektieren ihn in seiner doppelten Natur.

Der Mensch stellt das Streben des Lebens nach Vereinheitlichung, nach Wiedervereinigung dar.

Der innere, geistige Mensch ist »Zeelan Alohim«. Der äußere, körperliche Mensch ist »D'muth Alohim«. Im Gegensatz zum Menschen strebt der Engel danach, die Idee in der Form des Realen zu offenbaren.

Der Mensch als Ganzes hat drei Teile, zwölf Organe und 70 Glieder. Die Entwicklung seiner Teile ist die Geschichte der Schöpfung und seiner allmählichen Vereinigung mit Gott. Der doppelte Beruf der Kreatur besteht darin, dass sie

1. in Freiheit auf ihre Vereinheitlichung und Wiedervereinigung hinarbeitet;

2. ihren Existenzbedingungen und den unendlich erhabenen Absichten der göttlichen Liebe gerecht werden soll. Diese Vereinigung des Individuums mit dem Unendlichen erfolgt nur vermittels des Willens, der in der Seele seinen Sitz hat, und durch zwei Arten der Erkenntnis:

Schimusch Achorajin, Annäherung und erkennendes Anschauen »von hinten«*, entsprechend dem Zustand der Kreatur nach ihrem Hervorgehen aus der Gottheit, wenn sie sich im All verliert.
*Als Gott zu Moses sagte, dass er ihn nie von Angesicht, sondern nur »von hinten« sehen werde, spielte er auf diese beiden Arten des Erkennens an, welche außerdem noch durch den Baum des Lebens dargestellt werden, welcher die Erkenntnis des Guten und Bösen gibt. Es ist mit einem Wort das, was wir heute die Intuition und die Reflexion nennen.

Siwug Panim Al Panim,
Annäherung und erkennendes Anschauen von Angesicht zu Angesicht, ein Zustand der Verklärung, der der Kreatur ein übernatürliches Leben gibt und sie Gott ähnlich macht.

Die Kreatur will sich dem Unendlichen beständig nähern, ohne es jemals erreichen zu können. Das Unendliche ist das Ain Soph, das der Mensch nur in seinen Offenbarungen nach außen, in seinen Spiegelungen, den Sephirot, begreifen kann. Die 10 Sephirot bilden wieder nur drei Personen oder Prinzipien.

Adam hatte (gemäß den positiven und negativen Vorschriften) eine doppelte Mission:

1. den Garten Eden zu bebauen;

2. sich vor dem Einfluss der Finsternis zu hüten.

Wenn der Mensch gehorcht hätte, hätte die Vereinigung und Einheit der beiden Adam, des himmlischen und des irdischen, für alle Ewigkeit bestanden und dasselbe wäre auch in der ganzen Natur der Fall gewesen.

Alles Begrenzte, Endliche ist anfänglich in der absoluten Substanz, dem Unendlichen, vereinigt, mit welcher es sich dereinst aufs neue verbinden muss, damit sie für die noch möglichen Entwicklungen vorbereitet sei. Aber man muss die absolute und universelle Form des Menschen (den himmlischen Adam) von der der einzelnen Menschen unterscheiden, welche nur eine schwache Wiedergabe der ersteren ist, Die erstere, der himmlische Adam genannt, ist durchaus untrennbar von der göttlichen Natur und deren erste Offenbarung.

Einmal in Gott erstarkt, hätte Adam ohne Egoismus seine Sonderentwicklung vollführt (Vgl. Fabre d'Olivet, Cain). Das Ende wäre nur das Bewusstsein der völligen Nichtigkeit der Kreatur gewesen, eine Erkenntnis, die ein notwendiges Durchgangsstadium ist. Das Wort, der Logos, wäre erschienen, um die Bebauung des Gartens zu verinnerlichen, und dann hätte der Heilige Geist den großen Sabbat verkündet.

Aber die Schlange ließ im Herzen der Menschen die Liebe zur Kreatur, das Verlangen entstehen, die unteren Dinge kennen zu lernen und in ihre Mitte herabzusteigen. Das Gleichgewicht der Pole des Lebens wurde gestört; das Prinzip des Sichzusammenziehens erstarb allmählich, das der Expansion nahm chaotischen Charakter an (Vgl. Boehme, Übergang vom Licht zur Finsternis).

Das Maß der Gnade und Barmherzigkeit, middath-hachesed und Rachmim, verwandelte sich so in das Maß der Strenge, middath-hadin.

Der Mensch, der aber den Gnadenmitteln, die auf seine Umkehr abzielen, hartnäckigen Widerstand entgegensetzt, wird in eine Sphäre verbannt, die außerhalb des harmonischen Kreislaufes liegt.

