Georg Simmel (1858 – 1918)
Deutsch-jüdischer Philosoph und Soziologe, der seit 1914 Professor in Straßburg war. Simmel stand dem Neukantianismus nahe und entwarf eine dialektische Lebens-Metaphysik und pluralistische Ethik. Er ist einer der Begründer der formalen Soziologie. In seiner (späten) Lebensmetaphysik versucht er den Gedanken einer Transzendenz des Lebens in Einklang mit seiner notwendigen Entfremdung und Verdinglichung in Einklang zu bringen und weiter zu entwickeln. Der Tod ist für Simmel die Form des Lebens, weil er dieses begrenzt und somit Raum für die Gestaltung weiterer Entwicklungs-Möglichkeiten schafft. Seine Ethik stellt die singuläre Totalität des Lebens unter die Idee eines individuellen Gesetzes, nach der nicht die Allgemeinheit des Kantschen Sittengesetzes, sondern das Prinzip der kreativen Einzigartigkeit des individuellen Selbstbewusst-Werden-Prozesses (Individuation) die spezifische Moralität begründen soll. Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg |
Inhaltsverzeichnis
Die
Persönlichkeit Gottes
Die Diskussionen über das Dasein Gottes münden
oft in die Erklärung des positiv Behauptenden: er könne zwar nicht angeben, was Gott sei, er glaube oder
wisse aber, dass Gott sei. Das ist
nicht die Vorstellung der Mystiker,
dass Gott »ein Nichts« sei; denn
diese will nur von ihm keine einzelne Bestimmung aussagen lassen, die notwendig etwas Einseitiges [subjektive Betrachtunsweise, die nicht alle Seiten und Gesichtspunkte berücksichtigt], Einschränkendes, Ausschließendes ist und damit
die Allumfassung [die Existenz aller Dinge und Personen umfassend, einschließend , begrenzend, die es es jemals gab, momentan gibt und zukünftig möglicherweise geben kann] , Alldurchdringung [alle Lebewesen, Dinge, Gegenstände, Sachen durchdringen, in dem die Gottheit in sie eindringt, auf diese Weise in ihnen vorhanden ist und ihre Existenz und Denkfähigkeit ermöglicht und verwirklicht], Absolutheit des göttlichen
Prinzips [die ausschließlich nur nur sich selbst bedingengende und sich selbst hervorbringende Einmaligkeit und Einzigartigkeit des göttliche Wesens] verneint; das göttliche »Nichts« des Mystikers bedeutet,
dass Gott nichts Einzelnes, aber eben darum das Ganze ist. Jene
erste Behauptung aber enthält keineswegs diesen pantheistischen
Sinn, sondern die wunderliche Unlogik, die Existenz von Etwas zu behaupten,
wovon man durchaus nicht sagen kann, was es denn eigentlich ist. Der Kritiker
könnte ohne weiteres einwenden: mit welchem Rechte dieses Etwas Gott genannt werde? Gott sei ein leeres Wort,
wenn zwar seine Realität behauptet, aber in keiner Weise aufgezeigt werden
könne, was denn nun unter diesem Namen real sei. Der psychologische
Grund dieses Verhaltens dürfte der sein: dass der Gottesbegriff für
den modernen Menschen durch so viele und heterogene historische Inhalte und
Deutungsmöglichkeiten hindurchgegangen ist, daß nur ein mit gar keinem
Inhalt mehr festzulegendes Gefühl übrig geblieben ist, etwas viel
Allgemeineres, als es der abstrakte Begriff wäre, der etwa das Gemeinsame
all jener verschiedenen Bestimmungen des Gottesbegriffes sein könnte. Man
kann dies als das Extrem der Gläubigkeit bezeichnen: es wird sozusagen
nur geglaubt, die Form des Glaubens als
solche ist in der Seele wirksam, ohne daß sein Inhalt noch irgendwie angebbar
wäre. Von der Seite des Objekts her ausgedrückt: die Frage oder Tatsache
des Seins hat in der Logik des religiösen
Bewußtseins die Prärogative gewonnen, die Existenz hat sozusagen
ihren Inhalt verschlungen; es ist die Akzentuierung, die zuerst an Parmenides deutlich wurde, für den allein das allumfassende
einheitliche Sein ist, während alle Bestimmungen, alles Dies und
Das wesenlos und nichtig sind. So haftet hier an dem Sein Gottes alles
Interesse, und — so wunderlich es in diesem abstrakten Ausdrucke erscheinen
muss— was er ist, verschwindet
in dem Abgrund dieses Seins-Gedankens. Diese objektive und jene subjektive Seite
hängen zusammen: der Gegenstand des Glaubens ist das Sein. Das Was und
Wie macht der Verstand, die Intuition, die Überlieferung aus; aber das
gleichsam von diesen fertig gestellte Gebilde bleibt so noch in der Schwebe,
in einer ideellen und noch fragwürdigen Begrifflichkeit. Erst der Glaube
rückt es in die Festigkeit des Seins, das dem Verstande und der Phantasie
mit ihren nur qualitativen und quantitativen Bestimmungen gar nicht ergreifbar
ist. Der Glaube ist sozusagen das Sinnesorgan, durch das uns das Sein als solches
vermittelt wird.
Dieser enge Zusammenhang, in dem das Sein nur dem Glauben zugängig, der
Glaube, genau angesehen, nur auf das Sein gerichtet ist, bezeichnet sozusagen
den einen Pol des religiös gerichteten Bewußtseins. An dem andern
sammeln sich die seelischen Energien, die die religiöse Welt ihrem Inhalte nach aufbauen, die Bestimmungen des göttlichen Wesens, die Heilstatsachen,
die Imperative des Verhaltens. So unbedingt in der Lebenswirklichkeit der Religion
natürlich beides unmittelbar Eines ist: die religiösen Inhalte und
der Glaube an ihre Wirklichkeit — so treten sie doch in der Analyse, und
nicht nur in ihr, auseinander. Denn an ihren Polen stehen sich der religiöse
Mensch als solcher und der Religionsphilosoph gegenüber. Für jenen
ist der Glaube das Wesentliche, der Inhalt des Glaubens, obgleich er bis zur
Selbstopferung für dessen Realität eintritt, ist daneben doch sozusagen
etwas Sekundäres; wie sich einerseits an der Gleichgültigkeit vieler
tief religiöser Naturen gegen jedes Dogma zeigt, andrerseits an der Abhängigkeit
der Dogmen von dem unendlich variablen Zufall der historischen Situation —
während das religiöse Sein dieser,
so mannigfaltigen Inhalten zugeschworenen Persönlichkeiten zweifellos das
wesentlich gleiche ist. Ihr Wirklichkeitsglaube als solcher, als die Form der
Religion, ist derselbe, obgleich dessen Inhalte die heterogensten sein mögen.
Wenn nun andrerseits diese Inhalte dem Religionsphilosophen zum Gegenstand der
Konstruktion, der psychologischen Erklärung, der logischen Kritik werden,
so ist ihm insofern gleichgültig, ob sie geglaubt werden und ob sie wirklich
sind — wie, mutatis mutandis, der
Mathematiker mit den geometrischen Figuren verfährt, unbekümmert darum,
ob ihre Gegenbild er in dem realen Raum auffindbar sind und welche Rolle sie
und ihre von ihm gefundenen Gesetzlichkeiten in den Prozessen des praktischen
Bewußtseins spielen.
Innerhalb dieser Philosophie also verbleibend, der keine religiösen Entscheidungen
obliegen, weil sie nur gleichsam immanent über die religiösen Inhalte
— ihren Sinn, ihre Zusammenhänge, ihre logische Dignität [Rang,
Bedeutung] —, nicht aber über deren Wirklichkeit urteilt —
untersuche ich hier den Begriff der »Persönlichkeit« des göttlichen
Prinzips. Gegen keinen andern desselben Bezirks vielleicht haben sich die verschiedensten
Standpunkte mit so leidenschaftlicher Entschiedenheit gewendet, wie gegen diesen;
für die »Aufklärung« ist er ein Beweis, daß es sich
in der Religion nur um die Vergöttlichung des Menschlichen handelt, der
Pantheismus und die Mystik umgekehrt lehnen ihn als Vermenschlichung des Göttlichen
ab. Allein es gibt eine höhere, beiden Kritiken entgehende Perspektive.
Mag das Person-Sein des Menschen die Gelegenheitsursache für die psychologische
Entstehung des »persönlichen Gottes« sein; aber sein logisches
und metaphysisches Fundament ist davon unabhängig.
Was heißt Persönlichkeit? Wie mir scheint: die Erhöhung und
Vollendung, die die Form des körperlichen Organismus durch ihre Fortsetzung
in das seelische Dasein gewinnt. Der Organismus ist innerhalb des physischen
Daseins ein Ausschnitt, dessen Teile in einer engeren Wechselwirkung stehen,
als irgend welche Zusammenfassungen solcher Elemente, die wir als unorganische
bezeichnen. Das »Leben« kreist innerhalb
eines geschlossenen Umfanges, in dem jeder
Teil durch jeden bestimmt ist und den wir
wegen dieses dynamischen Zusammenhanges als »Einheit« charakterisieren. Keinem Stück des Unorganischen kommt in diesem objektiven
Sinne »Einheit« zu. Ein Felsen oder
ein Metallklumpen ist »einer« nur im numerischen Sinne, weil er ein Exemplar eines an ihn herangebrachten
Begriffes ist; wird er mechanisch gespalten, so ist jeder Teil für sich
wieder Felsen oder Metall, das in demselben Sinne Einheit ist, wie vorher das
größere — während keiner der Teile eines zerschnittenen
Lebewesens in dem Sinne Einheit ist, in dem es vorher das ganze war. Nun aber
ist die Geschlossenheit, in der die Elemente des körperlichen Organismus
sich gegenseitig Form und Funktion bestimmen, keine vollständige, da das
Lebewesen in fortwährenden Austauschverhältnissen mit seinem Milieu
steht; aufnehmend und abgebend zeigt es sich einbezogen in ein größeres
Ganzes, so daß es als eine Einheit in strengem Sinn, d. h. als ein sich
selbst genügendes, aus den Relationen seiner Teile zueinander völlig
verständliches Ganzes nicht gelten kann. Indem aber im Organismus die bewußte
Seele erwächst, zeigen deren Inhalte nun einen Grad des Zusammenschlusses
und der gegenseitigen Bedingtheit, der weit über jene körperliche
Einheitlichkeit hinausgeht.
Dies wird von einem fundamentalen Unterschied des Geistigen gegen das Körperliche
getragen. Im Körperlichen verschwindet die Ursache in der Wirkung; nachdem
diese eingetreten ist, ist jene so abgelöst und gleichgültig geworden,
daß nicht einmal ein irgend sichrer Schluß von der Wirkung auf die
Ursache möglich ist. Diese Art der Kausalität besteht auch im Geistigen;
außer ihr, oder vielleicht genauer: innerhalb ihrer aber noch eine andre,
die wir als Erinnerung bezeichnen. Diese bedeutet, daß das frühere
Ereignis nicht nur eine Ursache in jenem Sinne ist, d. h. nicht nur sein Energiequantum,
seine Richtung, seine Beschaffenheit in die morphologisch vielleicht völlig
anders gestaltete Wirkung umsetzt, sondern daß es, in seinem Inhalte,
seiner morphologischen Identität sozusagen erhalten, als späteres
Ereignis wiederkehrt. Während jede physische Wirkung, wie ich andeutete,
prinzipiell durch eine beliebige Anzahl ganz verschiedener Ursachen hervorgerufen
werden kann, kann die erinnerte Vorstellung, insofern sie erinnert ist, nur
eine einzige Ursache haben: eben die inhaltlich gleiche, in einem früheren
Moment bewußt gewesene Vorstellung — vorbehalten natürlich,
daß der ganze dazwischen liegende Verlauf und die ganze übrige jetzt
kooperierende Verfassung der Psyche es überhaupt zu der Erinnerung kommen
läßt. Dies nun ergibt eine ganz einzigartige Konstellation. Während
der Zeitverlauf als solcher das Vergangene vergangen sein läßt und
ihm nur eine Wirkung auf das Spätere gestattet, die aber dies Spätere nicht zurückgeben
und also nicht zu einer Wechselwirkung gestalten kann, hebt die Erinnerung das
Vergangene in die Gegenwart und damit in eine relative Gleichgültigkeit
gegen den Zeitverlauf.
Nun aber werden Bewußtseinselemente durch Bewußtseinselemente unbedingt
beeinflußt, d. h. wir können uns den kontinuierlichen Fluß
unsres inneren Lebens nur unter dem Symbol denken, daß dessen Inhalte,
in unsrer Abstraktion zu einzelnen, umschriebenen »Vorstellungen«
kristallisiert, sieh untereinander modifizieren und so die Gegenwart
des Menschen, im großen und ganzen, das Ergebnis seiner Vergangenheit
ist. Allein da nun außerdem die Erinnerung das Vergangene zu Gegenwärtigem
macht, so wird auch das so in uns lebende Vergangene durch die inzwischen und
aktuell eintretenden Vorstellungselemente beeinflußt. Das heißt:
die einsinnige, nur vorwärts drängende Kausalität der Zeit wird
innerhalb des seelischen Lebens zu einer Wechselwirkung. Da wir in diesem das
Vergangene noch als identisch permanierenden Erinnerungsinhalt haben, so geschieht
hier das scheinbar Paradoxe, daß die Gegenwart auf die Vergangenheit ebenso
wirkt, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart.
In unsrer jeweiligen Bewußtseinslage ist der momentan neu erzeugte Inhalt
in der Regel nur ein Minimum, der Hauptsache nach wird sie von erinnerten Vorstellungen
gespeist und ihr Gesamtbild ergibt sich aus der Wechselwirkung oder als die
Wechselwirkung zwischen diesen letzteren, die gewissermaßen unser ganzes
bisheriges Leben repräsentieren, und den aktuell produzierten. So haben
wir innerhalb des Bewußtseinsrayons eine Wechselwirkung und also eine
organisch-personale Einheit, die unser körperliches Wesen an Geschlossenheit
weit übertrifft. Wir werden auch nicht umhin können, die nicht bewußten
Vorgänge, auf denen in irgend einer Weise die bewußten ruhen, in
dauernden Wechselwirkungen begriffen zu denken. Gewiß ist das Bild der
mechanischen Psychologie irrig, das »Vorstellungen« zu Wesen macht, die auf- und absteigen, sich verbinden und sich trennen usw.
Ein solches Bild konnte nur so entstehen, daß die logisch ausdrückbaren
Inhalte aus dem kontinuierlichen und einheitlichen Fluß des inneren Lebens
heraus abstrahiert und mit einer Art von Körper bekleidet wurden, so daß
sie nun, gewissermaßen selbständig bestehend, erst ihrerseits dieses
Leben zusammenzusetzen scheinen konnten.
Die »Vorstellung« als ein grenzumschriebenes,
für sich tätiges oder leidendes Element ist ein reines Mythologem,
zu dem die Analogie der physischen Atomistik verführt hat. Dennoch sehe
ich vorläufig keinen Weg, diese Doppelheit der Betrachtung des Seelischen
zu vermeiden: es ist einmal ein einreihiger, in der dimensionslosen Lebenseinheit
abrollender Prozeß — dann
aber auch ein Komplex außereinander befindlicher
Inhalte, die wir uns in mannigfachen Verhältnissen stehend
denken müssen. So wenig wir nun den Symbol- und Projizierungscharakter
dieses letzten Bildes vergessen, sowenig wir uns eine »Vorstellung« zwischen ihrem ersten Auftreten und ihrer späteren Reproduktion als tale
quale im Unbewußten wie in einem Kühlraum konserviert
denken dürfen, wie den Schauspieler, der unsichtbar hinter den Kulissen
auf sein Stichwort wartet — so ist doch irgend eine, noch so rätselhafte
Art ihres »Beharrens« unumgänglich.
Da dieses Beharren nun unzählige Vorstellungen trifft und da keine einzige
bei ihrem Wiederauftauchen eine absolute, starre Identität ihres Inhaltes
zeigt, so müssen gegenseitige Beeinflussungen und Modifikationen während
jenes Latenzzustandes angenommen werden.
Die psychischen Elemente also, die irgendwie jenseits des Bewußtseins
in uns bestehen, sind in fortwährenden Wechselwirkungen und schmieden sich
dadurch gegenseitig zu der Einheit, die wir Persönlichkeit nennen. Denn
diese ist doch nicht ein einfach beharrendes Zentrum, sondern ein Sich-Durchdringen,
eine funktionelle Angleichung, ein Übertragen, Sich-Beziehen, Sich-Verschmelzen
innerhalb des Umkreises aller Vorstellungsinhalte überhaupt. Im Gegensatz
also zu dem isoliert betrachteten seelischen Elemente, das als solches gleichsam
unlokalisiert und nicht untergebracht erscheint, erwächst unsre »Persönlichkeit« als das Geschehen, das wir mit dem
Formsymbol der Wechselwirkung unter allen Elementen bezeichnen.
Wir wären also formal vollkommene Persönlichkeiten, wenn diese Wechselwirkung eine vollkommen geschlossene
wäre und jedes seelische Geschehen seine Veranlassung ausschließlich
in eben diesem Umkreis hätte. Allein das ist nicht der Fall. Wir sind auch
mit unserer Psyche, wie mit unsrem Körper, in die uns äußere
Welt verwebt; es finden Wirkungen in ihr statt, die nicht aus ihr allein zu
erklären sind, und es scheint auch, als ob gewisse ihrer inneren Vorgänge
nach außen verliefen und sich nicht mit ihrer ganzen Wirkungsmöglichkeit
in den psychischen Verlauf weitererstreckten. So wenig wir mit unsrem Körper
den reinen Begriff des Organismus erfüllen, so wenig mit unsrer Seele den
der Persönlichkeit. Mag dieser Begriff also auch psychologisch in der Erfahrung
über uns selbst entstanden sein: seinem Sinne nach ist er »eine Idee«,
eine Kategorie, die kein empirisches Einzelwesen ganz erfüllt. Schon daß
unser Dasein einen zeitlichen Verlauf als seine Form hat, daß es sich
deshalb »erinnern« muß, um seine
Inhalte zu einer, immer fragmentarischen, Wechselwirkung zu bringen —verhindert
jene Einheit der Inhalte, mit der wir Persönlichkeit im absoluten Sinne
sein würden. Wie nun die Idee des Organismus sich nur an einer einzigen
Vorstellung restlos realisiert: an der des Weltganzen, da dieses allein, seinem
Begriffe nach, nichts außer sich hat, das die vollkommene, in sich geschlossene
Wechselwirkung all seiner Elemente durchbrechen könnte — so ist der
Begriff Gottes die eigentliche Realisierung der Persönlichkeit. Denn für
ihn, wie die metaphysisch abgeschlossene Religiosität ihn denkt, besteht
keine »Erinnerung« in der menschlich-zeitlichen Form, die immer
ihr Gegenteil, das Vergessen, in sich enthält. Für ihn besteht keine
Vergangenheit, die ihre Inhalte nur in Bruchstücken an die Wechselwirkung
seines aktuellen Zustandes überlieferte; wer sich nicht erst zu »erinnern«
braucht, für den gibt es keine Zeit, dem fällt nicht die Ganzheit
und Einheit seines Seins in das Brüchige und Lückenhafte der zeitlichen
Distraktion.
Was man die »Ewigkeit« Gottes, sein
Enthobensein aus der Zeitbedingtheit genannt hat, ist die Form, in der sein
absolutes Persönlich-Sein möglich ist. Er wird durch dieses nicht
vermenschlicht, sondern er bezeichnet gerade das, woran der Mensch nicht hinanreicht:
die absolute Verknüpftheit und Selbstgenügsamkeit des ganzen Daseinsgehaltes. Ein Wesen, das der Teil eines Ganzen ist, wie der Mensch,
kann nie vollkommene Persönlichkeit sein, weil es sich von außen
speist und nach außen abgibt, - was in der Form des Nebeneinander eben
dasselbe ist, was die Angewiesenheit unsrer Existenz auf die Erinnerung in der
Form des Nacheinander ist: kein Moment jener wirklich in sich geschlossen, ein
jeder auf Vergangenheit und Zukunft angewiesen und so keiner wirklich ganz er
selbst. Es ist ganz irrig, daß der Gott in dem Maße Persönlichkeit
sei, in dem der Mensch ihn in seiner Eingeschränktheit hinabzieht. Denn
gerade das, was den Menschen einschränkt, daß er nur der Teil eines
Ganzen ist. statt selbst ein Ganzes, und daß sein Dasein keine gesammelte
Einheit ist, weil es in zeitliche und nur durch die Erinnerung verknüpfte
Momente distrahiert ist - eben das verhindert sein ganz eigentliches Persönlichkeit-Sein.
Gerade in dem Maße, in dem die Idee Gottes ein wirkliches Ganzes und ein
zeitloses Ein-für-alle-Mal, eine absolute Verbundenheit aller seiner Daseinsmomente
ist, in dem Maße also, in dem er über den Menschen hinausreicht,
erfüllt er den Begriff der Persönlichkeit. Wie wir schon unsre eigene
unvollkommene Einheit zu dem Ich verdichten, das sie in rätselhafter Weise
trägt, so kristallisiert die wirkliche Einheit des Weltseins zu einer restlosen
Ichform, zu der absoluten Persönlichkeit. Wenn man etwa sagt: der Gott
als Persönlichkeit ist die Persönlichkeit als Gott - so ist das wohl
wahr; nur daß dies nicht die kleine Persönlichkeit des Menschen ist,
sondern gerade die große der Welt, die das jener versagte Ideal der Persönlichkeitsbestimmungen
verwirklicht und damit der religiösen Empfindung entgegenkommt. Indem diese
Empfindung sozusagen der Form des Alls gilt, jenseits seiner von ihr zusammengehaltenen
Einzelheiten, ist ihr Gegenstand der Gott, zu dem dieser Sinn des Ganzen zusammenwächst.
Noch einmal sei betont: ob dieser Gott objektiv
existiert oder auch subjektiv geglaubt wird,
hat mit dieser rein ideellen Bestimmung seines Begriffes nichts zu tun, für
die Sein oder Nichtsein nicht die Frage ist. Jedenfalls aber wird mit ihr die
Alternative zwischen der pantheistischen und der personalistischen Auffassung
des göttlichen Prinzips auf eine neue Basis gestellt. Macht man mit dem
Begriff der Persönlichkeit Ernst — so daß sie nicht die Beschränktheit
unseres Seins ist, sondern gerade das, woran unser Sein nur in beschränktem
Maße teil hat, was wir gerade als beschränkte Wesen nicht sind — so kann es sich nur an einem absoluten Wesen realisieren, an einem,
das entweder mit der Totalität der Welt Eins ist, substantia
sive Deus, oder an einem, das sozusagen das Totalitätsmoment
der Welt bedeutet ... Allein der pantheistische Gedanke macht noch weiterhin
Probleme und Widersprüche im Gottesbegriff sichtbar, für die dessen
Persönlichkeitsform Lösung gibt.
Die Bedeutung des göttlichen Prinzips knüpft sich in dem weit überwiegenden
Teil aller Religionsgeschichte daran, daß der Gott dem Gläubigen
und seiner Welt gegenübersteht. Der
Gott, dem man sich gibt, ist vor allem der mächtige;
und dieses Motiv, vom rohesten Aberglauben bis zu der sublimsten christlichen
Spekulation führend. setzt irgendeine Selbständigkeit des Daseins
voraus, an dem sich die Macht bewährt, formend, überwindend, lenkend;
ein Gott, der mit dem Dasein in eine Einheit verschmolzen ist, kann keine Macht
haben, weil er kein Objekt für diese besäße. Es bedarf dieses
Gegenüber zwischen dem Gott und dem Einzelwesen nicht weniger für
das Motiv der Liebe. Wenn die mystische Leidenschaft sich mit ihrem Gotte bis
zur Einheit durchdringen und jede Schranke des Andersseins niederreißen
will, so mag sie mit jedem Schritt zu dieser Vereinigtheit sich weiter, tiefer,
in ihrer Liebe beseligter fühlen — aber in dem Augenblicke der völligen
Erreichtheit würde sie sich im Leeren sehen; denn in dieser absoluten Einheit
würde sie nur sich selbst greifen. Indem die Zweiheit ganz schwände,
wäre auch die Möglichkeit des Gebens und Nehmens, des Liebens und
Geliebtwerdens verschwunden, an die, wie die Seele nun einmal beschaffen ist,
auch die religiöse Seligkeit geknüpft bleibt. Auch wo diese Gefundenhaben
und Besitz ist, klingt die suchende Sehnsucht
noch in irgendeiner seelischen Schicht an oder nach, auch die Ruhe in Gott wird
nur an einer dennoch gefühlten Entferntheit gewonnen. Dieses Gegenüber
aber, das die Liebe und das vor allem die Macht fordert, will sich mit der Absolutheit
des göttlichen Wesens nicht vertragen. Denn jede Selbständigkeit der
Dinge, jedes Nicht-Sein Gottes in ihnen ist eine Grenze seiner Macht, die doch
keine Grenze kennen soll. Ohne den Willen Gottes fällt kein Sperling vom
Dach — das heißt doch nicht, daß er, als ein passiver Zuschauer
des Weltlaufs, nur nichts gegen ihn einzuwenden hat, sondern offenbar, daß
er die wirksame, veranlassende Kraft in jedem Geschehen ist. Da nun aber alle
Dinge in unaufhörlicher Bewegung sind, alle scheinbare Stofflichkeit in
rastlose Oszillationen aufgeht — bleibt denn dann noch etwas, wo er
nicht sei? Wenn die Welt Bewegung ist und er das Bewegende in jeder
Bewegung, so ist die Welt nichts außerhalb seiner. Das Werk, das durch
den Willen eines menschlichen Schöpfers
wird, geht freilich in diesem Willen nicht auf, es ist noch etwas andres als
er selbst; aber doch nur, weil der Mensch ein Sein, ein Material vorfindet,
an dem er wirkt. Wenn Gott aber wirklich allmächtig
ist und alles durch seinen Willen ist,
so ist nichts außerhalb seiner, so ist er das Sein und Werden aller Dinge.
Ganz willkürlich ist es deshalb auch, wenn die verschiedenen Punkte der
Wirklichkeit von seinem Willen in verschiedenem Grade getragen sein sollen,
wenn die Erscheinungen hier und dort den »Finger
Gottes« zeigen, während andere in trotziger Freiheit und »Gottverlassenheit« sich ihm entzögen. Heißt das nicht, die Unterschiede unseres Erkennens,
das Durcheinander von Blindheit und Scharfsichtigkeit unseres Blickes in die
Wirklichkeit hineintragen? Wenn ein Punkt die Erscheinung des göttlichen
Willens ist, so muß jeder andere es ebenso sein. Der strenge gesetzliche
Zusammenhang des Kosmos einerseits, die Einheit Gottes andrerseits verbieten,
daß die Welt in ihren verschiedenen Provinzen ein verschiedenes Verhältnis
zu ihm habe. Wenn der Fall des Sperlings vom Dache der Kraftwille Gottes ist, so ist es die unvermeidliche Konsequenz, daß die Welt völlig
in seiner Einheit befaßt ist, daß es zwischen ihm und ihr nirgends
ein Gegenüberstehn, ein Anderssein geben kann.
Dieser dialektische Prozeß, der den konsequenten Gottesbegriff in den
Pantheismus hinüberentwickelt, bei dem so entwickelten aber nicht stehen
bleiben kann, weil unentbehrliche religiöse Werte an das Gegenüber
und das Sondersein zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch geknüpft sind
— dieser Prozeß durchzieht mit seinen Erschütterungen das Innerste
aller Religionen, die mit der Absolutheit des göttlichen Prinzips Ernst
machen. Vielleicht bedarf es gar nicht einer »Versöhnung« dieses Gegenspieles von Verschmolzenheit und Trennung; vielleicht ist dieses
Von-einem-zum-andern-Getriebenwerden der allein angemessene Ausdruck unseres
Verhältnisses zum Unendlichen, das wir nicht mit einer einreihigen Formel
festzulegen hoffen dürfen. Allein die Vorstellung Gottes, an der diese
Konstellation gewissermaßen ihr anschauliches Symbol findet — ist
seine Persönlichkeit. Denn es ist
doch deren Wesen, daß eine Unbeschränktheit von Inhalten, deren jeder
einzelne eine gewisse Selbständigkeit besitzt, dabei doch als Inhalte oder
Erzeugnisse einer zusammenfassenden Einheit begriffen werden. Das Ich umgreift
jeden seiner Gedanken. Gefühle, Entschlüsse als etwas nur an ihm,
nur in ihm Mögliches und Wirkliches, als einen Pulsschlag seines Seins
— und dennoch steht es jedem dieser Inhalte gegenüber, als ein Nicht-darin-Aufgehendes. Aber auch der Inhalt
geht in ihm nicht auf; denn es beurteilt einen jeden, es akzeptiert oder verwirft ihn, es ist Herr über ihn oder
nicht: das Geborensein aus dem Ich und daß er ein Teil von dessen Leben
ist, ist jenes eigentümliche Zugehörigkeitsverhältnis, das eine
Distanz und Freiheit nicht hindert. Wenn schon im körperlichen Leben das
Glied dem ganzen Organismus anders verbunden ist, enger und freier, als der
Teil eines mechanisch-starren Systems dem Ganzen — so spannen sich diese
Gegensätzlichkeiten innerhalb des Psychischen noch mit ganz andrer Energie.
Je mehr wir uns als Persönlichkeit fühlen, als desto unabhängiger wissen wir unser Ich von jedem
einzelnen Inhalt, desto weniger reißt irgendeiner es mit, aber desto selbständiger
steht auf dieser Ausbildungsstufe auch jeder einzelne Inhalt in seinem logischen
und ethischen, seinem dynamischen und historischen Rechte dem Ich gegenüber,
in dessen sonst bestimmtes Gesamtschicksal nicht hineingezogen. Und doch: je
mehr wir Persönlichkeit sind, desto mehr färben wir die Gesamtheit
unserer Inhalte mit der Färbung unseres Ich, desto charakteristischer ist
jeder als zu uns gehörig erkennbar, desto souveräner ist dieses Ich
nicht nur im Sinne der Unabhängigkeit von jedem einzelnen, sondern auch
im Sinne der Herrschaft darüber. Alle »Persönlichkeit« hat dieses Doppel- und Gegenspiel zwischen dem einzelnen Element und dem einheitlichen
Ganzen in sich; sie unterscheidet sich damit völlig von äußerlich
verwandt aussehenden Erscheinungen, wie dem Staat; denn, wie omnipotent er sei,
der Staat kann immer nur gewisse Teile der Gesamtexistenz seiner Bürger umgreifen. An der Existenzform der zur
Persönlichkeit gestalteten Seele scheitern alle sonst gewohnten logischen
Kategorien: wie hier das einzelne seelische Element dem Ich wurzelhaft einwohnt
und das Ich in dem Innerlichsten von jenem lebt, und wie doch beide einander
gegenüberstehen, um alle Mannigfaltigkeit von Nähe und Distanz, Kontrast
und Verschmelzung zu erfahren — das kann eigentlich nicht beschrieben,
sondern nur erlebt werden; und dazu gibt es in unsrer historischen Vorstellungswelt
nur die eine Analogie: eben jenes, für die Logik so problematische Verhältnis
zwischen Gott und Welt. Daß die Gleichzeitigkeit von Gegenüberstehn
und Einssein, die das religiöse Bewußtsein dauernd erlebt, kein Widersinn
ist, dafür besitzen wir gleichsam ein Pfand in dem Erlebnis der Persönlichkeit.
Jenem Doppelverhältnis gemäß muß Gott, wenn man ihn überhaupt denken will, als Persönlichkeit
gedacht werden: als die Einheit und Lebendigkeit des Daseins, die ihre einzelnen
Produkte sich gegenübersieht, Macht über sie übend, aber in gewissen
Intervallen doch ihrer Selbständigkeit nicht Herr, in jedem einzelnen lebend
und es doch wie in einer Distanz haltend, die zwischen Fremdheit oder Abfall
und innigstem Verschmolzensein unendliche Stufen zeigt. Indem Persönlichkeit Zentrum und Peripherie oder: einheitliche
Ganzheit und Teile und jenes einzigartige Verhältnis zwischen
ihnen bedeutet — ist die Persönlichkeit Gottes nicht der Widerspruch
gegen den Pantheismus, sondern nur gleichsam der lebendig
gewordene Pantheismus selbst.
So wenig wie die erste Bestimmung der Persönlichkeit: die geschlossene
Wechselwirkung der Elemente, in ihrer Übertragung auf das göttliche
Prinzip ein Anthropomorphismus war, so wenig ist es diese zweite. Denn mögen
wir auch die in gleichzeitiger Umfassung und Sonderung bestehende Relation zwischen
dem Ganzen und dem Einzelnen nur in uns selbst erleben, so ist sie doch ihrem
Sinne nach eine allgemeine, gar nicht an ein bestimmtes Dasein geknüpfte
Wesensform überhaupt, die in sehr verschiedenen Vollkommenheitsmaßen
realisiert sein kann, eine Kategorie, unter die wir die unmittelbare Tatsache
unsres Daseins bringen, um es anschauen und ausdrücken zu können.
Ein Anthropomorphismus des Göttlichen liegt nur vor, wo ein aus der menschlichen
Erfahrung und Existenz als solcher hervorgegangener und an diese prinzipiell
gebundener Begriff auf das Transzendente übertragen wird. Wenn aber umgekehrt
ein Begriff seinem Sinn nach über der menschlichen Existenz steht, ein
Ideelles und gleichsam Absolutes, durch das diese Existenz, mehr oder weniger
an ihm teilhabend, erst gedeutet wird — so haben wir an dieser Art von
Begriffen grade die einzige berechtigte Möglichkeit, das Göttliche
als ihre Vollendung, als die Realisierung
ihrer absoluten Bedeutung zu denken. Man mag den Glauben an das Göttliche,
als ein Seiendes, grundsätzlich ablehnen; aber es seiner Idee nach, geglaubt
oder nicht, als Persönlichkeit zu bezeichnen, ist keineswegs eine Vermenschlichung
seiner. Sondern es ist, eher umgekehrt, die Unterordnung des menschlichen Ich
unter den ganz allgemeinen Begriff einer Existenzart, von der jenes nur ein
einzelnes, eingeschränktes Beispiel, Gott aber die absolute, dem Weltganzen
gegenüber sich vollziehende Erfüllung bieten kann.
Endlich kann man dieses Wesensbild der Persönlichkeit noch in einer andern,
sozusagen gesammelteren Form anschauen. Als die entscheidende Charakteristik
des persönlichen Geistes erscheint mir sein inneres Sich-selbst-Trennen
in Subjekt und Objekt, das eines und dasselbe ist, seine Fähigkeit, zu
sich selbst so Ich zu sagen, wie zum Andern Du, sein Selbstbewußtsein,
mit dem er die Funktion seiner selbst
zum Inhalt seiner
selbst macht. Mit dem Selbstbewußtsein hat das Leben sich in sich gebrochen
und hat sich wiedergefunden; Womit natürlich nur ein schlechthin einheitlicher
Akt für den Ausdruck in eine zeitliche Folge auseinandergezogen ist. Das
ist die Grundtatsache, wenn man will: das Grundwunder des Geistes, das macht
ihn zum persönlichen, daß er, in seiner Einheit verbleibend, sich
dennoch sich selbst gegenüberstellt; die Identität des Wissenden und
des Gewußten, wie sie im Wissen um das eigne Sein, um das eigne Wissen
vorliegt, ist ein Urphänomen, das sich ganz
jenseits des mechanisch-numerischen Gegensatzes von Einheit und Zweiheit stellt.
Der Weg des Lebens, wo jeder spätere Augenblick des Wesens von seinem früheren
lebt, ein andrer und doch ein Leben in
beiden, wo Erzeugte das Erzeugende
fortsetzt, ein andres und doch irgendwie dasselbe — dieser zeitlich
erstreckte Weg hat sich im Selbstbewußtsein zurückgebogen oder findet
in ihm seine zeitlose Grundform. Was den Organismus im Tiefsten vom Mechanismus
unterscheidet: daß eine Vielheit in ihm zur Einheit zusammengefaßt
ist oder daß eine Einheit sich in ein nach Raum und Zeit vielheitliches
Leben entfaltet, ist in dem Wesen des persönlichen Geistes, dem
Bewußtsein von sich selbst, wie in einem Punkt gesammelt. Denn »Wechselwirkung«,
die das Wesen des Lebendigen und des Geistes überhaupt war, hat in dem
Selbstbewußtsein — darin, daß das Subjekt sein eigenes Objekt
ist — gleichsam seine absolute Gestalt gewonnen.
Hiermit scheint auch die Form am reinsten ausgedrückt zu sein, in der die
Einheit des göttlichen Wesens symbolisiert wird. Von religionsgeschichtlicher
Seite ist behauptet worden, es hätte noch niemals einen ganz reinen Monotheismus
gegeben. Es scheint, als ob das göttliche Prinzip eine Tendenz zur Spaltung
— und sei es auch nur, daß Seraphim oder »Geister« ihm zur Seite stünden — unvermeidlich in sich trüge. Und seine
vollkommenste Einheit, wie sie im Pantheismus und teilweise in der Mystik empfunden
wird, ist zugleich seine vollkommenste Auflösung in die Vielheit der realen
Erscheinungen. Damit scheint mir eine Annäherung an den Persönlichkeitsbegriff
gegeben zu sein, der freilich hier besonders vorsichtig vor Anthropomorphismus
bewahrt werden muß. Das Selbstbewußtsein, mit dem das Denken, in
seiner Einheit verbleibend, sich in sich spaltet, um sein eignes Objekt zu werden,
ist die Grundtatsache des Denkens überhaupt und sein gesammeltster Typus,
seine reinste und sicherste Form, gewissermaßen der Vorentwurf für
jedes Denken eines Einzelinhaltes. Die große Dunkelheit des Denkens: wie
es, als ein in sich verbleibender Prozeß, doch einen Gegenstand haben könne, wie es mit der reinen Subjektivität seines Ablaufes doch
ein ihm Gegenüberstehendes in sich einziehen könnte — ist dadurch
aufgehellt, daß es dieses Insich und Außersich, diese Geschlossenheit
und den Einschluß des Gegenüber schon, als Selbstbewußtsein,
in sich selber hat, daß die Identität von Subjekt und Objekt die
Form seines eignen Lebens ist. Damit zeichnet es, hier freilich nur innerhalb
der Kategorie des menschlichen Denkens, die Idealform jener Spaltung, die das
göttliche Prinzip erfährt, ohne darum doch — und mit steigender
religiöser Entwicklung immer weniger — seine metaphysische Einheit
einbüßen zu dürfen. So geht durch die ganze religionsphilosophische
Spekulation das Motiv vom »Selbstbewußtsein
Gottes«, das aber sehr oft nur ein andrer Ausdruck oder eine Deutung
der »Persönlichkeit Gottes« ist.
Das göttliche Prinzip ist nicht
als Einheit schlechthin zu denken, weil
diese für unsere Vorstellungsmöglichkeiten steril ist; es steht, wenn
es innerhalb dieser gedacht werden soll, unter demselben kategorialen Problem
wie die selbstbewußte Persönlichkeit: sich in sich selbst zu trennen
und damit ein Gegenüber zu gewinnen, das Bewegung, Wirksamkeit, Leben ist,
und doch in der eignen Einheit beschlossen bleibt — mag man dies nun mit
spekulativer Fantasie zu einer Art immanenten Pantheon ausgestalten, wie etwa
die christliche Dreieinigkeit, oder zu einem Pantheismus, für den der Reichtum
des Weltprozesses nichts Anderes ist, als diese Ausspannung der göttlichen
Einheit zu ihrem eignen Objekt, wie es die Mystik Spinozas andeutet: unsre
Liebe zu Gott wäre ein Teil der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt.
Dieser Begriff der Persönlichkeit aber fordert, um nicht in eine Vermenschlichung
des Göttlichen hineinzugleiten, eine sehr hohe Abstraktion. Grade ihr letztbetonter
Sinn scheint ganz und gar an den Geist gebunden; auf dessen Begriff aber kann
das göttliche Prinzip nicht eingeschränkt werden. Denn Gott als Geist
zu bezeichnen ist nur ein auf den Kopf gestellter Materialismus, wie dieser
eine Festlegung des Absoluten auf eine bestimmte Substanz. Vielmehr, wenn Persönlichkeit
von Gott gelten soll, so muß sie als eine so allgemeine Form gefasst
werden, daß das geistige Selbstbewußtsein, das uns allein empirisch
zugängig ist, nur als ein Sonderfall darunter gehört. Die einzige
Art, in der wir von einem Subjekte erfahren können, das sein eignes Objekt
ist, ist freilich ein solches Selbstbewußtsein des Geistes. Aber von diesem
besondern Substrat muß jene Form gelöst werden, wenn sie einem absoluten
Wesen, einem, in dem das Dasein seine Totalität hat, zukommen soll. Wir
können uns eine nähere Vorstellung, die dieses begrifflich Geforderte
anschaulich machte, nicht bilden. Wenn es aber eine unerläßliche
Vorstellung von dem göttlichen Wesen ist: daß es, über die tote
Einheit hinaus, ein Gegenüber haben muss, ein Andres, mit dem es ein
lebendig Wechselwirkendes sei, dieses Andre und Gegenüber aber seine Einheit
nicht durchbrechen darf, sondern es in dieser ganzen »selbstseligen«
oder die Welt bedeutenden Relation doch immer es selbst bleiben, also Subjekt
und Objekt eiti Identisches sein müsse — so ist dies freilich die
Form der Persönlichkeit, aber durchaus nicht die menschliche. Kein Anthropomorphismus
trägt hiermit die menschliche Beschränktheit auf die bloße Bewußtseinsart
der einheitlichen Zweiheit in Gott hinein, sondern
umgekehrt, »Persönlichkeit« ist
die völlig formale, wenn man will: abstrakte Bestimmtheit, deren Realisierung
in dieser Abstraktheit nur einem absoluten Wesen zukommen kann, während
eine unvollkommenere, einseitig-geistige Stufe davon Sache unsres Lebens ist.
Richtig verstanden mag man deshalb sagen: Gott ist nicht
der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen.
Damit ist das Prinzip noch einmal bezeichnet, das diese Untersuchung geleitet
hat. Für die Realitäten unsres Lebens gewinnen wir Ordnung und Wertung
von einem Komplex von Ideen her, deren
Bewusstsein freilich sich psychogenetisch aus dem zufälligen und fragmentarischen
Zustand des empirischen Lebens erhebt, die aber ihrem Sinne nach eine ideelle
Selbständigkeit und eine geschlossene Vollkommenheit besitzen, von der
unsre menschlichen Existenzinhalte — gleichsam durch einen Subtraktionsakt
— ihre Bezeichenbarkeit, ihr Maß, ihre Sonderform entlehnen. Ob
und inwieweit dies geschieht, ist eine Frage der Tatsächlichkeit, die in
die Feststellung jener Kategorien, in die Zusammenhänge ihres Sinnes, in
ihre logische und normative Bedeutung nicht eingreift. