Antony Ashly Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671- 1713)
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Englischer
Philosoph, der als der bedeutendste englische Moralist und literarisch
ausgezeichneter Schriftsteller gilt. Von Plato,
Aristoteles und den Stoikern beeinflusst, stellt Shaftesbury die ungestörte
harmonische Entfaltung der Sittlichkeit und Tugend, die er natürlich
mitgegebene Anlage im Menschen begreift, in den Mittelpunkt seiner Ethik. Dabei gilt es die richtig ausgewogene Proportion zwischen dem altruistischen und dem egoistischen Trieb zu entwickeln. Die Tugend, d. h. die Liebe zum
Guten ist durchaus etwas Selbständiges, das unabhängig von Religion,
Politik etc. existiert, weil sie aus einer eigenen Quelle gespeist wird.
Damit hoffte er eines der Hauptprobleme der Aufklärung lösen,
das da lautet: Ist ohne eine Offenbarungsreligion überhaupt eine Sittlichkeit in positivem Sinn möglich? Die Idee der Harmonie
überträgt Shaftesbury auch auf
das Weltganze, das nach seinem Dafürhalten von Natur aus zweckmäßig, schön und gut ist. Die Übel sind für ihn nur disharmonische
Töne, die dem Licht die Schatten verleihen, in denen die Schönheit des Ganzen hervorgehoben wird. Gott ist nach
ihm der in allen Dingen wirkende Weltgeist (Pantheismus). Shaftesburys Begriff des als Naturkraft aus »Enthusiasmus« schaffenden Genies diente dem deutschen Sturm und Drang zur Rechtfertigung der revolutionären
Durchbrechung der seinerzeit geltenden Regeln. Leibniz,
Lessing, Herder,
Kant, Goethe, Schiller, Wieland und der junge
Hegel waren von seinen Gedanken beeindruckt. Schüler sind Butler und Hutcheson. Berkely, Diderot und Hume waren
Zeitgenossen, die er unmittelbar provoziert hat. Siehe auch Wikipedia |
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Inhaltsverzeichnis
Religion
und Tugend
Erstes Buch, 1. Teil, 1. Abschnitt
Religion und Tugend scheinen in mancher Hinsicht so nahe
verwandt zu sein, daß sie gewöhnlich
für unzertrennliche Gefährten gehalten werden. Und wir sind so geneigt,
Gutes von dieser Verbindung zu erwarten, daß wir kaum zugeben, sie gesondert
zu behandeln oder auch nur zu denken. Indessen läßt sich doch die
Frage aufwerfen, ob diese ganz allgemeine Annahme sich vor unserer Spekulation zu rechtfertigen vermag. Es ist sicher, daß uns zuweilen Fälle vorkommen,
die gegen diese gewöhnliche Voraussetzung zu sprechen scheinen. Wir kennen
Menschen, die bei dem anscheinend größten Eifer in der Religion doch
der gewöhnlichsten Regungen der Menschlichkeit ermangeln und sich höchst
entartet und verderbt erwiesen haben. Andere wieder, welche der Religion wenig
Achtung zollen und für reine Atheisten gelten, sieht man doch den Regeln
der Sittlichkeit gemäß leben und in vielen Fällen mit so viel
Wohlwollen und Liebe zur Menschheit handeln, daß man fast gezwungen wird
anzuerkennen, sie seien tugendhaft.
Und allgemein finden wir die bloßen sittlichen Grundsätze so gewichtig.
daß wir im Verkehr mit den Menschen uns selten auch mit der stärksten
Versicherung ihres Eifers für die Religion begnügen, ehe wir nicht
etwas mehr von ihrem Charakter erfahren haben. Sagt man uns, jemand sei religiös
gesinnt, so fragen wir noch: welcher Art ist sein sittliches Verhalten?
Hören wir aber zuerst, er habe rechtschaffene ethische Grundsätze
und sei ein Mann von natürlicher Rechtlichkeit und guter Gemütsart,
so fällt uns selten die andere Frage bei: ob er auch fromm und gottesfürchtig
sei?
Dies hat mir Veranlassung gegeben zu untersuchen, was Rechtschaffenheit oder
Tugend an sich selbst betrachtet sei und in welcher Weise sie durch Religion
beeinflußt werde; inwieweit Religion notwendig Tugend einschließe,
und ob es richtig sei zu sagen, ein Atheist könne unmöglich tugendhaft
sein oder in irgend einem Grade wirklich Rechtschaffenheit oder Verdienst besitzen.
Man wird sich hier kaum wundern können, wenn die Methode, die Dinge zu
erklären, etwas ungewöhnlich scheinen sollte, da der Gegenstand bisher
so wenig untersucht worden und das Nachsinnen über ihn so heikel und gefährlich
ist. Denn die frommen Leute sind durch die Freimütigkeit einiger neuerer
Schriftsteller so in Aufregung versetzt, und daher ist allenthalben ein so eifersüchtiger
Argwohn erregt, daß ein Schriftsteller, soviel er auch zu Gunsten der
Religion vorbringen mag, wenig Vertrauen in dieser Sache gewinnen wird, wenn
er irgend einem anderen Prinzip die geringste Bedeutung zugesteht.
Auf der anderen Seite ist den Witzlingen und Spöttern, deren angenehmster
Zeitvertreib darin besteht, die schwachen Seiten der Religion bloßzustellen, so verzweifelt bange. sie könnten zu etwas ernsthafterem Nachdenken über
dieselbe herangezogen werden, daß sie das Spiel desjenigen für unehrlich
ansehen, der die Miene eines freien Schriftstellers annimmt und zugleich einige Achtung für die Grundsätze der natürlichen
Religion bewahrt. Sie sind willens, ebensowenig Pardon zu geben wie sie
erhalten, und sind entschlossen, von der Moral ihrer Gegner so schlecht zu denken,
wie diese von der ihrigen nur immer denken können. Keiner von beiden, so
scheint es, will dem anderen den geringsten Vorteil einräumen.
Es ist eben so schwer, die eine Seite zu überzeugen, daß
in der Religion einige Tugend enthalten ist, wie die andere, daß es auch
Tugend gibt außerhalb des Bezirks ihrer besonderen Gemeinschaft. So
ist zwischen beiden ein Autor in übler Lage, der es wagt, für Religion
und sittliche Tugend einzutreten, ohne die Kraft einer von beiden zu verkleinern,
der vielmehr dadurch, daß er jeder ihr eigenes Gebiet und ihren gebührenden
Rang anweist, gern verhindern möchte, daß sie durch gegenseitige
Herabsetzung zu Feinden werden.
Wie dem auch sei, wenn wir beanspruchen wollen, in dem beabsichtigten Umfang
unserer Untersuchung irgend etwas neu zu beleuchten oder wirksam zu erklären,
so ist es nötig, die Dinge etwas tiefer zu fassen und zu versuchen, die
eigentliche und ursprüngliche Form jeder — sei es natürlichen
oder unnatürlichen
— Ansicht von der Gottheit in einem kurzen Abriß darzustellen. Gelingt
es uns, aus diesem dornigen Teile unserer Philosophie glücklich herauszukommen,
so wird
das übrige hoffentlich eben und leicht sein.
In dem Ganzen der Dinge (oder
im Universum) ist entweder alles gut geordnet und
dem allgemeinen Wohl möglichst angemessen,
oder es findet sich etwas, welches anders ist, welches
vielleicht besser eingerichtet, weislicher und vorteilhafter für das allgemeine
Wohl der Wesen oder des Ganzen hätte ersonnen sein können.
Ist alles Existierende gut und zum Besten aller geordnet, dann kann es unmöglich
wahres Übel oder dem Ähnliches im Universum, kein Übel in Hinsicht
auf das Ganze geben.
Alles demnach, was so beschaffen ist, daß es wirklich nicht besser sein
oder irgendwie besser angeordnet sein könnte, ist vollkommen gut. Alles
in der Weltordnung, was übel genannt werden kann, muß in seinem Wesen
die Möglichkeit enthalten, besser ersonnen und geordnet zu sein; wenn nicht;
so ist es vollkommen und wie es sein sollte.
Alles nun, was wirklich übel ist, muß verursacht oder hervorgebracht
sein entweder mit Absicht (d. h. mit Bewußtsein
und Intelligenz), oder wenn diese fehlen, durch Ungefähr und bloßen
Zufall.
Existiert irgend etwas Übles in der Welt infolge eines Plans, einer Absicht,
so ist das, was alle Dinge lenkt, nicht ein einziges, gutes planvoll wirkendes
Prinzip. Denn entweder ist dies eine planvoll wirkende Prinzip selbst verderbt,
oder es existiert noch irgend ein andres, das ihm entgegenwirkt und böse
ist.
Existiert etwas Übles in der Welt infolge bloßen Zufalls, so kann
ein planvoll wirkendes Prinzip oder eine Intelligenz, einerlei ob gut oder böse,
die Ursache aller Dinge nicht sein. Und folglich, wird ein planvoll wirkendes
Prinzip angenommen, das nur das Gute hervorbringt, das Böse aber, das durch
Zufall oder durch eine entgegenwirkende böse Absicht hineinkommt, nicht
verhindern kann: dann kann ein höherer, guter planvoll wirkender Verstand
oder dem Ähnliches wirklich nicht anders als ohnmächtig oder unvollkommen
gedacht werden. Denn wenn das aus dem Zufall der einer entgegengesetzten bösen
Absicht stammende Übel nicht gebessert oder gänzlich verhindert wird,
so muß das entweder aus Ohnmacht oder aus bösem
Willen herrühren.
Was auch immer in irgend einem Grade über die Welt erhaben ist oder in
der Natur mit Einsicht und Verstand regiert, das nennen die Menschen in ganz allgemeiner Übereinstimmung Gott. Gibt es verschiedene solcher Wesen mit überlegenem Verstand, so sind es
ebenso viele Götter; wenn aber dieses einzige oder diese verschiedenen
Wesen ihrer Natur nach nicht notwendig gut
sind, so erhalten sie besser den Namen Dämonen.
Demnach: glauben, daß alle Dinge auf das Beste regiert, geordnet und geregelt
sind durch ein planvoll wirkendes Prinzip oder
eine Intelligenz, die notwendig gut und unwandelbar ist,
heißt ein vollkommener Theist sein.
An gar kein planvoll wirkendes Prinzip oder Intelligenz,
noch auch an irgend einen Grund, an Ordnung oder Gesetz in den Dingen glauben,
sondern nur an den Zufall, so daß in der
Natur weder das Wohl des Ganzen noch das irgend eines einzelnen Teiles als im
Geringsten beabsichtigt, verfolgt oder erstrebt bezeichnet werden kann, heißt
ein vollkommener Atheist sein.
Nicht an ein einziges
höchstes, planvoll wirkendes Prinzip oder Intelligenz
glauben, vielmehr an zwei, drei oder mehr (wenn
sie gleich ihrer Natur nach gut sind), heißt ein Polytheist
sein.
Zu glauben, die regierende Intelligenz (oder Intelligenzen) sei nicht absolut und notwendig gut und nicht allein auf das Beste gerichtet,
sondern fähig, nach bloßer Willkür und Laune zu handeln, heißt
ein Dämonist sein.
Nur wenige denken über eine so dunkle und verwickelte Materie wie die Ursache
aller Dinge und die Ökonomie und Regierung des Weltganzen immer gleichmäßig
oder einer bestimmten Hypothese gemäß. Denn gerade bei den frömmsten
Leuten ist es nach ihrem eigenen Eingeständnis offenbar, daß es Zeiten
gibt, wo ihr Glaube sie kaum in dem Vertrauen auf eine
höchste Weisheit
aufrecht zu erhalten vermag und daß sie oft versucht werden, über
eine Vorsehung und gerechte Regierung des Ganzen ungünstig zu denken.
Die Meinung eines Menschen ist daher diejenige allein zu nennen, welche ihm
vor allen anderen am meisten zur Gewohnheit geworden ist und sich bei den meisten
Gelegenheiten äußert. Schwerlich kann man daher von jemandem mit
Gewißheit behaupten, er sei ein Atheist; denn wenn nicht alle seine Gedanken
zu allen Zeiten und allen Gelegenheiten aller Voraussetzung oder Vorstellung
von Plan und Absicht in den Dingen standhaft entgegengerichtet waren, so ist
er kein vollkommener Atheist. Ebenso ist der kein vollkommener
Theist. dessen Gedanken nicht zu allen Zeiten standhaft
und entschlossen aller Vorstellung von blindem Zufall oder böser Absicht
in den Dingen entgegen sind. Glaubt aber jemand mehr an
wirren Zufall als an Plan und Absicht, so ist er nach der Meinung, die
vorherrscht oder das Übergewicht hat, eher für einen Atheisten
als für einen Theisten zu halten. Und
im Fall er mehr an die Überlegenheit eines nach bösen als eines nach
guten Absichten wirkenden Prinzips glaubt, ist er eher ein Dämonist; und nach der Seite, nach welcher die Wage seines Urteils
sich am meisten neigt, darf man ihn mit Recht so nennen.
Alle diese Ansichten, nämlich Dämonismus,
Polytheismus, Atheismus
und Theismus können
vermischt sein .
Nämlich so: 1. Theismus mit Dämonismus;
2. Dämonismus mit Polytheismus; 3. Theismus mit Atheismus; 4. Dämonismus
mit Atheismus; 5. Polytheismus mit Atheismus; 6. Theismus (insofern er in Gegensatz
steht zum Dämonismus und der höchsten Gottheit Güte zuschreibt)
mit Polytheismus; 7. Derselbe Theismus oder Polytheismus mit Dämonismus;
8. oder mit Dämonismus und Atheismus.
1. Wenn die eine oberste Intelligenz oder das unumschränkt herrschende
Wesen (nach der Vorstellung des Gläubigen) in eine gute und eine böse
Natur geteilt ist, indem es sowohl das Böse als das Gute verursacht; oder
anders, wenn zwei verschiedene und entgegengesetzte Prinzipien existieren, von
denen das eine alles Gute, das andere alles Böse bewirkt.
2. Wenn eine, sondern mehrere böse Intelligenzen herrschen; welche Meinung
Polydämonismus genannt werden könnte.
3. Wenn der Zufall nicht ausgeschlossen ist, aber Gott und der Zufall zugleich
herrschen.
4. Wenn ein böser Dämon und der Zufall zugleich herrschen.
5. Wenn viele Geister und der Zufall zugleich herrschen.
6. Wenn es mehr höchste Geister als einen gibt, die aber mit gleichem Wollen
und Denken im Guten übereinstimmen.
7. Wenn dasselbe System der Gottheit oder übereinstimmender Gottheiten
mit einem entgegengesetzten Prinzip oder mit mehreren entgegengesetzten Prinzipien
oder herrschenden Intelligenzen zugleich existiert.
8. Wenn zum letzten Falle noch der Zufall tritt.
Religion schließt nur vollkommenen Atheismus aus. Vollkommene Dämonisten
gibt es in der Religion unzweifelhaft, da wir ganze Nationen kennen, die einen
Teufel oder bösen Feind verehren, dem sie Opfer und demütige Gebete
darbringen, in Wahrheit freilich aus keinem anderen Grunde, als weil sie ihn
fürchten. Und wir wissen sehr wohl, daß Anhänger einiger Religionen
sich ausdrücklich keine andere Vorstellung von Gott
machen, als die eines eigenwilligen, gewalttätigen Wesens welches Böses
wirkt und zu Elend verdammt; was in der Wirkung dasselbe ist, wie einen Dämon
oder Teufel an seine Stelle setzen.
Da es nun diese verschiedenen Meinungen über eine höhere Macht gibt,
und da vielleicht manche Leute zu finden sein mögen, die sich überhaupt
keine Meinung über diesen Gegenstand gebildet haben, sei es aus Skeptizismus,
Gedankenlosigkeit oder Verworrenheit des Denkens: so ist zu überlegen,
wie eigentlich jede dieser Meinungen oder der Mangel einer festen Meinung mit
Tugend und Verdienst zusammenbestehen oder mit einem rechtschaffenen oder sittlichen
Charakter verträglich sein könne. S.1ff.
Aus: Shaftesbury, Untersuchung
über die Tugend, Philosophische Bibliothek Band 110, Verlag von Felix Meiner,
Leipzig 1905
Tugend
und Charakter der Gottheit
Erstes Buch, 3. Teil, 2. Abschnitt
Um aber von den Ansichten über eine Gottheit und von der Wirkung, die sie
hier haben können, zu reden, so scheint mir der Atheismus
überhaupt nicht direkt die Entstehung einer falschen Art von Recht
und Unrecht bewirken zu können. Denn trotzdem jemand durch Gewohnheit oder
durch zügellose Lebensweise, die der Atheismus begünstigen mag, im
Laufe der Zeit viel von seinem sittlichen Gefühl verlieren kann, so sieht
man doch nicht, wie der Atheismus an sich selber der Grund
irgend einer Schätzung oder Bewertung der Dinge als schön, edel oder
umgekehrt sein sollte. So z. B. kann er niemand zu der Meinung bringen,
es sei an sich gut und vortrefflich, Menschenfleisch essen und Bestialitäten
begehen zu können. Dagegen ist es sicher, daß infolge von verderbter
Religion oder Aberglauben mancherlei Dinge, die auf das Schauderhafteste unnatürlich
und unmenschlich sind, als an sich vortrefflich, gut und lobenswert in Aufnahme
kommen.
Und das ist kein Wunder. Denn wenn irgendwo etwas seiner
Natur nach hassenswertes und Abscheuliches sich infolge der Religion
als der vermeintliche Wille oder Gegenstand des Gefallens einer höchsten Gottheit darstellt, wenn dies weiter in den Augen
des Gläubigen deshalb wirklich nicht weniger als
schlecht und hassenswert erscheint: dann muß notwendig
die Gottheit die Verantwortung dafür tragen und für ein von Natur böses und hassenswertes
Wesen gelten, wie sehr man ihr auch sonst aus Mißtrauen und Furcht
anliegen und schmeicheln mag.
Die Religion verbietet uns aber hauptsächlich gerade diese Vorstellung. Überall verlangt sie Achtung und Ehrfurcht in Verbindung
mit Anbetung und Verehrung. Wenn immer daher die Religion
Liebe und Bewunderung einer Gottheit lehrt,
die deutlich irgend einen schlechten Charakterzug besitzt, so lehrt sie zugleich Liebe und Bewunderung eben dieses Schlechten
und verursacht dadurch, daß ein an sich Schreckliches
und Verabscheuenswürdiges für gut und liebenswert gehalten
wird.
Zum Beispiel wenn Jupiter angebetet und verehrt wird und die Geschichte von
ihm erzählt, daß er zur sinnlichen Liebe neige und seinen Wünschen
hier leichtfertig den freiesten Spielraum lasse: so ist sicher, daß bei
seinen Anbetern, die diese Geschichte. für buchstäbliche, strikte
Wahrheit halten, die Neigung zu verliebtem und lüsternem Tun nur gestärkt
wird.
Wenn eine Religion Anbetung und Liebe zu einem Gott
lehrt, der tadelsüchtig und sehr empfindlich, heftigen
Zornanfällen unterworfen, ungestüm und rachsüchtig ist,
der sich für Beleidigungen auch an anderen als den
Beleidigern rächt, der wenigen aus unbedeutenden Ursachen gnädig gesinnt
und grausam gegen die übrigen ist; und wenn man nun dem Charakter
dieses Gottes noch eine Neigung zu Betrug beilegt, die die Menschen zu Hinterlist
und Verrat ermutigt: dann ist es ganz augenscheinlich, falls sich eine
solche Religion kräftig durchsetzt, muß sie mit Notwendigkeit Achtung
und Billigung der erwähnten Laster aufbringen und einen entsprechenden
Hang erzeugen, eine launische, parteiische, rachsüchtige und zu Betrug
neigende Gemütsart. Denn selbst Unregelmäßigkeiten und Ungeheuerlichkeiten
scheußlichster Art müssen in vielen Fällen dem erhaben erscheinen,
der bedenkt, daß ein bewundertes und mit höchster Achtung und Ehrfurcht
betrachtetes Wesen sie besitzt.
Wenn in dem Kult oder der Verehrung solcher Gottheit nichts über allgemeine Formalitäten hinausgeht, nur vorhanden ist,
was aus bloßem Beispiel, aus Gewohnheit, Zwang oder Furcht herrührt,
wenn im Grunde keine innere Wärme, keine Achtung oder Liebe beteiligt ist:
so muß man wohl zugeben, daß der Gläubige in bezug auf den Begriff von Recht und Unrecht vielleicht nicht
sehr mißleitet werden wird.
Wenn ihn nun nur die Furcht antreibt, den Vorschriften
seines vermeintlichen Gottes zu folgen und zu tun, was er für nötig
hält, um dieser seiner Gottheit Genüge zu leisten, und wenn er seiner
Neigung entgegen eine Handlung ausführt, die er im geheimen als barbarisch
und unnatürlich verabscheut: dann hat er immer noch einen Begriff
oder Sinn von Recht und Unrecht und empfindet dem eben Bemerkten gemäß das Böse in dem Charakter seines Gottes, so vorsichtig er sich auch aussprechen oder darüber nachdenken mag, um
sich ein formelles eigenes Urteil in der Sache zu bilden.
Aber wenn er nun mit dem Fortschritt seines religiösen Glaubens und der
frommen Übungen allmählich in unmerklichen Graden sich immer mehr
und mehr aussöhnt mit der Bosheit, Willkür,
Parteilichkeit und Rachsucht der Gottheit, an die er glaubt: so wird
seine Aussöhnung mit diesen Eigenschaften an sich bald im Verhältnis
wachsen, und durch die Macht jenes Beispiels verführt, wird er höchst grausame, ungerechte und barbarische Handlungen oft nicht nur als
gerecht und gesetzlich ansehen, sondern sogar als göttlich
und nachahmenswert.
Denn wer annimmt, es gebe einen Gott
und ausdrücklich behauptet, er halte diesen für gerecht und
gut, der muß doch voraussetzen, daß auch ganz
unabhängig so etwas wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Wahrheit und
Falschheit, Recht und Unrecht existiere, auf Grund dessen er Gott für
gerecht, redlich und wahr erklärt. Wenn man sagt, Gott bestimme absolut
durch seinen bloßen Willen, Beschluß oder Gesetz, was Recht und
Unrecht sei, dann haben diese Worte überhaupt keinen Sinn.
Denn wenn die höchste Macht die beiden Seiten eines
Widerspruchs als wahr bejahte, so würden konsequenterweise beide wahr werden.
Würde also ein Mensch bestimmt für eines anderen Schuld zu leiden,
so wäre der Spruch recht und billig. In dieselbe Kategorie würde gehören,
wenn ebenso willkürlich und ohne Grund die einen
Geschöpfe bestimmt wären, beständig Böses zu erdulden,
die anderen, sich ebenso ununterbrochen an Gutem zu erfreuen.
Aber auf dieser Grundlage zu behaupten, irgend etwas sei gerecht
oder ungerecht, heißt gar nichts sagen oder sinnlos reden.
Und so erscheint klar, wo wirkliche Anbetung und warme
Verehrung einem höchsten Wesen gezollt
wird, das sich in seiner Geschichte oder seinem Charakter
anders denn als wirklich und wahrhaft gerecht und gut darstellt, da muß
dem Gläubigen die Richtigkeit des Urteils verloren gehen, Verirrungen des
Denkens und Verderbtheit von Gemüt und Sitten müssen folgen. Seine Rechtschaffenheit wird notwendig durch seinen Eifer untergraben werden,
während er infolge der unnatürlichen Einflüsse so unsittlich
fromm wird.
Dem müssen wir nur noch eines hinzufügen. Wie
der schlechte Charakter eines Gottes die Affekte
der Menschen schädigt, das natürliche Gefühl für Recht und
Unrecht stört und schwächt: so kann auf der anderen Seite nichts kräftiger
dazu beitragen, die richtigen Anschauungen oder Urteile und ein gesundes Gefühl
für Recht und Unrecht zu befestigen, als der Glaube an einen Gott, der
sich wirklich immer und unter allen Umständen als wahres Muster und Beispiel
genauester Gerechtigkeit, höchster Güte und Würde darstellt.
Der Blick auf eine solche göttliche Vorsehung und
milde Güte, die sich auf alles erstreckt und sich in einer beständigen
Neigung, das Wohl des Ganzen zu befördern, ausdrückt, muß uns
notwendig bewegen, innerhalb unseres Kreises und Bereichs auf Grund gleicher
Prinzipien und Neigungen zu handeln. Und haben wir erst einmal das Wohl unserer
Gattung oder der Gesamtheit als Endziel im Auge, so können wir unmöglich
zu einer falschen Anschauung oder Gefühl von Recht und Unrecht verleitet
werden.
Unser zweiter Fall liegt demnach so: aus der Religion kann je nach ihrer Art viel Gutes oder viel Böses kommen, aus dem Atheismus
in beiden Richtungen nichts Positives. Denn wenn der Atheismus auch gelegentlich
indirekt der Grund dafür sein mag, daß die Menschen ihr gutes und
ausreichendes Gefühl für Recht und Unrecht verlieren, so wird er an
und für sich doch nie zur Entstehung einer falschen Art desselben Anlaß geben. Eine solche kann nur von falscher Religion und
phantastischen Ansichten, die sich gewöhnlich von Aberglauben und Leichtgläubigkeit
herleiten, hevorgebracht werden. S.28ff.
Aus: Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, Philosophische Bibliothek
Band 110, Verlag von Felix Meiner, Leipzig 1905
Vollendung
der Tugend durch den Glauben an Gott
Erstes Buch, 3. Teil, 3. Abschnitt
Aber wir haben hier nicht die verschiedenen Mittel und Wege zu untersuchen,
durch welche diese Verderbnis eingeleitet oder vergrößert wird, sondern
wir wollen überlegen, wie die Ansichten von einer
Gottheit in der einen oder der anderen Richtung
Einfluß ausüben.
Es wird die Möglichkeit kaum in Frage gestellt werden können, daß ein zur Reflektion fähiges Wesen Gefallen oder Mißfallen
an sittlichen Handlungen und folglich auch Gefühl für Recht und Unrecht
haben kann, noch ehe es irgend einem festen Begriff von einem Gott
hat. Denn es würde doch unerwartet oder vielmehr ganz unmöglich
sein, wenn ein Geschöpf wie der Mensch, der von Kindheit an, langsam
und schrittweise zu verschiedenen Graden von Vernunft und Reflektion aufsteigt, schon in der frühesten Jugend von so hohen Spekulationen und Überlegungen
erfüllt wäre wie die das Thema der Existenz Gottes.
Wir wollen ein Geschöpf annehmen, dem Vernunft mangelt und das nicht imstande
ist zu reflektieren, das aber doch manche gute Eigenschaften und Affekte hat,
wie Liebe zu seinesgleichen, Mut, Dankbarkeit, Mitleid. Geben wir diesem Geschöpf
die Fähigkeit zur Reflexion, so wird es sicherlich im selben Augenblick
Dankbarkeit, Freundlichkeit und Mitleid anerkennen, wird jedesmal, wenn sich das soziale Gefühl zeigt oder äußert,
ergriffen werden und nichts für liebenswerter als dieses oder für
hassenswerter als sein Gegenteil halten. Und das heißt fähig zur
Tugend sein und Gefühl für Recht und Unrecht haben.
Man kann daher annehmen, daß jemand eine Vorstellung
oder Gefühl von Recht und Unrecht hat und Tugend und Laster in verschiedenen
Graden besitzt, noch ehe er zu irgendwie klaren und positiven Begriffen von
einem Gotte gelangt sein kann. Wir wissen das ja auch aus Erführung
z. B. von Menschen, die immer an einem solchen Orte und in solchen Verhältnissen
gelebt haben, daß sie zu ernsthaften religiösen Gedanken gar nicht
gekommen sind, deren Charaktere aber nichtsdestoweniger an sittlichem Wert sehr
verschieden sind: einige sind von Natur bescheiden, gütig, freundlich und
lieben demgemäß gütige und freundliche Taten, andere
sind stolz, rauh, grausam und folglich geneigt, Gewalttätigkeiten und Kraft
allein zu bewundern.
Wenn wir nun fragen, wie der Glaube an eine Gottheit die Menschen beeinflußt, so müssen wir an erster Stelle untersuchen,
aus welchem Grunde die Menschen einem solchen höchsten Wesen Gehorsam leisten
und in Übereinstimmung mit ihm handeln. Sie müssen sich entweder nach
seiner Macht richten in der Voraussetzung, es erwüchsen ihnen Nachteile
oder Wohltaten von ihm, oder nach seiner Vollkommenheit und Würde in der
Meinung, ihm nachzuahmen und zu gleichen sei die Vollendung der Natur.
Wenn (wie im ersten Fall) die Gottheit, an die man glaubt, so vorgestellt und angenommen wird, daß sie ihr Geschöpf nur beherrscht und durch einzelne Belohnungen und Strafen
ihrem absoluten Willen Gehorsam erzwingt; und wenn aus diesem Grunde
das Geschöpf nur durch Hoffnung auf Belohnung und
Furcht vor Strafe angespornt wird, Gutes zu tun, welches es sonst haßt,
oder von Bösem zurückgehalten wird, welchem es sonst nicht im geringsten
abgeneigt ist: dann ist, wie für solchen Fall schon gezeigt worden, gar
keine Tugend oder Güte vorhanden. Ungeachtet seines guten Verhaltens
ist das Geschöpf innerlich ebensowenig wert, als wenn es, nicht unter dem
Zwange von Furcht oder Schrecken irgendwelcher Art stehend, auf die ihm natürliche
Weise gehandelt hätte.
Es ist so wenig Aufrichtigkeit, Frömmigkeit oder Heiligkeit in einem auf
diese Art gebesserten Wesen, wie in einem fest angeketteten Tiger Milde und
Sanftmut oder wie Harmlosigkeit und Ehrbarkeit in einem Affen unter der Peitsche.
Denn mögen diese Tiere oder selbst der Mensch unter gleichen Bedingungen
auch zu noch so ordentlichem, gutem Handeln bestimmt werden, so lange nicht
der Wille gewonnen und die Neigungen beeinflußt sind, sondern allein die
Sehen überwiegt und Gehorsam erzwingt: so lange ist der Gehorsam sklavisch,
und alles, was infolgedessen geschieht, ist. rein sklavisch. In je höherem
Grade Unterwerfung und Gehorsam dieser Art, worauf sie sich auch erstrecken
mögen, vorhanden sind, um so sklavischer ist die
Gesinnung.
Denn ob solch ein Wesen einen guten oder einen bösen Herrn hat, seiner
Natur nach ist es nicht mehr oder weniger sklavisch gesinnt. Sei der Herr oder
der Höherstehende noch so vollkommen und vortrefflich, so bedeutet doch
die größere Unterwerfung, die in diesem Falle durch das erwähnte
Prinzip oder Motiv allein verursacht wird, nur um niedrigere und verächtlichere
Knechtschaft und zeigt eine um so größere Erbärmlichkeit
und Niedrigkeit der Gesinnung bei einem Geschöpf, bei dem leidenschaftliche
Selbstliebe so überragend und dessen Charakter so lasterhaft und unvollkommen
ist, wie gezeigt worden.
Nun zum zweiten Fall: die Gottheit, an die man
glaubt, die man sich vorstellt, werde als edel und gut betrachtet und als solche
bewundert und verehrt, werde so gefaßt, daß sie außer bloßer
Macht und Wissen auch die höchste natürliche Vortrefflichkeit besitzt,
die sie für alle mit Recht liebenswert macht. Wenn nun dieser Souverän,
dies mächtige Wesen derartig dargestellt oder in seiner Geschichte beschrieben
wird, daß in ihm vorzüglich hohe Achtung vor
allem Guten und Vortrefflichen, Rücksicht auf das Wohl aller und Neigung
zu Wohlwollen und Liebe gegen das Ganze erscheint: so muß, wie oben. erklärt,
solch ein Beispiel unzweifelhaft dazu dienen, die Liebe zur Tugend zu erheben
und zu vermehren, und helfen, diesem einen Affekt alle anderen zu unterwerfen.
Aber dies Gute wird nicht allein durch Beispiel hervorgebracht. Denn wo der
theistische Glaube ganz und vollständig ist, muß auch stets der Gedanke
an ein allüberwachendes, höchstes Wesen, einen Zeugen und Beobachter
menschlichen Lebens vorhanden sein, der alles weiß, was im Universum gedacht
und getan wird, so daß auch in der vollkommensten Zurückgezogenheit
oder tiefsten Einsamkeit noch Einer als bei uns bleibend angenommen werden muß,
dessen Gegenwart allein von größerem Gewicht sein muß als die
der glänzendsten Versammlung auf Erden. Es ist klar, wie in Gegenwart eines
solchen Wesens die Scham über schuldvolle Handlungen am allergrößten
ist, so muß es auch die Würde guter Taten sein, selbst bei dem ungerechten
Tadel einer Welt. Wie förderlich vollkommener Theismus der Tugend sein
muß und welchen großen Mangel der Atheismus hat, ist in diesem Falle
sehr augenscheinlich.
Was die Furcht vor künftiger Strafe oder die Hoffnung auf künftigen
Lohn, wenn zu diesem Glauben gefügt, noch weiter zur Tugend beitragen
können, wollen wir jetzt mehr im einzelnen untersuchen. So viel mag inzwischen
aus dem oben Gesagten entnommen werden: es kann diese Furcht oder Hoffnung unmöglich
zu den guten Affekten gehören, wie sie als Triebfedern
und Quellen aller wahrhaft guten Handlungen anerkannt sind. Auch können
Furcht und Hoffnung dieser Art, wie oben angedeutet, in der Tat mit Tugend oder
Trefflichkeit nicht zusammenbestehen, wenn sie als wesentlich zu einer sittlichen
Leistung oder als wichtiges Motiv zu einer Handlung gehören, deren zureichender
Grund ein besserer Trieb allein hätte sein müssen.
Dazu mag in Betracht gezogen werden, daß das Prinzip der Selbstliebe,
welches von Natur in uns so überwiegt, bei dieser religiösen Disziplin
keineswegs gemäßigt oder zurückgedrängt, sondern durch
Betätigung der Triebe auf einem viel ausgedehnteren Gebiete des Selbstinteresses
vielmehr alle Tage vergrößert und verstärkt wird, so daß
also Grund zu der Besorgnis vorhanden ist, dieser Charakterzug könne sich
allgemein über alle Teile des Lebens ausdehnen. Denn wenn in jedem einzelnen
Falle gewohnheitsmäßig genauere Aufmerksamkeit auf das eigene Wohl
oder individuelle Interesse hervorgerufen wird, so muß das unmerklich
die Affekte, die auf das allgemeine Wohl oder das Interesse der Gesellschaft
zielen, vermindern und eine gewisse Enge des Geistes herbeiführen, weiche,
wie manche behaupten, bei sehr frommen Menschen und Zeloten fast jeder religiösen
Überzeugung besonders zu beobachten ist.
Man muß auch zugestehen, daß, wenn Gott um
seiner selbst willen lieben wahre Frömmigkeit ist, die übereifrige
Rücksicht auf eigene Vorteile, die man von ihm erwartet, mit Notwendigkeit
geringere Frömmigkeit beweist. Denn solange man Gott nur als Ursache persönlichen
Vorteils liebt, ist das ganz ebenso, als wenn ein lasterhaftes Wesen irgend
ein anderes Mittel oder Werkzeug zu seinem Genusse liebt. Je mehr nun dieser
heftige Trieb zu persön1ichom Vorteil vorhanden ist, um so kleiner ist
der Raum für die andersgearteten Neigungen zur Tugend oder zu irgendwelchem
guten und edlen Gegenstand, der Liebe und Bewunderung um seiner selbst willen
verdient; und als solcher ist Gott überall oder wenigstens von der großen
Mehrzahl der zivilisierten und gebildeten Gläubigen anerkannt.
Aus demselben Grunde bildet sehr starke Liebe zum Leben ebenfalls ein Hindernis
sowohl der Frömmigkeit als der Tugend und der Liebe zum Allgemeinen. Denn
je stärker jene Neigung bei einem Menschen ist, um so weniger wird er zu
wahrer Entsagung oder zur Unterwerfung unter die Gesetze und Ordnung der Gottheit
fähig sein. Und wenn das, was er Entsagung nennt, nur von der Erwartung
unendlicher Vergeltung und Belohnung abhängt, so enthüllt er hier
keine größere Würde oder Tugend als bei irgendeinem anderen
vorteilhaften Geschäft. Denn die Absicht seiner Entsagung ist doch nur
diese: er entsagt dem gegenwärtigen Leben und seinen Freuden bedingungsweise,
nämlich zu Gunsten eines anderen, zu welchem es nach seiner eigenen Aussage
ein Äquivalent nicht gibt, eines ewigen Lebens im
Zustande des höchsten Entzückens und Genusses.
Aber ungeachtet des Schadens, welchen das Prinzip der Tugend durch
Zunahme des Eigennutzes in der erwähnten Weise etwa erleiden kann, ist
es doch auf der anderen Seite sicher, daß das Prinzip
der Furcht vor künftiger Strafe und der Hoffnung auf zukünftige Belohnung,
mag man es auch für recht gewinnsüchtig und knechtisch halten, unter
manchen Umständen der Tugend Vorteil, Sicherheit und Unterstützung
bietet.
Es ist schon bemerkt worden, wenn auch wirklich ein Gefühl
für Recht und Unrecht, wirklich ein guter Trieb zu Gattung und Gesamtheit
uns ins Herz gepflanzt ist, so kann dieser doch häufig durch die Heftigkeit
der Wut, der Wollust oder irgend einer anderen entgegenwirkenden Leidenschaft
gehindert oder überwunden werden. Wenn daher nichts in der Seele
ist, welches solche üble Leidenschaften zu Gegenständen der Abneigung
zu machen oder ihnen ernstlichen Widerstand zu erwecken imstande ist, so ist
klar, wie eine gute Gemütsart mit der Zeit leiden und ein Charakter allmählich
schlechter werden muß.
Wenn aber die Religion dazwischentritt und den Glauben hervorbringt, daß
derartige üble Leidenschaften ebenso wie die aus ihnen folgenden Taten
Gegenstände der Wahrnehmung seitens einer Gottheit sind, so ist sicher,
daß ein solcher Glaube sich als geeignetes Heilmittel gegen das Laster
erweisen und für die Tugend besonders vorteilhaft sein muß. Denn
man muß annehmen, daß ein derartiger Glaube beträchtlich dazu
dient, das Gemüt zu beruhigen und den Menschen zu größerer Selbstbeherrschung
und zu genauerer Befolgung des guten und tugendhaften Prinzips geneigt und geeignet
zu machen, welches nur der Aufmerksamkeit bedarf, um ihn ganz auf seine Seite
und unter seine Macht zu bringen.
Und da der Glaube an zukünftige Belohnung und Bestrafung imstande ist,
solche zu unterstützen, die infolge übler Gewöhnung sonst wahrscheinlich
von der Tugend abfallen würden, deren Seele etwa infolge schlimmer Meinungen
und unrechter Gedanken einem ehrenhaften Lebenswandel abgeneigt und so verleitet
ist, daß sie einen lasterhaften sogar achtet und absichtlich vorzieht:
so kann bei dieser Gelegenheit der erwähnte Glaube sich als einzige Hilfe
und Rettung erweisen. S.32ff. […]
Alles in Allem: Wer fest an einen Gott
glaubt, den er gut nicht bloß nennt, sondern von dem er in Wirklichkeit
nur glaubt, was wahrhaft gut, nur was wirklich auf das Genaueste zu einem wohlwollenden
und guten Charakter paßt, und außerdem an Belohnung und Vergeltung
in einem anderen Leben: der muß auch glauben, daß diese wirk¬lich
an Tüchtigkeit und Verdienst, an Gemeinheit und Niederträchtigkeit
geknüpft sind und nicht an irgendwelche zufällige Eigenschaften und
Umstände; in welcher letzten Hinsicht man sie nicht eigentlich Belohnung
und Bestrafung, sondern launenhafte Verteilung von Freuden und Leiden nennen
müßte. Dies sind die einzigen
Bedingungen, unter denen der Glaube an eine künftige Welt den Gläubigen
günstig beeinflussen kann. Unter diesen Bedingungen und durch die Kraft
dieses Glaubens kann sich jemand seine Tugend und Reinheit erhalten, selbst
bei der für die menschliche Natur härtesten Auffassung, wenn er nämlich
etwa durch schlimme Verhältnisse oder verkehrte Lehren zu der unglücklichen
Ansicht gebracht worden ist, daß die Tugend ein natürlicher Feind
des Glückes im Leben sei.
Man kann indessen nicht annehmen, daß diese Ansicht mit einem gesunden Theismus zusammen bestehen kann. Denn wie man sich
auch in betreff eines zukünftigen Lebens und seiner Belohnungen und Strafen
entscheiden mag, wer als gesunder
Theist an einen regierenden Geist glaubt,
welcher in der Natur und allen Dingen mit Güte,
Weisheit und Macht in höchster
Vollkommenheit souverän herrscht, muß notwendig glauben, daß die Tugend ihrer Natur nach gut und vorteilhaft sei. Denn was könnte
deutlicher eine ungerechte Anordnung, einen Flecken, eine Unvollkommenheit im
Zusammenhang der Dinge bedeuten als die Annahme, Tugend sei das natürliche
Übel und Laster das natürliche Wohl eines Geschöpfes?
Zu allerletzt bleibt uns nun noch ein weiterer Vorteil zu betrachten, den der
theistische Glaube gegenüber dem atheistischen der Tugend bietet. Die Behauptung wird vielleicht beim ersten Anblick überfein
erscheinen, und man wird sie für eine philosophische Spitzfindigkeit ansehen.
Aber nach dem, was wir bereits erforscht haben, kann die Sache vielleicht eher
deutlich gemacht werden.
Gemäß dem bereits Bewiesenen gibt es kein Wesen, welches es nicht
mit Notwendigkeit in gewissem Grade als übel empfinden müßte,
eine Zu- oder Abneigung in stärkerem Maße zu besitzen als seinem
individuellen Wohl oder dem des Systems, mit welchem es verbunden, zuträglich
ist. Denn in beiden Fällen sind die Affekte böse und lasterhaft. Wenn
nun ein vernünftiges Geschöpf denjenigen Grad von Abneigung besitzt,
welcher erforderlich ist, um es gegen jedes einzelne Mißgeschick zu waffnen
und es beim Herannahen jeder Gefahr zu warnen, so ist das in der Ordnung und
gut. Wenn aber, nachdem ein Unglück sich ereignet hat, die heftige Abneigung
noch anhält und der Zorn sogar größer wird, während der
Betroffene über sein Mißgeschick wütend ist und gerade sein
persönliches Schicksal oder Los beklagt, dann ist, so wird man zugestehen,
dies im Augenblick und für die Zukunft lasterhaft, da es aufregt und den
ruhigen Verlauf der Gefühle, von dem ja Tugend und Tüchtigkeit so
sehr abhängen, stört.
Auf der anderen Seite ist, so wird man ebenfalls zugeben, geduldiges Ausharren
und Aufrechtbleiben im Unglück unmittelbar tugendhaft und zur Erhaltung
der Tugend dienlich. Wer sich nun der Meinung derjenigen
anschließt, die einen Geist im All nicht annehmen, der muß bekennen,
daß sich im Laufe der Dinge nichts ereignen könne, das Bewunderung
und Liebe oder Haß und Abscheu verdiene.
Da nun der Gedanke an Dinge, welche die Atome und der Zufall hervorbringen,
bestenfalls keine Befriedigung geben kann so ist er bei schrecklichen Ereignissen
und einem unglückseligen, harten Schicksal kaum imstande, Abscheu und Ärger
zu verhindern, welche dann durch die Vorstellung einer verdrehten Ordnung der
Dinge gepflegt und lebendig erhalten werden. Eine andere
Hypothese aber, die des vollkommenen Theismus, versteht alles, was die Ordnung
der Welt hervorbringt, der Hauptsache nach als gerecht und gut. Wenn
daher auch die Schwere der Ereignisse im Lauf der Dinge dieser Welt jedem vernünftigen
Geschöpf schwere Klagen gerade über seine Lage und sein Los abzupressen
scheint, so kann es durch Reflexion nichtsdestoweniger zu Geduld und damit zu
ruhiger Ergebung gelangen. Dies ist aber noch nicht alles. Man kann in der Aussöhnung
mit dem Schicksal noch weiter gehen und aus demselben Grunde und nach demselben
Prinzip das Schicksal selber zum Gegenstande der guten Gefühle machen,
wenn man jene edle Treue zu erhalten bestrebt ist und den Gesetzen und der Regierung
seines höheren Vaterlandes wohlgesinnt gegenübersteht.
Ein solches Gefühl muß notwendig die höchste Standhaftigkeit
in jedem Leid erzeugen und uns bei allem Ungemach, welches wir um der Tugend
willen zu erdulden haben, aufs beste Beistand leisten. Und da dieses Gefühl
mit Notwendigkeit größere Beruhigung und Willigkeit gegenüber
bösen Zufällen, bösen Menschen und Ungerechtigkeit verursacht,
so kann es natürlich nicht verfehlen, eine immer
größere Gleichmäßigkeit, Milde und Güte im Gemüt
hervorzubringen.
Folglich muß dieses Gefühl wahrhaft gut sein und ein Mensch,
der es besitzt, umsomehr wahrhaft gut und tugendhaft. Denn welches auch der
Anlaß oder das Mittel ist, einen vernünftigen Menschen inniger mit
seiner Pflicht innerhalb der Gesellschaft zu verbinden und ihn zu veranlassen,
das allgemeine Wohl oder Interesse seiner Gattung mit mehr Eifer und Neigung
als gewöhnlich zu verfolgen: es ist zweifellos die Ursache von mehr als
der gewöhnlichen Tugend bei diesem Menschen.
Auch das ist sicher, daß die Bewunderung und Liebe
zu Ordnung und harmonischen Proportionen jeder Art ihrer Natur nach den Charakter
bessert, den sozialen Affekten von Vorteil ist und die Tugend wesentlich
unterstützt, welche ja selber nichts anderes ist als Liebe zu Ordnung und Schönheit in der Gesellschaft. Bei den geringsten
Gegenständen der Welt gewinnt uns eine sichtbar werdende Ordnung und zieht
unsere Neigung an. Aber wenn gar die Ordnung der Welt
selber gerecht und schön erscheint, so muß die Achtung und
Bewunderung der Ordnung höher steigen, und die auf gebildetem Geschmack
beruhende Neigung oder Liebe zur Schönheit, welche der Tugend so vorteilhaft
ist, muß durch Betätigung an einem so großartigen und prächtigen
Gegenstande um so edler werden. Denn es ist unmöglich, eine solche göttliche
Ordnung ohne Begeisterung und Entzücken anzuschauen, da ja doch schon bei
den gewöhnlichen Gegenständen der Wissenschaft und der freien Künste
alles, was richtigen, harmonischen Proportionen gemäß ist, denjenigen hinreißt, der einige Kenntnisse oder
Übung darin hat.
Wenn nun diesem herrlichen Gefühle sein Gegenstand und Grund nicht wirklich
angemessen und adäquat ist (also die theistische
Hypothese nicht als richtig angenommen wird), so ist doch nach dem, was
oben gezeigt ist, jenes Gefühl noch an sich insoweit natürlich und
gut, als es der Tugend und Trefflichkeit Vorteile bietet. Wenn aber andrerseits
der Gegenstand diesem Gefühle wirklich angemessen und adäquat ist
(die theistische Hypothese also als wahr und nicht als nur ausgedacht genommen
wird), dann ist das Gefühl auch angemessen und wird für jedes
ratinale Geschöpf absolut gültig und notwendig.
Von hier aus können wir die Beziehung der
Tugend zur Frömmigkeit genau
bestimmen. Jene ist erst in dieser vollkommen; denn wo jene mangelt, kann keineswegs
dieselbe Festigkeit, Beständigkeit und Güte, dieselbe gute Abstimmung der Affekte oder Übereinstimmung der Seele mit sich selbst
vorhanden sein.
Und so muß die Tugend ihre Vollendung und ihren Gipfel durch den Glauben
an einen Gott erhalten. S.45ff.
Aus: Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, Philosophische Bibliothek
Band 110, Verlag von Felix Meiner, Leipzig 1905
Tugend
als natürliche Neigung
Zweites Buch, 2. Teil, 1. Abschnitt
Zwei Dinge gibt es, die einem vernünftigen Wesen furchtbar peinlich und
schmerzlich sein müssen, nämlich die Vorstellung einer ungerechten
Handlung und Verhaltungsweise, welche man als ihrer Natur nach hassenswert und
Strafe verdienend erkennt, oder die einer törichten Handlung oder Verhaltungsweise,
welche man als dem eigenen Interesse und Glück schädlich erkennt.
Das erste allein von diesen nennt man eigentlich Gewissen, in sittlichem oder
religiösem Sinne. Denn Scheu und Furcht vor einer
Gottheit enthält an sich nichts von Gewissen. Niemand wird für
gewissenhafter gehalten, weil er böse Geister, Beschwörungen, Zaubereien
oder was sonst ein ungerechtes, launenhaftes oder teuflisches Wesen hervorbringen
mag, fürchtet. Weiter, Gott aus irgendeinem anderen
Grunde als wegen einer mit Recht tadelnswerten und strafbaren Handlung fürchten,
heißt ein teuflisches, nicht ein göttliches Wesen fürchten.
Auch in der Furcht vor der Hölle oder vor tausend Schrecknissen der Gottheit
ist das Gewissen nicht enthalten, wofern nicht ein Begriff von dem vorhanden
ist, was unrecht, schändlich, moralisch häßlich und strafwürdig
ist. Und wo dies der Fall ist, muß das Gewissen von Wirkung sein und mit
Notwendigkeit Furcht vor Strafe erwecken, auch wenn diese nicht ausdrücklich
angedroht ist.
Und so setzt das religiöse Gewissen das sittliche
oder natürliche voraus. Obwohl man meint, daß das erste die
Furcht vor göttlicher Strafe in sich enthalte, hat es dennoch seine Kraft
aus der Wahrnehmung der moralischen Häßlichkeit oder Schändlichkeit
einer Handlung nur mit Rücksicht auf die Gegenwart Gottes und die natürliche
Verehrung, die diesem Wesen, wenn man es annimmt, gebührt. Denn in dessen
Gegenwart muß die Scham über Gemeinheit und Laster stark wirken,
ganz unabhängig von der Furcht vor der gebieterischen
Stellung eines solchen Wesens und seiner Verteilung besonderer Belohnungen und Strafen in einem zukünftigen Leben.
Es ist schon gesagt worden, daß kein Geschöpf böswillig und
vorsätzlich Böses tun kann, ohne sich zu gleicher Zeit bewußt
zu sein, daß es das Böse dafür verdient. Und in dieser Hinsicht
kann man sagen, jedes sinnliche Geschöpf habe Gewissen. Denn unter allen
Menschen und allen intelligenten Wesen muß stets wahr bleiben: was sie
seitens jedes einzelnen zu verdienen sich bewußt sind, müssen sie
notwendig von allen befürchten und erwarten. Und so müssen Argwohn, schlimme Befürchtungen und Schrecken vor den Menschen und der Gottheit
entstehen. Aber außerdem muß bei jedem vernünftigen
Geschöpf das Gewissen noch ferner rege werden, nämlich infolge des
Gefühls der Häßlichkeit dessen, was so strafwürdig und
unnatürlich ist, und infolge der daraus folgenden Scham und Reue darüber,
daß es etwas auf sich geladen hat, das schändlich ist und Abscheu
erregt. [...]
Ein Mensch, der unglücklicherweise im Zorn einen anderen tötet, wird
beim Anblick dessen, was er getan hat, unmittelbar besänftigt. Das Rachegefühl
verwandelt sich in Mitleid, und sein Haß kehrt sich gegen ihn selber,
und dies bewirkt allein der überwältigende Eindruck des Gegenstandes
seiner Tat. Aus diesem Grunde erleidet er Seelenpein, der Gegenstand dieser
ist ihm beständig gegenwärtig, und die böse Erinnerung und das
quälende Bewußtsein davon hören nicht auf. Nehmen wir hingegen
an, der Betreffende beruhige sich nicht, empfinde keine wahre Teilnahme oder
Scham, dann hat er entweder kein Gefühl für die Häßlichkeit
von Verbrechen und Ungerechtigkeit, keine natürliche Neigung und folglich
nicht inneres Glück noch Frieden, oder wenn er Gefühl für sittlichen
Wert und Tüchtigkeit hat, so muß er verworren und sich selbst widerstrebend
sein. [...]
Etwas anderes als wirkliche Tugend kann sich, wie wir gezeigt haben, unmöglich
mit Achtung, Billigung und gutem Gewissen vertragen. Und wer durch falsche Religion
und übermächtige Gewohnheit geleitet, irgend etwas als Tugend achten
und bewundern gelernt hat, was nicht wirklich Tugend ist, der muß infolge
der Inkonsequenz solcher Achtung und der unaufhörlichen Unsittlichkeiten,
welche dadurch veranlaßt werden, schließlich alles Gewissen verlieren
und so im höchsten Grade elend werden. Oder wenn er sich noch einen Rest
von Gewissen erhält, so ist der doch keinesfalls genügend oder imstande,
Befriedigung zu gewähren. Denn ein grausamer Schwärmer oder Eiferer,
ein Verfolger. Mörder, Bandit, Pirat oder sonst ein weniger großer
Verbrecher, welcher der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen feindlich gesinnt
ist, kann doch unmöglich irgend ein festes Prinzip, eine wirkliche Norm
oder ein Maß haben, wonach er seine Hochachtung bestimmen, einen sicheren
Grund, nach dem sich seine Billigung sittlicher Handlungen richten könnte.
Je mehr er auf Ehre hält oder je weiter er seinen Eifer treibt, desto schlechter
wird seine Natur, desto verabscheuenswerter sein Charakter. Je mehr er eine
Tat oder Handlungsweise als groß und ruhmwürdig liebt und bewundert,
welche an sich sittlich schlecht und lasterhaft ist, desto mehr muß er
sich dem Widerspruch und der Selbstmißbilligung aussetzen. Denn da nichts
sicherer ist, als daß man keiner natürlichen Neigung widerstreben,
keine unnatürliche befördern kann, ohne in gewissem Grade der natürlichen
Neigung überhaupt Schaden zu tun, so folgt notwendig: da die innere Häßlichkeit
durch Verstärkung der unnatürlichen Neigungen größer wird,
so muß um so mehr Grund zu unbefriedigenden Reflexionen vorhanden sein,
je mehr ein falsches Ehrprinzip, eine falsche Religion und Aberglauben vorherrscht.
Wenn also jemand, etwa infolge eines unrichtigen Gewissens oder falschen Ehrgefühls
Anschauungen der erwähnten Art hegt oder irgendwelche Eigenschaften schätzt,
die der moralischen Billigkeit entgegen sind und zu Unmenschlichkeit führen:
so dient dies nur dazu, ihn um so mehr in die Gewalt des wahren und richtigen
Gewissens, der Scham und der Selbstvorwürfe zu bringen. Auch vermag niemand,
der auf eine vorgebliche Autorität hin eine einzelne Unsittlichkeit begeht,
sich aus irgend einem Grunde zu überzeugen, daß er zu anderer Zeit
nicht noch weiter zu Gemeinheiten aller Art, vor deren bloßem Gedanken
es ihn vielleicht schaudert, verleitet werden könnte. Und dies ist ein
Vorwurf, welchen die Seele sich notwendig machen muß, wenn das natürliche
Gewissen im geringsten verletzt wird, wenn etwas sittlich Häßliches
und Strafwürdiges geschieht, mag dies auch durch Beispiele und Präzedenzfälle
unter den Menschen oder durch vermeintliche Befehle und Vorschriften höherer
Mächte garantiert werden.
Was nun das zweite Stück des Gewissens betrifft, nämlich die Erinnerung
an irgend eine unvernünftige und törichte Tat, die unserem wahren
Interesse oder Glück von Nachteil ist, so wird der unbefriedigte Gedanke
hieran sich immer einstellen und wirksam sein, wo noch ein Gefühl für
die moralische Häßlichkeit vorhanden ist, welche man sich durch Verbrechen
und Ungerechtigkeiten zuzieht. Denn selbst wo kein Sinn
für moralische Häßlichkeit rein als solcher sich findet, da
muß immer ein Gefühl für die Geringschätzung derselben
seitens Gottes und der Menschen vorhanden sein. Oder wäre es auch
möglich, jeden Gedanken, jede Vermutung von höheren Mächten für
immer auszuschließen, so erwäge man, daß Unempfindlichkeit
gegen das sittlich Gute und Schlechte gänzlichen Mangel der natürlichen
Neigung in sich schließt und daß dieser Mangel durch keine Verstellung
verborgen werden kann: und dann ist augenscheinlich daß ein so unglücklicher
Charakter sehr empfindlichen Nachteil an Freundschaft und gläubigem Vertrauens
seitens der anderen Menschen und folglich auch an seinem Interesse und äußeren
Glück erleiden muß. Es kann auch nicht ausbleiben, daß sich
das Gefühl für diesen Nachteil einstellt, wenn er mit Reue und Neid
sieht, daß Bessere, welche Freundschaft und Achtung genießen, auch
unter besseren und angenehmeren Bedingungen mit den übrigen Menschen leben.
Selbst wo natürliche Neigung ganz fehlt, ist es daher doch sicher, daß
infolge von Unsittlichkeit, die bei Mangel solcher Neigung notwendig eintritt,
durch das Gewissen dieser Art, d. h. durch das Bewußtsein, etwas Unkluges
und dem wahren Interesse und Vorteil Entgegengesetztes begangen zu haben, Verwirrung
erregt werden muß.
Aus all dem können wir leicht schließen, wie sehr unser
Glück von der natürlichen und guten Neigung abhängt.
Denn wenn das größte Glück aus den geistigen Freuden stammt,
wenn die größten geistigen Freuden so sind, wie wir sie beschrieben
haben und auf natürliche Neigung sich gründen, so folgt: wer die natürlichen
Neigungen besitzt, der besitzt damit das wichtigste und stärkste Mittel
zum Selbstgenuß, dem größten Besitztum und Glück des Lebens.
Bei den Genüssen des Körpers und der Befriedigung nur der Sinnlichkeit
ist ganz klar, daß sie unmöglich anders ihre Wirkung tun und nennenswerten
Genuß bieten können als vermittels der sozialen und natürlichen
Neigungen.
Gut leben bedeutet manchen Leuten nichts anderes als gut essen und trinken.
Und mich dünkt, es ist ein unbedachtes Zugeständnis, welches wir diesen
vorgeblich gut lebenden Leuten machen, wenn wir in Übereinstimmung mit
ihnen ihre Art zu leben mit der Bezeichnung Wohlleben beehren; als ob sich diejenigen
am wohlsten fühlten, welche sich die größte Mühe geben,
möglichst wenig vom Leben zu genießen. Denn wenn unsere Darstellung
des Glückes richtig ist, so eilen solche Leute gerade an den größten
Genüssen des Lebens hastig vorüber und nehmen sich fast niemals die
Freiheit, sie zu kosten.
Aber wenn auch Üppigkeit des Lebens zu einem beträchtlichen Teile
auf dem Gaumen beruht und die Wissenschaft, die von ihm abhängt, noch so
angesehen ist: so kann man doch wohl mit Recht vermuten, daß die Zurschaustellung
von Eleganz und ein gewisser Wetteifer und Streben, sich in dieser kostspieligen
Kunst zu leben auszuzeichnen, sehr viel dazu beiträgt, daß Leute,
die nur ihrem Vergnügen nachgehen, einen so hohen Begriff von ihr haben.
Denn nimmt man die begleitenden Umstände von Tafel und Geselligkeit, Equipagen,
Dienerschaft und was sonst noch dazu gehört, hinweg, so würde selbst
nach der Meinung des größten Schwelgers kaum ein erstrebenswertes
Vergnügen übrig bleiben.
Ja der Begriff der Schwelgerei selber, der einen Streifzug durch alles, was
sich an Vergnügen und Wollust nur denken läßt, bedeutet, enthält
eine ganz klare Beziehung auf Gemeinschaft und Geselligkeit. Man kann von Übermaß
oder Ausschweifung im Essen und Trinken, aber kaum von Schwelgerei der erwähnten
Art reden, wenn der Exzeß ganz allein, fern von aller Gemeinschaft begangen
wird. Und einen, der sich auf diese Weise selber schändet, nennt man zwar
oft Fresser und Säufer, aber niemals Schwelger. Die Kourtisanen und selbst
die gemeinsten Weiber, die von der Prostitution leben, wissen sehr wohl, wie
notwendig es ist, daß jeder, den sie mit ihrer Schönheit unterhalten,
meint, die Befriedigung sei wechselseitig und es werde Genuß ebensowohl
empfangen als gegeben. Und wenn diese Einbildung gänzlich wegfallen könnte,
so würde sich auch unter den gröber empfindenden Menschen kaum einer
finden, welcher den übrig bleibenden Genuß nicht für sehr geringwertig
hielte.
Wer kann sich wohl allein und selbst in Sinn und Gedanken von allem, was Gesellschaft
anlangt, vollkommen abgesondert herzlich und lange an etwas erfreuen? Wen würde
unter diesen Bedingungen jede Befriedigung der Sinne nicht alsbald anekeln?
Wem würden nicht selbst die ausgesuchtesten Genüsse unbehaglich werden,
so lange er nicht Mittel gefunden hätte, sie mit anderen zu teilen und
dadurch, daß er wenigstens einen einzigen Menschen Anteil daran nehmen
ließe, sie erst zu wirklichen Genüssen zu machen? Die
Menschen mögen sich einbilden was sie wollen, sie mögen sich für
noch so selbstsüchtig halten oder noch so sehr den Vorschriften jenes engen
Prinzips, durch welches sie der Natur Zwang auferlegen möchten, zu folgen
wünschen: die Natur wird doch durchbrechen und wird in Schmerzen, Angst
und krankhaften Zuständen die schlimmen Folgen solcher Gewalttätigkeit,
die Absurdität dieser Denkweise und die Strafe, welche einem so widernatürlichen
und abschreckenden Bemühen folgen muß, ganz klar aufzeigen.
So hängen daher nicht nur die Freuden des Geistes, sondern ebenso die des
Körpers von der natürlichen Neigung ab, insofern als beim Fehlen dieser
nicht allein ihre Wirkung verloren geht, sondern sie sich sogar gewissermaßen
umkehren in Unbehaglichkeit und Ekel. Diejenigen Empfindungen, welche natürlicherweise
Zufriedenheit und Wohlbehagen gewähren sollten, bringen vielmehr Unzufriedenheit
und Bitterkeit hervor und erzeugen Langeweile und Ruhelosigkeit im Gemüt.
Dies sehen wir an der immerwährenden Unbeständigkeit und Liebe zur
Abwechslung, die bei denen so auffallend sind, in deren Genüssen nichts
sich Mitteilendes oder Freundliches liegt. Selbst gute Gesellschaft im schlechten
Sinne scheint etwas Beständigeres und Festeres an sich zu haben. Geselligkeit
befördert gute Laune. Ebenso ist es in der Liebe. Zärtlichkeit und
sich freigebig mitteilende Nei¬gung unterhalten die Leidenschaft, welche
sich sonst sogleich ändern würde. Die vollkommenste Schönheit
kann allein sie auf die Dauer nicht halten und fesseln. Und die Liebe, welche
keine andere Grundlage hat als diese und allein auf der äußeren Schönheit
beruht, verwandelt sich bald in Abneigung. Sattheit, beständiger Ekel und
Fieberhaftigkeit der Begierde begleiten diejenigen, welche mit Leidenschaft
nur Genuß erstreben. Doch genießen die am meisten, welche sich bemühen,
ihre Leidenschaften zu disziplinieren. Dadurch gelangen sie bald zu der Erkenntnis,
daß alles Sinnliche vollständig unfähig ist, Freude und Zufriedenheit
zu gewähren, wenn es nicht von etwas Freundschaftlichem und Sozialem abhängt,
wenn es nicht irgendwie mit der wohlwollenden oder natürlichen Neigung
verbunden und verwandt ist.
Ehe wir aber diesen Abschnitt über die soziale oder natürliche Neigung
beschließen, wollen wir eine allgemeine Übersicht darüber geben
und sie ein- für allemal auf die Waage legen, um zu prüfen, wie sie
zum inneren Gleichgewicht beiträgt und was wohl folgt, wenn sie fehlt oder
zu leichtes Gewicht hat.
Es gibt niemand, der so wenig von der Beschaffenheit des menschlichen Körper
verstünde, daß er nicht wüßte, wie ohne eine Tätigkeit,
Bewegung und Gebrauch der Körper erschlafft und gleichsam erdrückt
wird, wie ihn die Ernährung krank macht, wie die nach außen unbeschäftigten
Lebensgeister dazu beitragen, die inneren Teile zu verzehren: die Natur nagt
gleichsam an sich selbst. Ebenso steht es mit dem empfindenden und lebendigen
Teil, der Seele oder dem Geiste: fehlt die ihm angemessene und natürliche
Übung, so wird er niedergedrückt und krank. Die Gedanken und Gefühle,
die unnatürlicherweise von ihren eigentlichen Gegenständen abgehalten
werden, wenden sich gegen ihn selbst und erzeugen die ärgste Ungeduld und
üble Laune.
Bei Tieren und anderen Geschöpfen, die Vernunft und Reflexion nicht (oder
wenigstens nicht in der Art wie die Menschen) anwenden können, hat es die
Natur so geordnet, daß durch das tägliche Aufsuchen des Futters und
durch die Anstrengung, mit der sie das Geschäft der Ernährung und
die Angelegenheiten ihrer Gattung oder Art betreiben, fast ihre ganze Zeit in
Anspruch genommen wird und daß ihre Gefühle entsprechend dem Grade
der Erregbarkeit, welcher ihnen angemessen und für ihre Konstitution notwendig
ist, niemals der vollen Betätigung ermangeln. Wenn eines dieser Geschöpfe
aus seinem natürlichen arbeitsamen Leben herausgenommen und mit einem Überfluß
umgeben wird, welcher allen seinen Begierden und Wünschen überreich
Genüge leistet, so kann man beobachten, daß im selben Maße,
wie es in üppigere Verhältnisse kommt, auch seine Launen und Leidenschaften
wachsen. Sobald es irgendwann wohlfeiler und leichter, als ihm von Natur zuerst
bestimmt war, zu den Annehmlichkeiten des Lebens gelangt, muß es auf andere
Weise teuer dafür bezahlen: denn es verliert seine natürliche gute
Stimmung und die seiner Art oder Gattung eigene Regelmäßigkeit des
Lebens.
Dies braucht nicht durch besondere Beispiele bewiesen zu werden. Wer nur die
geringste Kenntnis der Naturgeschichte besitzt oder die verschiedenen Arten
der Wesen, ihre Lebens- und Fortpflanzungsweise beobachtet hat, wird diesen
Unterschied in der Regelmäßigkeit bei wilden und zahmen Individuen
derselben Art leicht verstehen. Die letzteren erwerben neue Gewohnheiten und
weichen von ihrer ursprünglichen Natur ab. Sie verlieren sogar den gewöhnlichen
Instinkt und die ihrer Art in der Regel eigene Begabung und können diese
auch nicht wiedergewinnen, so lange sie in jenem verweichlichenden Überflusse
verharren. Müssen sie aber, in veränderter Lage, sich draußen
selbst durchschlagen, so erwerben sie wieder die Neigungen und den Scharfsinn,
die ihrer Art natürlich sind. Sie lernen, sich zu engerer Gemeinschaft
zusammenzuschließen, und werden allmählich besorgter für die
Nachkommenschaft. Sie schützen sich gegen die Jahreszeit und machen sich
jeden Vorteil, welchen die Natur zu Schutz und Erhaltung ihrer eigenen Art bietet,
so gut wie möglich gegen fremde und feindliche Wesen zunutze. Daher werden
sie, wie sie tätiger und beschäftigter werden, auch besser und ihr
Leben regelmäßiger. Launenhaftigkeit und Laster verlassen sie mit
Müßiggang und Bequemlichkeit.
Unter den Menschen ist es so, daß einige durch Not an die Arbeit gebunden
sind, während andere durch die Mühe und Arbeit der unter ihnen Stehenden
mit allem im Überfluß versorgt werden. Wenn nun bei den Höherstehenden
und bequemer Lebenden an Stelle der gewöhnlichen schweren Arbeit nicht
irgend eine andere passende und angemessene Beschäftigung tritt; wenn sie,
anstatt sich bei irgendwelcher Arbeit anzustrengen, die ein für die Gesellschaft
gutes und rechtschaffenes Ziel hat (wie etwa Wissenschaft, Literatur, Kunst,
Politik, Haus- und Landwirtschaft oder dergleichen) — wenn
sie statt dessen ganz verabsäumen, sich eine Beschäftigung, eine Pflicht
zu suchen und müßig und träge und untätig dahinleben: so
muß dies mit Notwendigkeit die größte Nachlässigkeit,
ja Liederlichkeit hervorbringen, muß die Gefühle gänzlich zerrütten
und endlich in die allerseltsamsten Regellosigkeiten ausbrechen.
Wir sehen das enorme Wachstum des Luxus in Hauptstädten, welche seit langem
ein Sitz der Reichsgewalt sind. Wir sehen, welche Fortschritte das Laster jeder
Art dort macht, wo Mengen von Menschen in trägem Überfluß und
üppiger Fülle dahinleben. Anders steht es mit denen, welche durch
eine achtbare, angemessene Beschäftigung in Anspruch genommen und von Jugend
an gut daran gewöhnt sind. Das können wir beobachten bei den abgehärteten
Leuten aus entfernteren Provinzen, den Einwohnern kleinerer Städte und
bei dem fleißigen Teil des gewöhnlichen Volkes: wo man nur selten
Beispielen solcher Zügellosigkeit begegnet, wie sie in Schlössern
und Palästen oder auf den reichen Pfründen bequemer und wohlgenährter
Priester allbekannt sind.
Wenn nun das, was wir in betreff einer inneren oder seelischen Konstitution
vorgebracht haben, gewiß und richtig ist; wenn es wahr ist, daß
die Natur in Gefühlen und Neigungen sowohl als in den Gliedern und Organen,
die sie formt, nach einer bestimmten Ordnung und Regelmäßigkeit wirkt;
wenn es außerdem einleuchtet, daß die Natur dieses Innere so eingerichtet
hat, daß dafür nichts so wesentlich ist wie Übungen und daß
keine Übung so wesentlich ist, wie die der sozialen oder natürlichen
Neigung: dann folgt, wo diese letztere beseitigt oder verringert ist, da muß das Innere notwendig leiden und schlechter werden. Man möge Trägheit, Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit studieren wie eine Kunst oder mit der größten Sorgfalt ausbilden:
die zurückgedrängten Leidenschaften werden ihren Kerker durchbrechen,
auf dem einen oder anderen Wege zur Freiheit gelangen und volle Betätigung
finden. Sie werden sich sicher ungewöhnliche und unnatürliche Tätigkeit
verschaffen, wenn sie von der natürlichen guten abgeschnitten sind. Und
so muß sich an Stelle der geordneten und natürlichen Neigung eine
neue und unnatürliche erheben und alle innere Ordnung und Ökonomie
zerstören. [...]
Wer nur ein wenig in dieser, man kann sagen, moralischen Architektonik bewandert
ist, wird das innere Gefüge so eingestellt und das Ganze so peinlich genau
gebaut finden, daß ein einziges Gefühl, das sich nur ein wenig zu
weit ausdehnt oder zu lange dauert, imstande ist, nicht wieder gut zu machendes
Verderben und Elend herbeizuführen. Er wird dies in den gewöhnlichen
Fällen von Wahnsinn und Verrücktheit durch die Erfahrung bestätigt
finden: wenn nämlich der Geist zu lange bei einem — sei es erfreuenden,
sei es betrübenden — Gegenstand verweilt, sinkt er endlich unter
dessen Gewicht zusammen und zeigt so, wie notwendig es ist, daß die
Neigungen richtig gegeneinander abgewogen und ausbalanciert sind. Er
wird ferner finden, daß bei den verschiedenen Geschöpfen und einzelnen
Geschlechtern eine verschiedene und besondere Ordnung, Richtung und Abfolge
der Gefühle besteht, welche der verschiedenen Lebensordnung, den verschiedenen
Funktionen und Fähigkeiten, welche jedem einzelnen zugeteilt sind, entsprechen.
Wie die Verrichtungen und Leistungen, so sind auch die Triebfedern und Ursachen in jedem System verschieden. Das innere Getriebe den äußeren
Handlungen und Leistungen angepaßt. Wo also Fertigkeiten
oder Neigungen aus ihrer Lage gebracht, an die unrechte Stelle gerückt
oder vertauscht sind; wo solche, die der einen Gattung zukommen, mir denen einer
anderen vermischt sind: da müssen mit Notwendigkeit innere Verwirrungen
und Störungen eintreten.
All dies können wir leicht beobachten, wenn wir vollkommene Naturen mit
unvollkommenen vergleichen, solchen etwa, die von Geburt an unvollkommen sind,
weil sie in ihrer frühesten Gestalt und innersten Form Verletzungen erlitten
haben. Wir wissen, wie es sich mit Mißgeburten verhält, die sich
aus verschiedenen Arten oder verschiedenen Geschlechtern zusammensetzen. Und
diejenigen sind ja nicht weniger Mißgeburten, deren Inneres mißgestaltet
und verzerrt ist. Die niedrig stehenden Tiere erscheinen unnatürlich und
monströs, wenn sie die ihnen eigenen Instinkte verlieren, ihresgleichen
verlassen, sich um die Nachkommenschaft nicht kümmern und die ihnen von
Natur bestimmten Funktionen und Fähigkeiten gleichsam umkehren. Wie unselig
muß daher vor allen anderen Geschöpfen der Mensch sein, wenn er jenen
Sinn, jenes Gefühl verliert, welches ihm als Menschen eigentümlich
ist und zu seinem Charakter und seiner Anlage gehört? Welch ein Unglück
muß es für ein Geschöpf sein, das mehr als irgend ein anderes
von der Gesellschaft abhängt, wenn es die natürliche
Neigung verliert, welche es treibt, das Wohl und Interesse seiner Gattung oder
Gemeinschaft zu befördern? Die Natur hat eben gerade dem Menschen so viel
von dieser Neigung gegeben, daß er offenbar am wenigsten von allen Geschöpfen
fähig ist, ein einsames Leben zu ertragen. Auch ist wohl nichts
klarer, als daß die soziale Neigung bei jedem von Natur so stark ist,
daß sie ihn antreibt, vertrauten Umgang und Freundschaft mit seinen Nebenmenschen
zu suchen. Hierbei gibt er einem Gefühle nach und läßt einem
Wunsche die Zügel, welchen er auch durch Zwang oder inneres Ringen kaum
zurückhalten kann; oder wenn ihm dies gelingt, so bringt dies sicherlich
nur Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Schwermut in ihm hervor. Denn wer ungesellig ist und Gemeinschaft oder Verkehr mit der Welt
meidet, muß notwendig grämlich und bösartig sein. Wen
andererseits Gewalt oder Zufall von der Welt entfernt hält, der wird in
seiner Gemütsstimmung die üblen Wirkungen solchen Zwangs bemerken.
Wird die Neigung unterdrückt, so erzeugt sie Unzufriedenheit; gewährt
aber im Gegenteil gesunde und belebende Freude, wenn sie Freiheit und vollen
Spielraum zum Wirken hat. Dies können wir besonders sehen, wenn nach einer
Zeit der Einsamkeit und langer Abwesenheit das Herz sich öffnet, die Seele
sich befreit und ihre innersten Geheimnisse einem vertrauten Freunde offenbart.
Noch bemerkenswertere Belege dafür sehen wir bei Menschen in den höchsten
Stellungen, selbst bei Fürsten, Herrschern und solchen, die durch ihren
Stand über den gewöhnlichen Menschen erhaben sind und kühle Zurückhaltung
von dem übrigen Menschenschlage zur Schau tragen. Aber ihr Verhalten ist
nicht gegen alle Menschen gleich. Die Weiseren und Besseren werden freilich
als ungeeignet zu intimem und vertraulichem Umgange mit ihnen in Entfernung
gehalten. Um dies auszugleichen, läßt man an deren Stelle andere
als Ersatz treten, welche, obwohl ohne den geringsten sittlichen Wert und vielleicht
höchst nichtswürdige und verächtliche Menschen, dennoch zum Zwecke
einer eingebildeten Freundschaft hinreichend dienen und förmliche Günstlinge
werden. Das sind die Gegenstände der Menschenliebe bei den Großen.
Für solche sehen wir sie oft sich sorgen und mühen, auf solche Vertrauen
sie leicht, solche können sie mit Vergnügen an ihrer Macht und Größe
teilnehmen lassen, zu ihnen sind sie offen, frei, großmütig, vertrauensvoll,
gütig; und zwar freuen sie sich an solchen Handlungen selber, ohne weitere
Absichten und Zwecke zu haben, ja ihr politisches Interesse weist sie oft gerade
in die entgegengesetzte Richtung. Wo aber weder Liebe zu den Menschen noch Gefallen
an Günstlingen vorherrscht, wird sich unfehlbar das tyrannische Temperament
in seinen wahren Farben und naturgetreu zeigen mit all der Verbitterung, Grausamkeit
und dem Mißtrauen, welche solchem einsamen, düsteren Leben in unmitteilsamer,
unfreundlicher Größe eigen sind. Es ist nicht nötig, diese Bemerkung
durch besondere Hinweise aus Vergangenheit oder Gegenwart zu unterstützen.
So ist wohl nun klar, von wie überragender Bedeutung die natürliche
Neigung ist: wie innerlich sie mit uns ver¬bunden und unserer Natur eingepflanzt,
wie sie mit unseren anderen Gefühlen und Leidenschaften verwoben und wie
wesentlich sie für den regelmäßigen Gang und Verlauf unserer
Neigungen und Gefühle ist, von dem unser Glück und Selbstgenuß
so unmittelbar abhängen.
So haben wir nun bewiesen: einerseits, die natürlichen
und guten Neigungen zu besitzen, heißt das wichtigste und stärkste
Mittel zum Selbstgenuß besitzen; und so auch andererseits, jener zu ermangeln,
bedeutet sicheres Elend und Übel. S.89ff.
Enthalten in: Englische Geisteswelt . Von Bacon bis Eliot . Herausgegeben von
Walter Schmiele, Holle Verlag , Darmstadt
Aus: Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, Philosophische Bibliothek
Band 110, Verlag von Felix Meiner, Leipzig 1905 (S.77-91)
Tugend
als Glück
Erstes Buch. 2. Teil 3. Abschnitt.
Wir wollen nun von dem, was man nur gut nennt und was innerhalb des Bereichs
und der Fähigkeiten jedes sinnlichen Geschöpfes liegt, zu dem fortschreiten,
was man Tugend oder Verdienst nennt und nur dem
Menschen zugesteht.
Bei einem Wesen, das allgemeine Begriffe von Dingen zu bilden fähig ist,
sind nicht nur die äußeren Dinge, welche sich den Sinnen darbieten,
Gegenstände der Triebe; sondern auch die Handlungen selbst und die Affekte,
wie Mitleid, Wohlwollen, Dankbarkeit und ihre Gegensätze werden, wenn sie
durch Reflexion zum Bewußtsein gebracht werden, Gegenstände oder
Ziele. Sodann erhebt sich vermittels der Fähigkeit zu reflektieren ein
Affekt anderer Art gegen eben die Affekte selbst, die bereits gefühlt worden
sind und nun der Gegenstand eines neuen Gefallens
und Mißfallens werden.
Der Fall ist derselbe bei geistigen und moralischen Gegenständen wie bei
den gewöhnlichen Körpern oder gemeinen Gegenständen der Sinne.
Werden Gestalten, Bewegungen, Farben und Verhältnisse dieser letzteren
vor unser Auge gestellt so ergibt sich notwendig Schönheit oder Häßlichkeit,
je nach der verschiedenen Abmessung, Anordnung und Zusammensetzung ihrer einzelnen
Teile. Ebenso muß im Betragen und Handeln, wenn es sich dem Verstande
darstellt, mit Notwendigkeit ein offenbarer Unterschied zu finden sein, welcher
der Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit der Gegenstände
entspricht.
Die Seele, als Zuschauer
oder Zuhörer anderer Seelen, kann nicht ohne Auge und Ohr sein, um Verhältnisse
zu unterscheiden, Töne zu sondern und jedes Gefühl, jeden Gedanken,
der ihr vorkommt zu prüfen. Sie kann nichts ihrer Beurteilung entgehen
lassen. Sie fühlt das Sanfte und Rauhe, das Angenehme und Unangenehme in
den Affekten. Sie findet Häßliches und Schönes, Harmonie und
Dissonanz hier so wirklich und so wahr, wie in musikalischen Rhythmen oder den
äußeren Formen und Darstellungen sinnlicher Dinge, und kann ihre
Bewunderung und ihr Entzücken, ihren Abscheu und ihre Verachtung bei jenen
Gegenständen so wenig zurückhalten wie bei diesen.
Das Gefühl des Erhabenen und Schönen in den Dingen zu leugnen, wird
also jedem, der die Sache gehörig erwägt, als unhaltbares Vergeben
erscheinen.
Wie nun bei sinnlichen Gegenständen die Gestalten oder Bilder der Körper,
Farben und Töne uns beständig, selbst im Schlafe vor Augen schweben
und auf unsere Sinne wirken, so liegen auch die Formen und Bilder der moralischen
und intellektuellen Dinge zu allen Zeiten, auch wenn die eigentlichen Gegenstände
selbst abwesend sind, nicht weniger wirksam in der Seele.
Bei diesen uns umschwebenden Eindrücken oder Bildern von Verhaltungsweisen,
welche sich die Seele mit Notwendigkeit bildet und immer mit sich herumträgt,
kann das Herz unmöglich neutral bleiben, sondern es nimmt stets auf die
eine oder andere Art Partei. So falsch und verderbt es an sich auch sein mag,
es findet den Unterschied an Schönheit und Anmut
zwischen einem Herz und dem anderen, zwischen einer Richtung der Triebe, einem
Verhalten, einem Gefühl und dem anderen und muß dementsprechend
in allen Fällen, wo es nicht interessiert ist, in gewissem Maße das
Natürliche und Rechtschaffene billigen, das Unrechtschaffene und Verderbte
mißbilligen.
Indem so die verschiedenen Regungen, Neigungen, Leidenschaften,
Veranlagungen und das daraus folgende Betragen
und Verhalten der Wesen auf den mancherlei Gebieten des Lebens sich der Seele
in verschiedenen Ansichten und Perspektiven darstellen und diese rasch
unterscheidet, was für die Gattung oder das Allgemeine
gut und böse ist: so entsteht dadurch eine neue Probe und Übung des Herzens. Denn dieses
muß sich entweder in richtiger und gesunder Weise
dem, was gerecht und richtig ist, zuneigen und
sich von seinem Gegenteil abwenden; oder es muß
sich dem Bösen zu- und abwenden von allem, was edel und gut ist.
In dem Fall allein nennen wir nun ein Geschöpf edel und tugendhaft, wenn
es den Begriff des allgemeinen Interesses zu fassen
und zu ernsthaftem Denken oder zur Wissenschaft von dem zu gelangen vermag,
was moralisch gut und böse, bewunderns- und tadelnswert, recht und unrecht
ist. Denn wenn wir auch im gemeinen Leben sagen, ein schlechtes Pferd
habe Untugenden, so sagen wir doch niemals, ein gutes, noch irgend ein bloßes
Vieh, ein Idiot oder alberner Tropf, sie mögen noch so gutmütig sein,
seien rechtschaffen oder tugendhaft.
Wenn also ein Geschöpf edelmütig, freundlich, verläßlich,
mitfühlend ist, aber doch nicht über das, was es selbst tut oder andere
tun sieht, nachdenken kann, um Kenntnis von dem, was schätzbar und rechtschaffen
ist, zu erlangen und diese Kenntnis oder diesen Begriff von Wert und Rechtschaffenheit
zum Gegenstand seiner Neigung zu machen: dann hat es nicht
den Charakter eines tugendhaften Wesens. Denn nur so und nicht anders
ist es fähig, ein Verständnis von Recht und
Unrecht, ein Gefühl oder ein Urteil darüber zu haben, ob etwas aus
gerechter, angemessener und guter Neigung oder aus deren Gegenteil geschehen
sei.
Alles, was aus unangemessenen Trieben geschieht,
ist boshaft, schlecht und unrecht. Ist der Trieb
angemessen, gesund und gut und sein Gegenstand solcher Art, daß es zum Vorteil der Gesellschaft gereicht, wenn
er immer auf die gleiche Weise verfolgt und erstrebt wird: so muß dies
notwendig das ausmachen, was wir Billigkeit und Recht
in einer Handlung nennen. Denn unrecht ist nicht solche Handlung, welche
bloß die Ursache eines Schadens ist (bei dieser
Annahme würde ein ehrerbietiger Sohn, der auf einen Feind zielte, aber
aus Versehen oder durch einen unglücklichen Zufall seinen Vater tötete,
ein Unrecht tun); sondern zur Natur des Unrechts gehört, daß etwas aus mangelhaften oder unangemessenen Affekten geschieht (wenn
also etwa ein Sohn keine Rücksicht auf die Sicherheit seines Vaters zeigt
oder wenn Hilfe nottut, diesem einen gleichgültigen Menschen vorzieht).
Auch Schwäche und Unvollkommenheit der Sinne kann nicht die Veranlassung
von Bosheiten und Unrecht sein, wenn der Gegenstand der Seele niemals verkehrt
oder sonstwie unpassend, sondern geziemend, recht und der auf ihn gewandten
Meinung und Neigung würdig ist. Denn nehmen wir einen Menschen, dessen
Verstand und Triebe gesund und vollständig sind, dessen Körperbau
oder - Konstitution aber nichtsdestoweniger so schlecht ist, daß die natürlichen
Gegenstände durch seine Sinnesorgane wie durch falsche Gläser ihm
falsch übermittelt und unrichtig vorgestellt werden: so können wir,
wie jeder gleich bemerken wird, einen solchen nicht für boshaft und ungerecht
halten, da der Fehler nicht in dem herrschenden oder leitenden Organ liegt.
Anders verhält es sich mit Meinungen, Glaubenslehren
oder Spekulationen. Denn die Ungeheuerlichkeiten im Glauben und Meinen
gehen so weit, daß in einigen Ländern selbst Affen, Katzen, Krokodile
und andere niedrigstehende oder schädliche Tiere für heilig gehalten
und sogar als Gottheiten verehrt werden. Sollte nun ein Anhänger der Religion
oder des Glaubens dieser Länder überzeugt sein, es wäre recht,
ein Geschöpf wie eine Katze lieber zu retten als seinen Vater, und glauben,
andere Menschen, die nicht dieselbe religiöse Meinung hätten, müßten
als Feinde behandelt werden, bis sie bekehrt wären: so wäre das an
dem Gläubigen unrecht und schlecht, und jede Handlung, die sich auf diesen
Glauben gründete, wäre boshaft, schlecht und lasterhaft.
Und so muß alles, was Mißverständnis oder falsche Auffassung
von Würde und Wert eines Gegenstandes veranlaßt und dadurch einen richtigen Trieb vermindert, einen falschen, unregelmäßigen und ungeselligen
aber erregt, notwendig die Veranlassung von Unrecht sein. Daher ist der,
welcher einem anderen Neigung und Liebe entgegenbringt um einer Eigenschaft
willen, die für ehrenhaft gilt; die aber in Wirklichkeit schlecht ist,
selbst schlecht und böse.
Die Anfänge dieser Verderbnis können bei manchen Vorkommnissen bezeichnet
werden. Wenn etwa ein ehrgeiziger Mann durch den Ruf seiner großen Taten,
ein Eroberer oder Seeräuber durch seine gerühmten Unternehmungen bewirkt,
daß ein anderer den unsittlichen und unmenschlichen Charakter jenes, der
Abscheu verdient, achtet und bewundert: dann wird derjenige, welcher das Böse,
das er hört, im geheimen billigt, verderbt. Auf der anderen Seite aber
ist der Mensch, der einen .anderen liebt und achtet, weil er glaubt, dieser
besitze eine Tugend, die er doch nicht besitzt, sondern nur erheuchelt, deswegen
weder schlecht noch verderbt.
Daher kann ein Irrtum in den Tatsachen, der ja weder Ursache noch Zeichen einer
bösen Neigung ist, keine Ursache des Lasters sein. Aber ein Irrtum in Ansehung
des Rechten, der ja die Ursache unangemessener Affekte ist, muß bei jedem
intelligenten oder vernünftigen Wesen mit Notwendigkeit die Ursache lasterhafter
Handlungen sein.
Aber da es viele Gelegenheiten gibt, wo selbst dem Allerscharfsinnigsten die
Frage nach Recht und Unrecht schwierig und die Entscheidung zweifelhaft erscheinen
kann, so kann ein unbedeutender Irrtum hierin den tugendhaften und edlen Charakter
eines Menschen nicht verderben. Aber wenn infolge von Aberglauben oder schlechten
Gewohnheiten sehr grobe Irrtümer in der Bestimmung und Anwendung der Neigungen
vorkommen, wenn die Irrtümer entweder ihrer Natur nach so grob oder so
verwickelt und, häufig sind, daß der Mensch in natürlichem
Zustande und mit richtigen Trieben, wie sie mit menschlichem Leben und
bürgerlicher Gesellschaft verträglich wären, nicht weiter leben
kann: dann ist der Charakter der Tugend verwirkt.
Und so sehen wir, inwiefern Wert und Tugend von der Erkenntnis dessen, was recht
und unrecht ist, und von einem Gebrauch der Vernunft abhängen, welcher
hinreicht, eine richtige Anwendung der Triebe zu sichern. Nichts Scheußliches
oder Unnatürliches, nichts, was ein böses Beispiel gibt, nichts, was
diejenigen natürlichen Triebe zerstören könnte, durch welche
die Gattung oder Gesellschaft erhalten wird, darf aus irgend einem Grunde oder
vermöge irgend eines Prinzips oder Begriffs von Ehre oder Religion jemals
als ein guter und Achtung ver¬dienender Gegenstand erstrebt und verfolgt
werden. Denn ein solcher Grundsatz muß lasterhaft sein, und alles, was
ihm gemäß getan wird, kann nur Lasterhaftes und Unsittliches sein.
Gibt es also etwas, das die Menschen mit göttlicher
Vollmacht oder unter dem Schein und Vorwand irgend eines gegenwärtigen
oder zukünftigen Gutes für die Menschheit Verräterei,
Undankbarkeit und Grausamkeit lehrt; gibt es etwas, das die Menschen
lehrt, ihre Freunde aus Liebe zu verfolgen oder Kriegsgefangene zur Belustigung
zu martern oder Menschenopfer darzubringen oder aus religiösem Eifer vor
ihrem Gott sich selbst zu quälen, auszumergeln oder zu zerfleischen oder
irgend welche Barbareien und Brutalitäten als liebenswürdig und geziemend
zu begehen; mag alledem die Sitte Beifall oder die Religion
Heiligung verleihen: es ist nicht und kann niemals Tugend sein, auf keine
Weise, in keinem Sinne, sondern es muß immer abscheuliche Verderbtheit
bleiben, Mode, Gesetz, Sitte und Religion zum Trotze, die selbst böse und
schlecht sein mögen, die aber niemals die ewigen
Maßstäbe ändern können, niemals die unwandelbare, unabhängige Natur von Wert und Tugend.
S.16-21
Zweites Buch, 2. Teil, Schluss
Nach dem allgemein angenommenen Sinne der Worte Laster und Schlechtigkeit kann
niemand lasterhaft oder schlecht sein, als entweder
1) infolge von Mangelhaftigkeit
oder Schwäche der natürlichen Affekte; oder
2) infolge der Heftigkeit
der selbstischen; oder
3) infolge solcher Affekte, die
völlig unnatürlich sind.
Wenn jeder von diesen einem Geschöpf gefährlich und verderblich ist,
so folgt, insofern der Zustand vollkommensten Elends von ihnen abhängt:
böse und lasterhaft sein heißt elend und unglücklich
sein.
Und da jede lasterhafte Handlung im Verhältnis mehr oder weniger unglückliche
und üble Folgen für den Betreffenden hat, so folgt, daß jede
lasterhafte Handlung für den Betreffenden selber schädlich und vom
Übel ist.
Andrerseits ist das Glück und der Nutzen der Tugend aus der entgegengesetzten
Wirkung anderer Affekte bewiesen worden, derjenigen, welche der Natur und der
Ökonomie der Gattung oder Art gemäß sind. Wir haben alle die
Einzelheiten aufgezählt, durch welche (vermittels
Addition und Subtraktion) bei allgemeiner Berechnung des Glückes
das Endresultat größer oder kleiner wird. Und wenn kein Glied aus
diesem unseren System der ethischen Arithmetik weggelassen werden kann, so kann
man sagen, daß der behandelte Gegenstand ebenso große Evidenz besitzt
wie die Zahlenrechnungen der Mathematik. Denn treiben wir den Skeptizismus noch
so weit, zweifeln wir, wenn wir können, an allem um uns her: an
dem, was in uns selber vorgeht, können wir nicht zweifeln.
Unsere Gefühle und Affekte sind uns wohl bekannt. Sie sind sicher, was
auch die Gegenstände sein mögen, auf die sie sich richten. Es ist
auch von gar keiner Bedeutung für unsere Beweisführung, wie es sich
mit diesen äußeren Dingen verhält: ob sie Realitäten sind
oder Illusionen, ob wir wachen oder träumen. Denn schlimme Träume
sind ebenso aufregend, und ein schöner Traum (wenn
das Leben nichts weiter ist) geht leicht und glücklich vorüber. In diesem Traum des Lebens haben daher unsere Beweise
dieselbe Stärke, unsere Erwägungen und Berechnungen gelten, und die
Verpflichtung zur Tugend bleibt in jeder Hinsicht dieselbe.
Im ganzen, meine ich, fehlt es nicht im geringsten Grade an Sicherheit auch
in den Ausführungen über die Vorzüglichkeit der geistigen gegenüber
den sinnlichen Genüssen und der sinnlichen, wenn sie von guter Neigung
begleitet und mäßig und richtig gebraucht werden, gegenüber
den nämlichen, wenn sie ganz ungezügelt sind und die soziale Neigung
dabei völlig unbeteiligt ist.
Nicht geringere Evidenz liegt auch in den Ausführungen über die einheitliche
Struktur und das Gefüge des Geistes und über die Gefühle, aus
denen sich das Gemüt oder die Seele zusammensetzt und von denen ihr Glück
und Elend so unmittelbar abhängen. Es ist gezeigt worden: daß infolge
der notwendigen Verknüpfung und Abwägung der Affekte die Verminderung
irgend eines Teiles in dieser Konstitution sofort darauf hinwirken muß,
daß die anderen Teile und selbst das Ganze in Unordnung geraten und zerstört
werden; daß eben die Gefühle, infolge deren die Menschen lasterhaft
sind, ganz von selbst Qual und Krankheit sind; daß alles
Böse, das man wissentlich tut, von einem peinigenden Bewußtsein begleitet
ist; und daß eine Tat im selben Maße wie sie böse ist, die
sozialen Freuden schwächen und vernichten und die Fähigkeit zu freundlicher
Neigung und das Bewußtsein, solche zu verdienen, zerstören muß.
So können wir weder an der Freude und dem Glück anderer teilnehmen
noch die Befriedigung empfinden, die aus gegenseitigem Wohlwollen oder dein
Gedanken an die Liebe anderer entspringt; und auf diese
gründen sich doch die größten aller Freuden.
Wenn es nun mit der sittlichen Pflichtvergessenheit sich so verhält, wenn
der Zustand, der aus diesem Abfall von der Natur folgt, der allerschrecklichste,
drückendste und elendeste ist, dann ist klar: irgend etwas Bösem nachzugeben
oder beizustimmen ist eine Verletzung des eigenen Interesses und führt
zu den größten Übeln; und andererseits: alles, was dazu dient,
die Tugend zu vervollkommnen und Lauterkeit und richtige Neigung zu befestigen,
fördert das eigene Interesse und führt zum größten und
sichersten Glück und Genuß.
Die Weisheit, welche die Natur lenkt und regiert, hat es eingerichtet,
daß es dem persönlichen Wohle und Interesse jedes einzelnen Geschöpfes
entspricht, für das allgemeine Wohl zu wirken; hört es auf, dies zu
tun, so handelt es genau so sehr gegen sich selber und hört auf, sein eigenes
Glück und Wohlergehen zu befördern. Daher ist es dann geradezu sein
eigener Feind; und es kann nur dann gut und nützlich für sich
selbst handeln, wenn es stets das Wohl der Gesellschaft oder des Ganzen, von
dem es ein Teil ist, im Auge behält.
So haben wir also gefunden: die Tugend, die von allen
Vortrefflichkeiten und Schönheiten die wichtigste und liebenswürdigste,
die der Halt und der Schmuck der menschlichen Dinge ist, die Gemeinschaften
aufrecht erhält, Eintracht, Freundschaft und gute Beziehungen unter den
Menschen festigt, durch die ganze Länder und einzelne einzelne Familien
blühen und glücklich sind und deren Mangel alles Anmutige, alles Hervorragende,
Große und Würdige zerstört und zugrunde richtet: die Tugend,
sage ich, diese einzigartige Eigenschaft, die jeder Gesellschaft und der Menschheit
im allgemeinen so wohltätig ist, ist ebensosehr das Glück und Gedeihen
jedes einzelnen Geschöpfes im besonderen, und nur durch sie allein kann
der Mensch glücklich, ohne sie muß er unglücklich sein.
So ist Tugend
jedermanns Wohl und Laster jedermanns Übel. S.113-115
Aus: Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, Philosophische Bibliothek
Band 110, Verlag von Felix Meiner, Leipzig 1905
Ein Brief über den Enthusiasmus
(an Lord Sommers)
Vierter Abschnitt.
In Kürze, mein Lord, die melancholische Art, Religionsfragen zu behandeln,
ist nach meiner Schätzung, was so tragisch macht und die Veranlassung zu
so entsetzlichen Tragödien in der Welt ist. Und meine Meinung ist, dass
wir, sofern wir über die Religion in guter Art verhandeln, niemals zuviel
guten Humor aufwenden oder sie mit zuviel Freiheit und Freundlichkeit prüfen
können. Denn wenn sie natürlich und ehrlich ist, wird sie nicht allein
dieser Prüfung standhalten, sondern durch sie wachsen und von ihr gewinnen;
wenn sie aber unecht oder mit Betrug gemischt sein sollte, wird dieses entdeckt
und klar gestellt werden.
Die melancholische Art, in der uns unsere Religion beigebracht worden ist, macht
uns unfähig, an sie mit gutem Humor zu denken. Hauptsächlich in Trübsal,
oder wenn die Gesundheit nachlässt, in der Not, oder bei innerlichen
Aufregungen und starken Gemütserschütterungen nehmen wir unsere Zuflucht
zu ihr, obwohl wir in Wirklichkeit niemals so wenig zu einem Nachdenken über
sie geeignet sind, als in solcher dunklen schweren Stunde. Wir sind niemals
fähig, Höheres, denn wir sind, zu betrachten, wenn wir nicht in der
Lage sind, in uns selbst zu schauen und ruhig die Stimmung unseres Geistes und
unsere Leidenschaft zu untersuchen. Denn in solcher Zeit sehen wir Zorn, Grimm.
Rache und Schrecken in der Gottheit, wenn wir innerlich von Unruhe erfüllt
sind und durch Leiden und Angst soviel von unserer natürlichen Ruhe und
Behaglichkeit verloren haben.
Wir müssen nicht nur in der gewöhnlichen guten Stimmung sein, sondern
in der besten Laune, in der mildesten und schönsten Lebensverfassung, um
zu verstehen, was wahre Güte ist und was die Attribute bedeuten, welche
wir mit so viel Beifall und Ehre der Gottheit zuschreiben. Dann werden wir am
besten sehen, ob diese Art der Gerechtigkeit, diese gesteigerten Strafen, dieses
Rachegefühl, dieses Beleidigtsein, das wir in der Regel in Gott annehmen,
den ursprünglichen Ideen von Güte entspricht, welche dasselbe göttliche
Wesen oder die Natur unter ihm in uns eingepflanzt hat, und welche wir notwendig
annehmen müssen, um ihm Lob und Ehre jeder Art zu geben. Darin, mein Lord,
liegt die beste Sicherheit gegen jeden Aberglauben, sich nämlich daran
zu erinnern, dass in Gott nichts ist als Göttliches, und dass
er entweder überhaupt nicht existiert, oder wahrhaft und vollkommen gut
ist. Aber wenn wir uns fürchten, sogar über diese Frage freimütig
nachzudenken, ob er wirklich ist oder nicht, dann setzen wir schon eine gewisse
Schlechtigkeit bei ihm voraus und widersprechen geradezu seinem vorgeblichen
Charakter von Güte und Größe, indem wir dieses Misstrauen
in seine Natur bekunden und seine Rache und Strafe für solch freies Denken
fürchten.
Wir haben ein bemerkenswertes Beispiel dieser Freiheit in einem unserer heiligen
Schriftsteller. Für wie geduldig Hiob auch hingestellt wird, es kann doch
nicht geleugnet werden, dass er recht kühn mit Gott umgeht und ihm
wegen seiner Vorsehung gründlich den Text liest. Seine Freunde streiten
darob mit ihm und bringen richtige und falsche Argumente herbei, um die Einwände
zu beschwichtigen und die Vorsehung wieder auf feste Beine zu stellen.. Sie
machen sich ein Verdienst daraus, all das Gute zu sagen, was sie mit Anspannung
aller ihrer Geisteskräfte von Gott sagen können. Und bisweilen geht
es doch über ihre Kraft, aber nach der Meinung Hiobs ist das nur eine Schmeichelei
Gottes, eine Vertretung seiner Person, oder vielmehr geradezu eine Spötterei.
Und kein Wunder. Denn was für einen Wert kann es haben, auf frivole und
schwächliche Gründe hin an Gott oder seine Vorsehung zu glauben? Oder
was nutzt es, eine Meinung anzunehmen, die der Erscheinung der Dinge widerspricht,
und sich zu entschließen, nichts von möglichen Einwürfen darüber
zu hören? Das wäre ein ausgezeichneter Charakter des Gottes der Wahrheit,
wenn er sich dadurch beleidigt fühlen würde, dass wir die Lügen,
die man unserem Denken aufzwingen möchte, soviel an uns liegt, zurückweisen,
und der sich damit zufrieden geben sollte, dass wir an ihn aufs Geradewohl
glauben, auch gegen unsere Vernunft, was doch vielleicht die größte
Unwahrheit in der Welt hätte sein können, wenn wir nicht irgend etwas
als einen Beweis für das Gegenteil bringen könnten!
Es ist unmöglich, dass irgend jemand, ausgenommen ein schlecht gearteter
Mensch, gegen die Existenz eines Gottes sein könnte; denn das würde
gegen das öffentliche Wohl verstoßen, ja sogar auch gegen das eigene,
wenn wir es richtig verstehen? Aber wenn ein Mensch nicht so gesunken ist, um
seinen Glauben zu unterdrücken, dann muss er sicher eine unglückliche
Meinung von Gott haben und ihn bei weitem für nicht so gut halten, als
er sich selbst erkennt, wenn er sich einbildet, daß unbefangenes Denken,
auf welchem Gebiet der Spekulation auch immer, ihn irgendeinem Risiko späterhin
aussetzen könnte, und dass eine erbärmliche Verleugnung seiner
Vernunft und ein vorgespiegelter Glaube in bezug auf die seine Vernunft übersteigende
Sache ihn zu jeder Gunst in einer jenseitigen Welt berechtigen könnte.
Das heißt bloß Schmeichler in Sachen der Religion, bloß Schmarotzer
im Glauben zu sein, das heißt, mit Gott umgehen, wie ganz schlaue Bettler
mit dem umgehen, über dessen Rang sie im Unklaren sind. Die Neulinge unter
ihnen begnügen sich in ihrer Unschuld vielleicht mit einem »guter Herr« und ähnlichem; aber ein erfahrener Praktikus bedient sich, ganz gleichgültig,
wen er unterwegs trifft, eines »Euer Gnaden« oder »Euer Lordschaft«,
oder »aller Gnädigste geruhen«. Denn sollte es sich jemals wirklich
um einen Lord handeln, wäre es um sie, wenn sie ihm nicht den Titel gäben,
geschehen, wie sie sagen; wenn es aber kein Lord ist, dann schadet es auch nichts
es wird schon nicht übel genommen.
Und so ist es in der Religion. Wir geben uns die größte Mühe,
richtig zu beten, und meinen, dass alles von dem Erraten des passenden
Titels abhängt. Es ist die erbärmlichste und lumpigste Ausflucht,
von der so großes Geschrei gemacht wird, und der viel tüchtige Menschen
als ihrem Leitstern folgen: daß sie nämlich danach streben müssten,
so viel als möglich zu glauben. Denn falls auch schließlich nichts
dahinter ist, so würde dieser Irrtum ihnen nichts schaden; aber sollte
etwas dahinter sein, dann wäre es fatal für sie, nicht alles ganz
und gar geglaubt zu haben. Aber dabei sind sie doch so sehr im Irrtum, dass
sie bei solcher Annahme sicherlich weder zu ihrer Zufriedenheit und zu ihrem
Glück in dieser Welt, noch mit einiger Aussicht auf Empfehlung in einer
anderen den wahren Glaubenhaben können. Denn abgesehen davon, dass
unsere Vernunft, die den Betrug durchschaut, niemals vollständig sich auf
solcher Grundlage wird beruhigen können, uns immer wieder schwankend macht
und uns in einen Abgrund von Zweifeln und Verwirrung stürzen wird, müssen
wir geradezu in unserer Religiosität schlechter werden und obendrein von
der höchsten Gottheit immer schlimmer denken, so lange unser Glaube auf
eine so beleidigende Idee von ihm gegründet ist.
Das öffentliche Beste zu lieben und das Wohl der ganzen Welt zu fördern,
soweit es in unserer Kraft liegt, ist sicherlich die größte Güte
und bildet den Charakter, den wir göttlich nennen. In einer solchen Verfassung,
mein Lord (denn sicherlich Sie kennen diese sehr gut), wünschen wir natürlich,
dass andere mit uns gemeinsame Sache machen sollten, lediglich deswegen,
weil sie von der Ernsthaftigkeit unseres Vorbildes überzeugt sind. Es ist
ein natürlicher Wunsch, dass unsere Verdienste bekannt werden sollten;
besonders wenn es das Schicksal gewollt, dass wir einem Volke als guter
Minister gedient haben oder als ein Fürst, als ein Vater des Landes, einen
beträchtlichen Teil der Menschen unter unserer Sorgfalt glücklich
gemacht haben. Aber wenn es sich treffen sollte, dass unter ihrer Zahl
einige so Unkundige oder aus einem so fernen Teil des Landes sich befinden sollten,
dass sie von unserem Ruhme und unseren Leistungen nichts vernehmen, oder
falls sie etwas davon hören, dann so durch allerlei andere Geschichten
über uns verwirrt sind, dass sie nicht mehr wissen, was sie von uns
denken sollen und ob überhaupt in der Welt es solche Menschen gäbe
wie wir; würden wir uns dann nicht in Wahrheit lächerlich machen,
wenn wir das als eine Beleidigung ansehen würden? Und würden wir nicht
für außerordentlich grämlich und recht verstimmt gelten, wenn
wir, anstatt die Sache humoristisch aufzufassen, im Ernst daran dächten,
uns an jenen Beleidigern zu rächen, welche wegen ihrer bäurischen
Unkenntnis oder ihrem schlechten Urteil oder ihrer Ungläubigkeit unseren
Ruhm etwas geschmälert haben?
Was sollen wir dann aber sagen? Verdient es tatsächlich Lob, sich derart
damit noch abzugeben? Ist das Guttun um des Ruhmes willen ein so herrliches
Ding? Oder ist es nicht vielmehr herrlicher, das Gute zu tun, auch wenn es für
unrühmlich gilt, und es selbst den Undankbaren und denen gegenüber
zu tun, die das Gute nicht erkennen, was sie empfangen? Wie kommt es denn, dass
das, was so herrlich in uns ist seinen Charakter in dem höchsten Wesen
verlieren sollte? Und dass, je nachdem wie die Gottheit uns vorgestellt
wird, sie mehr der schwachen, weibischen und unfähigen Seite unserer Natur
als der großmütigen, männlichen und herrlichen Seite ähnelt?
Fünfter Abschnitt.
Man könnte glauben, mein Lord, es wäre in der Tat kein schwierig Ding,
unsere eigene Schwäche auf den ersten Anblick zu erkennen und die Züge
menschlicher Gebrechlichkeit die uns so wohl vertraut sind, zu unterscheiden.
Man möchte es als ein Leichtes erachten, zu verstehen, daß Beleidigung
und Herausforderung, Zorn und Rachgier, Eifersucht hei Ehre und Machtfragen,
Ruhmessucht und dergleichen, nur endlich begrenzten Wesen eigen sind und notwendig
einem Wesen abgesprochen werden müßten, das vollkommen und weltumfassend
ist. Aber wenn wir uns niemals einen Begriff des moralisch Vortrefflichen gebildet
haben, oder wenn wir der Vernunfteinsicht nicht trauen dürfen, daß
in der Gottheit einzig und allein dieses moralisch Treffliche gesucht werden
darf, so können wir uns auch auf nichts verlassen, was andere von Gott
berichten, oder was er uns selbst offenbart. Daß er gut ist und uns nicht
täuschen kann, dessen müssen wir zuvor gewiß sein. Ohne ein
solches Vertrauen ist kein wahrhaft religiöser Glaube und fromme Zuversicht
möglich. Wenn es nun aber etwas gibt was vor aller Offenbarung gilt, eine
ihr vorangehende und überzeugende Demonstration aus Vernunftgründen,
daß Gott ist, und zugleich, daß er so gut ist und uns nicht täuscht,
dann wird dieselbe Überlegung, wenn wir ihr trauen, uns zu dem Schluß
führen, Gott sei so gut daß er auch den Allerbesten von uns an. Güte
übertreffe. Und dann vermag uns keine Furcht und kein Argwohn mehr zu ängstigen,
denn es ist der Haß allein, der uns schrecken kann, und nicht die Güte.
Es gibt eine sonderbare Art zu urteilen, die jedoch für die, welche ihr
folgen, bei gewissen trüben Stimmungen sich höchst wirksam erweist;
es ist die folgende: ,,Haß kann nur entstehen, wo Interessen miteinander
streiten. Ein allumfassendes Wesen hat kein Interesse gegen sich, — kann
also auch keinen Haß haben.“ Wenn es einen allgemeinen Geist gibt,
kann er keine Sonderinteressen haben; vielmehr müssen das allgemeine Wohl
oder das Wohl des Universums und sein eigenes wohl notwendig ein und dasselbe
sein. Er kann nichts anderes wollen als eben dieses, er kann weder auf etwas
anderes hinauszielen, noch zu etwas gereizt werden, das ihm entgegenstünde.
Daher haben wir einzig und allein zu erwägen, ob es wirklich etwas wie
einen Geist gibt, der zu dem Universum in Beziehung steht oder nicht. Denn wenn
es unglücklicherweise keinen Geist geben sollte, so mögen wir uns
immerhin damit trösten, dass die Natur frei von Hass ist; ist
aber wirklich ein Geist vorhanden, so können wir befriedigt dabei bleiben,
dass er der beste in der Welt ist, welch letztere Fall augenscheinlich
der tröstlichste ist. Denn die Vorstellung einer einsamen Natur und einer
vaterlosen Welt ist sicherlich weit schrecklicher als die eines gemeinsamen
Erzeugers, obschon, wie es bei uns mit der Religion steht, es viele Leute gibt,
die sich der freien Natur gegenüber weniger fürchten, und die sich
vielleicht erleichtert fühlen würden, wenn sie gewiss wären,
dass sie allein mit der Zufälligkeit zu rechnen haben.
Denn vor dem Gedanken, daß es keinen Gott gibt, zittert niemand, wohl
aber davor, dass ein Gott existiert. Allein dies würde
anders sein, wenn man von der Gottheit nur so freundlich wie von der menschlichen
Natur dächte, und wir zu dem Glauben geführt werden könnten,
dass, falls es einen Gott gibt, ihm die höchste Güte notwendig
eigen sei, frei von allen Mängeln, die der Leidenschaft entspringen, von
jenen Niedrigkeiten und Unvollkommenheiten, deren wir uns in uns selbst bewußt
sind, die wir als gute Menschen mit allen unseren Kräften zu überwinden
streben, die wir mit jedem Tage mehr beherrschen, je besser wir werden.
Mich dünkt, mein Lord, es wäre gut für uns, bevor wir in die
höhere Region der Gottesgelehrsamkeit steigen, wenn wir uns herheiließen,
in uns selbst hinabzusteigen und ein wenig über die schlichte Sittlichkeit
nachdenken wollten. Wenn wir erst einmal tiefer in uns selbst geblickt und die
Natur unserer Gemütsstimmungen untersucht hätten, würden wir
wohl geeigneter sein, über die Göttlichkeit des Charakters eines höchsten
Wesens zu urteilen und besser erkennen, was für Neigungen einem solchen
Wesen anstehen oder nicht. Dann möchten wir auch zu lieben und zu loben
verstehen, wenn wir erst eine sichere Kenntnis dessen hätten, was lobens-
und liebenswert ist. Sonst könnten wir vielleicht Gott wenig Ehre erweisen,
wenn wir es auch am meisten beabsichtigen. Denn es ist schwer, sich vorzustellen,
welch eine Ehre der Gottheit durch Lobpreisungen von Kreaturen gegeben werden
könnte, die unfähig zur Erkenntnis dessen sind, was in seiner Art
lobenswert und ausgezeichnet ist. Wenn ein Musiker bis zum Himmel von einer
Schar von Menschen, die gar kein musikalisches Empfinden besitzen, gelobt würde,
ihm müsste sicherlich die Schamröte in das Gesicht steigen, er
könnte kaum mit guter Haltung das Wohlwollen dieser Hörer entgegennehmen,
ehe sie ein angemessenes Verständnis seiner Leistung gezeigt und durch
ihr eigenes Urteil etwas wirklich Gutes in seiner Produktion herausgefunden
hätten. Bis das geschehen, wäre wenig Ruhm bei der Sache zu holen,
mag der Musiker auch noch so eitel sein: er hätte wenig Grund, zufrieden
zu sein.
Wer am meisten nach Lob strebt, sollte lieber nicht beachtet, als unverschämt
gelobt werden. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass diejenigen, von
welchen man sagt, sie tun in höchst selbstloser Weise Gutes, so gierig
nach überreichem Lob hingestellt werden, und dass man von ihnen glaubt,
sie geben so viel auf eine so niedrige und billige Sache wie erzwungenen und
auf Unkenntnis beruhenden Beifall.
Mit der Güte verhält es sich nicht wie mit anderen Eigenschaften,
die wir wohl verstehen können, obwohl wir sie nicht besitzen. Wir mögen
sehr musikverständig sein, ohne selbst die Musik ausüben zu können.
Wir mögen Poesie gut beurteilen können, ohne selbst Poeten zu sein
oder auch nur die geringste poetische Ader in uns zu spüren. Aber wir können
keine leidliche Idee von der Güte haben, ohne selbst leidlich gut zu sein.
Wenn die Lobpreisung eines göttlichen Wesens einen so großen Teil
seiner Verehrung ausmacht, so sollten wir deshalb zuerst, wie mich dünkt,
die Güte lernen, wäre es auch nur aus dem Grunde, um auf irgendeine
erträgliche Weise zu lernen, wie wir lobpreisen sollen. Denn das Lob der
Güte aus falschen und hohlen Herzen, ruft sicherlich den größten
Misston in der Welt hervor.
Aus: Shaftesbury, Ein Brief über den Enthusiasmus,
Die Moralisten (S.20-28) Philosophische Bibliothek Band 111, Verlag von Felix
Meiner, Leipzig