Fassen wir das alles zusammen:

Die Wirkungen des höchsten Wesens erstrecken sich in allmählicher Abschwächung in alle Sphären der Schöpfung. Aber während im Buche Sepher Jezira die Abschwächung der Urenergie des Unendlichen sich in drei Graden der Ausstrahlungen des reinen Seins vollzieht, schließt ich der Zohar enger an das allgemeine Prinzip seines Systems an und spricht von vier verschiedenen und aufeinander folgenden Welten.

Die erste ist die Welt der (ersten) Emanation, olam essicuth, abzuleiten von dem Zeitwort »assul«, das »emanere ex alio et se ab illo separare certo modo« (Ausströmen aus einem andern und sich davon in gewisser Weise absondern) bedeutet. Unter »Emanation« ist hier das innere Arbeiten gemeint, durch das die in der absoluten Ursubstanz (ain = nihil) schlummernden Möglichkeiten erst Realitäten werden (die zweiunddreissig Wege der Weisheit).

Die zweite ist die Welt der Schöpfung, olam beria, abzuleiten von dem Zeitwort »bara« (encidit), das »aus sich herausgehen« bedeutet. Es ist damit die Bewegung gemeint, durch die der Geist aus seiner Isolierung heraustritt und sich als Geist offenbart, ohne dass noch damit die geringste Spur einer Individualisierung sich zeigen würde.

Der Zohar betrachtet diese Welt als eine Art Vorhang, der dem »unteilbaren Punkt« als Schleier, als Bekleidung dient und der, obwohl von weniger reinem Licht als der »Punkt« selbst, doch noch immer zu hell strahlt, um betrachtet werden zu können.

Die dritte ist die Welt der Ausgestaltung, olam jezira, abzuleiten von »jazor«, dem lateinischen »formari« entsprechend, was »sich gestalten«, »sich bilden« bedeutet; es ist die Welt der reinen Geister, aber doch schon mit der Intelligenz begreiflicher Wesen, wo durch einen gewissen Prozess der Geist als Allgemeinwesen sich in eine Menge individueller Geister auflöst.

Die vierte ist die Welt der Verfertigung, olam assija, abzuleiten von »assa«, dem lateinischen »conficere« entsprechend, was »verfertigen« bedeutet. Es ist die Welt des Universums oder die sinnlich wahrnehmbare Welt. Sepher Jezira betrachtet die Entwicklung des absoluten Seins als »eine beständig herniedersteigende Bewegung« von den höchsten Stufen der Existenz bis zu den allerniedrigsten.

Der Zohar lehrt uns, dass diese Expansions-Bewegung des Seins, der Ursubstanz, von einer Bewegung der Konzentrierung auf sich selbst abgelöst wird. Diese Bewegung der Konzentrierung ist sogar der Endzweck aller Dinge. Die Seelen (reine Geister), die aus der Welt der Ausgestaltung in die der Verfertigung gelangt seien, werden in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren, wenn sie alle die Vollkommenheiten entwickelt haben werden, zu denen sie die unzerstörbaren Keime in sich tragen. Wenn es erforderlich ist, wird es mehrere Existenzen geben. Man nennt dies den Kreislauf der Wanderung.

Nach der Kabbala, die dabei der allgemeinen Tradition des Okkultismus folgt, setzt sich der Mensch aus drei Teilen zusammen: Körper, Seele und Geist. In Übereinstimmung mit dem Gesetz der Schöpfung, das in dem System der Sephiroth verkündigt wird, ist jeder dieser Teile eine Spiegelung der anderen und enthält ein Abbild der beiden anderen, und diese dreifachen Gliederungen lassen sich nach der Lehre der eingeweihten Rabbis bis in die kleinsten physiologischen Details verfolgen, bis in die allerfeinsten Prozesse des psychischen Wesens.

Ganz im Gegensatz zu dem, was die katholischen Theologen annehmen, sowie zu dem, was die atheistischen Philosophen und die gnostischen Häretiker gelehrt haben, da sie den wahren Sinn der Texte nicht verstanden, die sie vor Augen hatten, findet sich diese dreifache Gliederung, die die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele mit sich bringt*, in vollster Deutlichkeit in den Büchern Moses und besonders im Buche Sepher Jezira.
* An sich selbst betrachtet, das heißt, unter dem Gesichtspunkt der Seele und verglichen mit Gott, bevor derselbe in der Welt sichtbar wurde, ruft uns das menschliche Wesen durch seine Einheit, seine substanzielle und dreifache Natur vollkommen die höchste Trinität ins Gedächtnis zurück.

Der niederste Teil (oder richtiger: Funktionsprinzip) des menschlichen Wesens heißt hebräisch Nephesch; eine mittlere Stellung nimmt das Prinzip Ruach ein und der erhabenste Grad seiner Existenz ist Neschama. Jedes dieser Zentren steht in einer gewissen Verbindung mit der entsprechendsten Sphäre des Universums: Nephesch durchdringt die physische Welt, nährt sich von ihren Energien und hat in ihr seine Geschöpfe; für Ruach gilt das gleiche betreffs der astralen, für Neschama betreffs der göttlichen Welt.

Aber diese Teile des Menschen oder vielmehr diese drei Grade der menschlichen Existenz sind in beständiger Wechselwirkung mit den entsprechenden Sphären des Universums und mit den beiden anderen Prinzipien des Menschen selbst.

»Diese drei fundamentalen Prinzipien des Menschen«,
sagt ein neuerer Kabbalist, Karl v. Leiningen, »sind nicht völlig von einander verschieden und getrennt; im Gegenteil, man muss sich vorstellen, dass eines in das andere allmählich übergeht wie die Farbbänder eines Spektrums, die zwar auf einander folgen, aber doch nicht scharf von einander getrennt werden können, da eines mit dem andern verschmilzt.

Steigt man vom Körper, d. h. von dem mit dem Körper eng verbundenen niedrigsten Prinzip Nephesch durch Ruach bis zum erhabensten Grad der Existenz, Neschama, empor, so findet man alle Abstufungen, gleich wenn man aus dem Dunkel durch Halbdunkel zum Lichte geht; und umgekehrt durchläuft man von den erhabensten Stufen der geistigen Existenz bis zu den materiellsten physischen alle Abschwächungen der Lichtstrahlung, so wie wenn man vom Licht durch die Dämmerung zur Finsternis übergeht. Dank dieser inneren Vereinigung, dieser gegenseitigen Verschmelzung der Prinzipien, geht die Zahl Neun in der Einheit auf, um den Menschen hervorzubringen, einen verkörperten Geist, der in sich zwei Welten (d. h. die göttliche und die physische) durch ein vermittelndes Prinzip vereinigt«.

Wie sich diese drei Prinzipien oder Grade der menschlichen Existenz ungeachtet des sie trennenden Abstandes zu einem einzigen Wesen verbinden, geht besonders klar aus einer Stelle des Zohar hervor, wenn wir für Nephesch, Ruach und Neschama die Terminologie »sinnliches Leben«, »Seele« und »Geist« annehmen.Es heißt dort (Zohar, Tl. II, Fol. 142):

»In den drei Dingen, dem Geist, der Seele und dem sinnlichen Leben finden wir ein getreues Bild von dem, was von oben herabsteigt; denn alle drei bilden nur ein einziges Wesen, in welchem alles zu einer Einheit verbunden ist. Das sinnliche Leben besitzt an sich selbst kein Licht und ist deshalb mit dem Körper eng verbunden, welchem es die Freuden und die Nahrung, deren es bedarf, beschafft. Man kann es mit den Worten des Weisen erklären: »Es bereitet seinem Haus die Nahrung und weist den Knechten ihr Tagewerk an«. Das Haus ist der zu ernährende Körper und die Knechte sind die Glieder, welche ihm gehorchen. Über das sinnliche Leben erhebt sich die Seele, welche es unterjocht, ihm Gesetze auferlegt und erleuchtet, soviel es die Natur bedarf. Das animalische Prinzip steht also unter der Herrschaft der Seele. Über die Seele endlich erhebt sich der Geist , welcher alles beherrscht und auf sie ein Licht des Lebens wirft. Die Seele wird durch dieses Licht erleuchtet, und alles hängt vollkommen vom Geist ab«.

Wenn wir diese Darlegungen mit den auf Molitor beruhenden zusammenstellen, sieht man die Analogie zwischen Mensch, Universum und Gottheit hervortreten, die sich in allen Traditionen wiederfindet. Die folgende Tabelle wird das vielleicht noch deutlicher machen:

10

Neschama



Ruach


Nephesch

Das Allgemeine

9

Jechidad

6
Das Qualitative

3
Das Prinzip
(Der Urgrund)

Das Besondere

8

Chaija

5
Das Äußere

2
Die gestaltende Kraft

Das Konkrete

7
Die Erkenntnis

4
Das Quantitative

1
Die gestaltete Materie
 

Jechidad und Chaija bilden mit Neschama, Ruach und Nephesch zusammen fünf mystische Personen oder Prinzipien, die in allen vier Welten auftreten; doch gehören besonders die beiden ersten den Lehren der höheren Kabbala an, denen wir einen gewissen Schleier lassen müssen, den nur eigenste und persönlichste Bemühung des Einzuweihenden lüften kann.

Diese Tabelle, die nur eine Anwendung des Schemas der Sephiroth ist, soll uns zu einer kurzen Darlegung des praktischen Teiles der Tradition hinüberführen.

Die praktische Kabbala beruht auf folgender Theorie. Die hebräischen Buchstaben entsprechen ganz genau den göttlichen Gesetzen, die die Welt gebildet haben.

Jeder Buchstabe vertritt ein hieroglyphisches Wesen, eine Idee und eine Zahl. Diese Buchstaben kombinieren, heißt die Gesetze oder die wesentlichen Prinzipien der Schöpfung erkennen.

Dieses System von 22 Buchstaben, die der göttlichen Trinität, den zwölf Zeichen des Tierkreises und den sieben Planeten entsprechen (3 + 12 + 7 = 22) entwickelt sich in 10 Kategorien, die die zehn Sephiroth sind. Dieses System, mit dem die Lehren des Pythagoras vielfach Verwandtschaft zeigen, hat Eliphas Levi in treffender Weise charakterisiert.

Wir zitieren hier nur die Meister der Wissenschaft, weil es uns nicht erlaubt ist, mehr als einige allgemeine Grundsätze zu geben; wir wollen nur einen Überblick über diese Wissenschaft geben, die viel komplizierter und schwieriger ist als man gewöhnlich glaubt. Als Beweis mögen die folgenden Zeilen dienen, die wir einem der bedeutendsten neueren Kabbalisten (Marc Haven: Stanislas de Guaita als Kabbalist; »Initiation«, 1898, S. 33-36) entlehnen:

»Es gibt zwei Arten der Kabbala' und ich muss mit besonderem Nachdruck auf den Unterschied zwischen ihnen verweisen. Die eine, die Kabbala des Buchstabens, ist die, die alle Philologen kennen, die manche analysiert und klassifiziert haben. Sie ist es, die mit ihrem Anschein von Präzision und Mathematik manchen verblüfft, die sich noch nach dem Tode der wahren Wissenschaft erhält, während diese einem Gerippe gleicht, das unter dem furchtbaren Wust der talmudistischen Studien begraben ist. Es gibt keinen Rabbiner, so unwissend er auch sein mag, der nicht einige Brocken davon kennen würde, von dieser Kabbala, die sich auf Zaubertalismanen findet, auf den Pergamentamuletten der Juden u. s. w. Diese Kabbala hatte ein wirkliches Leben nur durch die Ideen, die sie zum Ausdruck brachte, und vor Alters, zur Zeit der Entstehung des Zohars, und selbst in der Epoche der neueren Kabbalistik im 17. Jahrhundert, war sie nur das Ausdrucksmittel einer besonderen und schwer fassbaren Mystik, die ihre eigene Sprache und ihre eigenen Symbole hatte.

Diejenigen, die die Bücher des Zohar, die kabbalistischen Traktate aller Epochen studiert haben, wissen, welche Geduld, welche Bemühungen nötig sind, zunächst nur, um in den Sinn der Symbole einzudringen und um ihren Ursprung festzustellen, dann aber auch, um bei ihren Zusammenstellungen den Erklärungen zu folgen, die die weisen Kabbalisten gegeben haben.

Einige wenige Gelehrte unter den Juden, einige auserwählte Geister besitzen diese Wissenschaft, deren Studium so lange Zeit beansprucht und schwieriger ist als das Wronskis, die weitläufiger ist als die spanische Mystik und komplizierter als die Theorien der Gnostiker. Zehn Jahre des Studiums und der Einsamkeit sind erforderlich, um in sie einzudringen. Man darf nur für sie und in ihr leben, man darf die Gedanken nur auf das eine Ziel hinlenken und sie so fest darauf heften, dass nichts sie davon ablenken kann, und schließlich ist es notwendig, dass diese Bemühungen durch den Beistand irgend eines Schutzgeistes gekrönt werden, der durch beständiges Anrufen und durch die Würdigkeit des Jüngers gewonnen wird.

Diese Art der Kabbala freilich verdient infolge der hohen Auffassung des Gegenstandes die ganze Aufmerksamkeit und die eifrige Bemühung derer, die ans Ziel gelangen wollen.

Aber. sehr oft lassen sich die Forscher schon am Anfang durch Mangel an angestrengter Aufmerksamkeit und Ermüdung zurückhalten, kommen nicht recht von der Stelle, werden mutlos und bleiben nur oberflächlich unterrichtet, wohl imstande, Unwissenden Sand in die Augen zu streuen, aber einer höheren Vollendung unfähig und unwert der Beachtung.

Ein Kabbalist soll ohne jede Vorbereitung ein beliebiges Werk der rabbinischen Literatur lesen können und dabei imstande sein, in derselben Sprache der jüdischen Mystik eine Erlärung der gelesenen Stelle zu geben d. h. sie durch Texte zu stützen, die von einer Autorität gerade auf diesem Ge¬biete herrühren, und überdies eigene Erläuterungen auf Grund eigener Erwägung und Forschung zu geben. Bei dem dazu erforderlichen Studium würde der Jünger neunzig Jahre alt, da ein Leben gerade noch genügen würde, um eine solche Vollendung zu erlangen. - Und der Lehrer? - Wo würde man ihn dann suchen müssen - -?
Diese erhabene und edle Wissenschaft der Kabbala sollte nicht durch dünkelhafte Unwissenheit profaniert und lächerlich gemacht werden, und es ist ein ebenso klägliches Schau¬spiel, wenn irgendwelche Ignoranten einige Worte Molitors zitieren oder einige Formeln Francks deklamieren, als wenn Knaben mühsam eine Bruchrechnung ausführen oder eine trigonometrische Gleichung auflösen und dann behaupten wollten, sie verständen die höhere Mathematik.

Was ist also zu tun? Gibt es noch eine andere Kabbala? Gewiss, und das will ich im Folgenden darlegen. Es gibt noch eine andere theologische Wissenschaft als die offizielle, da es stets Häretiker und Mystiker gegeben hat; es gibt noch eine andere Mystik als die des Talmud und andere Interpretationen der Thora, da es selbst unter den Kabbalisten Meister gab, die geächtet und verfolgt wurden und schließlich zum Christentum übertraten. In der christlichen und in der jüdischen Welt sind Männer aufgetreten, die jede Fessel brachen und sich von jedem Zwang befreiten, um selbständig nach bestem Wissen und Können die Wahrheit zu suchen. Männer wie
Wilhelm Postel, Reuchlin, Khünrath, Nicolas Flamel, Saint-Martin und Fabre d'Olivet, das sind die Meister der Kabbala, wie sie Stanislas de Guaita auffasste, wie er sie zu lehren und zu erklären verstand. Diese Männer waren kühne Helden auf der Suche nach dem goldenen Vlies; sie verschmähten jeden Titel und die Anerkennung ihrer Zeitgenossen; sie konnten eine stolze Sprache führen, weil ihr Stolz berechtigt war, und sie rechneten nur auf die Anerkennung, die uns die Nachwelt zollt. Denn, wie ägyptische Symbolik lehrt, - »wir sollen selbst unsere Richter sein«.

Die praktische Kabbala kann entweder eine geistige oder eine magische sein. Wenn sie geistig ist, ist die Lehre von den Sephiroth ihr Schlüssel. Da wir auf diese hier nicht eingehen können, möge es genügen, zu wissen, dass ihr Gesetz dasselbe ist wie das der Zahlen. Eine vortreffliche Erklärung wird man im »Traite elementaire de Science occulte« von Papus finden.

Wir wollen hier zwei Anwendungen dieser Lehre geben; die erste bezieht sich auf psychurgische Tatsachen und auf die Ausübung der Macht, Wunder zu wirken. Die Grundelemente dafür, die sich in dem »Apodictique Messianique« von Wronski finden, dessen System völlig kabbalistisch ist, sind in folgender Tabelle dargestellt:


Lethargie

Schlaf


Katalepsie
 
Zustand des Wach-Seins



Traumzustand

Somnambulismus

Thaumturgie
(Die Macht Wunder zu wirken)

 

Extase

Verklärung (Entzückung)


Epilepsie


Die zweite Anwendung der Sephirothlehre bezieht sich auf Psychologie und Ethik. Khunrath hat sie in folgender Tabelle zusammengefasst:

Sephirot


Cheter


Bina


Hochma


Gedula

Gebura


Tipheret

Netza


Hod

Jesod


Malchud

 

Modi
(Erkenntnisformen)

Fides (Glaube)


Meditatio (Nachdenken)


Cognitate (Erkennen)


Amor (Liebe)


Spes
(Hoffnung)

Oratio (Gebet)

Conjunctio (Verbindung)


Frequentia
(Vielheit)

Familiaritas (Verwandschaft)


Similitudo
(Ähnlichkeit)

 

Fähigkeiten


Mens (Geist)


Intellectus (Verstand)


Ratio (Vernunft)


Judicum superius
(Höhere Urteilskraft)

Judicum inferius
(Niedere Urteilskraft)

Phantasia (Pantasie)

Sensus interior
(Innerer Sinn)

Sensus Exterior
(Äußerer Sinn)

Medium
(Subjektive Erkenntnis)

Objectum
(Objektive Erkenntnis)

 

Attribute Gottes
(absteigend)


Optimismus; omnia videns
(Allgütig; alles sehend)

Multus benigtitate
(reich an Güte)

Solus sapiens
(Der allein Weise)

Misericors
(Barmherzig)

Fortis
(Stark)

Longanimus (Langmütig)

Justus
(Gerecht)

Maximus
(Der Erhabenste)

Verax Zelotes
(Der wahrhaft Eifrige)

Terribilis
(Der Furchtbare)

Tugenden
(aufsteigend)

Castitas
(Keuschheit)

Benigtitate
(Güte)

Prudentia
(Klugheit)

Misericordia
(Barmherzigkeit)

Fortitudo
(Tapferkeit)

Patientia (Geduld)

Justitia
(Gerechtigkeit)

Humilitas
(Demut)

Temperantia
(Mäßigkeit)

Timor Dei

Die Kabbala ist aber auch eine Art Magie. Nach dem berühmten deutschen Theosophen Boehme beruht sie auf der sechsten Form, dem Klange; ihr Mittelpunkt ist das Tetragrammaton (der heilige, aus vier Buchstaben bestehende Namen Gottes), das die Kräfte birgt, durch die das Übersinnliche auf das sinnlich Wahrnehmbare wirkt. Eine solche Stellung nimmt auch das Gesetz des Moses ein, dessen Übertretung mit ewiger Strafe belegt wird.

Die Kabbala ist auch die Wissenschaft der Verwandlungen, die die Engel des Lichtes und des Feuers annehmen; denn sie vermögen durch die Einbildungskraft ihren Wünschen wirkliche Gestalt zu geben. Das ist die Seligkeit der Wissenschaft.

Nach dieser kurzen Darlegung über die Magie der Kabbala wollen wir noch einige Angaben über die sogenannte Reintegration, eine Art Erlösung und Verbesserung des Menschen machen, die wir Eliphas Levi verdanken.

Die Kabbalisten nennen die sündhaften Handlungen eine Schale oder Rinde. Die Rinde, sagen sie, bildet einen Auswuchs, der sich in Runzeln und Falten absetzt, wenn der Saft, statt seinen Kreislauf auszuführen, an der Außenseite erstarrt; die Rinde vertrocknet und fällt dann ab. Ebenso ist es mit dem Menschen; wenn er, der berufen ist, am Werke Gottes mitzuarbeiten und zur Vollendung zu gelangen, indem er sich durch die Betätigung seiner Freiheit vervollkommnet, statt dessen den göttlichen Saft in sich vertrocknen lässt, der doch dazu dienen soll, seine Fähigkeiten zum Guten zu entwickeln, dann macht sich bei dem Menschen ein Rückschritt bemerkbar, er entartet und fällt nieder wie eine abgestorbene Rinde. Aber nach den Kabbalisten kann das Böse niemals den Abschluss bilden; stets wird es durch das Gute wieder aufgehoben; die abgestorbenen Rinden können noch nützlich sein, wenn sie der Landmann sammelt, verbrennt und sich an ihrem Feuer wärmt, die Asche aber als nährenden Dünger für den Baum verwendet, oder wenn sie, an den Wurzeln des Baumes ver¬modernd, diese ernähren und so wieder in den Kreislauf des Saftes zurückkehren.

Nach den Ideen der Kabbala ist das ewige Feuer, in dem die Bösen brennen, doch ein Reinigungsfeuer, das sie durch schmerzvolle, aber notwendige Umwandlungen dem allgemeinen Wohl dienen lässt und sie in der Ewigkeit wieder dem Guten zuführt, das schließlich triumphieren muss.

Gott, sagen die Kabbalisten, ist das absolut Gute, es kann aber nur ein Absolutes geben: Das Böse ist daher nur der Irrtum, der durch die Wahrheit aufgehoben werden wird; es ist die Rinde, die, vermodert oder verbrannt, sich wieder in Saft verwandelt und von neuem dem großen Leben des Universums dient. - Doch die Rinden zu verbrennen, ist eine schwierige und mühsame Arbeit; der Eingeweihte wird diesen gewundenen, steilen Pfad rascher durcheilen.

»Wähle Dir einen Lehrer«,
sagt der Talmud (Pir. Aboth, 1.6); und der Kommentar fügt hinzu: »Er soll sich einen einzigen Lehrer wählen und stets von ihm den Unterricht in der Überlieferung erhalten, er soll aber nicht diesen Unterricht heute von diesem, morgen von jenem Lehrer erhalten.«

Zu den heiligen Mysterien der Kabbala wird nur der zugelassen, der in jeder Beziehung volles und festes Vertrauen seinem Lehrer und dessen Lehren entgegenbringt, der dessen Worte niemals bezweifelt und sie erfüllt. Das könnte viele von der geheiligten Wissenschaft abschrecken, aber wir erinnern daran, dass wir hier nicht von den okkulten Wissenschaften im allgemeinen sprechen; man kann auch ohne Befolgung dieser Lehre das Od erfassen, wie de Rochas, oder den Hermetismus, wie Berthelot. Es handelt sich hier nicht um irgend einen Zweig der menschlichen Erkenntnis, sondern um die hohe Magie des Guten und Bösen, um die Wissenschaft von Leben und Tod, die der Jünger erlangen will, und hier gilt, was Eliphas Levi gesagt hat: »Von dem, der fast ein Gott werden will, kann man verlangen, ein wenig mehr als ein Mensch zu sein.« Diese scheinbare Passivität, die soviel Eitle abschrecken wird, ist nur eine vorläufige und persönliche.

Wie in den Schulen der Pythagoraeer soll der Schüler nur hören und muss sich jeder Diskussion, jedes Kommentars enthalten; er muss durch seine Worte und seine Handlungen den Beweis für seine Ergebenheit erbringen. Die Offenbarungen, die die Kabbala übermittelt, sind göttlich und stehen auf einer Stufe, die sich über das Niveau der menschlichen Vernunft erhebt; die vorhandenen Fähigkeiten werden durch die Aufnahme dieser Geheimnisse erschöpft und gleichsam vernichtet: Man hat wohl ein Recht, ja sogar die Pflicht, dieses Opfer zu verlangen, denn die ganze Seele des Neophyten, die Aufrichtigkeit seiner Bestrebungen, die Stärke seines Wunsches und seines Willens sollen durch diese Probe beurteilt werden. Wenn er sich so gering schätzt und an seinen Fähigkeiten so sehr zweifelt, dass er in dieser Beschränkung einen völligen Tod erblickt, ist er unwürdig und wird von selbst zurückweichen.

Ferner soll der Kabbalist auch in den profanen Wissenschaften und Künsten bewandert sein, denn derjenige, der die hohe Ehre der Einweihung ersehnt, soll sich früher mit all dem geistigen Schmuck zieren, dessen Anlegung ihm seine geistigen Fähigkeiten gestatten. »Doch, um alles zu erwähnen«, sagt Reuchlin -, und die Vernunft erklärt es und die Erfahrung bestätigt es jeden Tag -, »nicht mit einem geringen Maß von Kenntnissen, nicht mit einem oberflächlichen Einblick in die Wissenschaften, nicht mit einer oberflächlichen Ausbildung darf sich derjenige einstellen, dessen Arbeitsfähigkeit, dessen Eifer, dessen Willen überdies noch mit der Betrachtung besonderer Formen beschäftigt werden soll, der sozusagen gewaltsam in die Heiligtümer der Gottheit selbst eindringen will.«

Aber dieses profane Wissen wird nicht der Stoff und der Ausgangspunkt des absoluten Wissens sein. Leere und Tod muss in der Seele herrschen, es muss in ihr alles finster und leer werden, wie in Moses, als er in der Wüste weilte, damit der sonst fruchtbare Boden zu neuen Ernten bereit sei.

Doch derjenige, der nicht die Wissenschaften der Vergangenheit und Gegenwart studiert hat, hat nicht das Recht, sie unbeachtet zu lassen; derjenige, der nicht das ganze Räderwerk der Mathematik, alle die Sprungfedern der Naturwissenschaften und alle Saiten der Phantasie in seinem Geiste spielen ließ, der nicht geweint, nicht überlegt hat, der hat nicht das Recht, Tränen oder Nachdenken, wissenschaftliche Behauptung oder künstlerische Gemütsbewegung gering zu schätzen. Er schläft noch; er suche nicht das Licht; er wird ein Stümper bleiben, wenn er nicht ein Zauberer wird.

Ich könnte unter den Alten mehrere Namen von Männern nennen, die Gelehrte waren, bevor sie Schüler in der hohen Wissenschaft wurden. Ein Beispiel aus unseren Tagen ist besonders bedeutungsvoll: Ein großer Künstler, ein Meister der Literatur weicht nicht vor den Unannehmlichkeiten und ermüdenden Arbeiten im Laboratorium zurück, um sich das Adeptat zu verdienen.

Solche Beispiele beweisen schon an und für sich, dass die Kette der Tradition nicht abgerissen ist.

Überdies, als dritte Forderung, verlangen die Kabbalisten, dass die Schüler, die nach ihrem Wissen streben, im reiferen Alter stehen; sie sind überzeugt, dass niemand des Verständnisses einer so erhabenen und so tiefen Religion fähig sei, wenn er nicht ein gewisses Alter erreicht hat, wenn er nicht die Leidenschaften, das Ungestüm der Jugend in sich zu Ruhe kommen sah, und so sein Charakter sich gefestigt und gereinigt hat.

Das war auch die Ansicht Rabbi Eleazars, als er seinem Lehrer Jochanan, der ihn in seiner Güte recht bald in die Geheimnisse der Mercaba einweihen wollte, antwortete: »Ich in noch nicht weis geworden.« Es vollzieht sich eine Reinigung, eine allmähliche Verklärung an dem, der meditiert und die in ihm vorhandenen Anlagen entwickelt. Es ist nicht eine Periode des Stillstandes, noch weniger eine des Verfalls, die die Überlieferung fordert, es ist ein Punkt der Entwicklung, wo sich die stürmische und unruhige Jugend geklärt und beruhigt hat, wo der Engel des Todes - der auch der der Zeugung ist - vom Menschen bezwungen wurde, wo mit einem Worte das Wirken möglich, wo der Mensch bereit ist, die Erkenntnis zu empfangen und sie zu gebrauchen.

Die vierte Bedingung ist eine vollkommene Reinheit; diese ergibt sich beinahe von selbst aus dem Vorangegangenen und ihre Aufstellung ist ein Zeichen dafür, dass das erwähnte reife Alter je nach der Persönlichkeit schwankt. Wenn er diese Reinheit gering schätzt, seinen Gelüsten nachgibt, den materiellen Genuss als Ziel, als Selbstzweck betrachtet, dann gibt sich der Mensch der allergefährlichsten Täuschung hin und macht jede seelische Erhebung unmöglich. Man muss wählen, nicht zwischen Genuss und Tugend, was der Irrtum vieler Sekten ist, sondern zwischen Liebe und Sieg, und nach getroffener Wahl daran denken, dass die Schönheit* der Widerschein der Krone* (*die sechste und erste Sephira) zwischen den beiden Wegen ist. Die zweiunddreissig Wege der Weisheit eröffnen sich nur denen, die reinen Herzens sind.

Ein ruhiger Geist, von jedem weltlichen Vorurteil befreit, ist eine ebenso wichtige Bedingung; der Geist sei ein See, worin sich alle die Inspirationen, alle die höheren Weisungen spiegeln können, ohne dass eine Bewegung von unten das Wasser trübt und plötzlich in Aufruhr bringt. »Verlasst eure Weiber, Eltern und Kinder und folget mir nach« sagte Christus. »Verkauft eure Güter und verteilt euer Gold unter die Armen«, sagte Joachim von Fiora zu seinen Schülern; »Fürchtet Freundschaft und Familie bis zum Egoismus, sagen die Meister: Stellt euch allein Gott gegenüber, um wahrem Menschentum näher zu kommen«. Das ist die Stille, die Sabbath-Ruhe der Autoren, damit sich dann umso lauter und tönender die Stimme erhebe. Aber wehe denen, die stets Stillschweigen bewahren, wehe den »Stummen« für die Ernte, die sie gesät haben, die schmerzvollen Leiden der künftigen Erneuerer!

Wir schließen mit diesen schönen Worten unseren flüchtigen Entwurf, der uns beim Wiederlesen nur eine Zusammenstellung ziemlich verschiedenen Materials zu sein scheint. Doch geben wir ihn, so wie er ist; denn Zeit und Mittel fehlen uns, um von dieser so verehrungswürdigen Überlieferung eine Vorstellung zu geben, die ihrer würdig ist, und dann hoffen wir auch, eine gewisse Neugier anzustacheln und einige Sehnsucht nach dem Wahren, Guten und Schönen zu erregen. S.40ff.
Aus: Die Kabbala, Einführung in die jüdische Geheimlehre von Papus. Autorisierte Übersetzung von Julius Nestler. k. k. Professor. Fourier Verlag , Wiesbaden S.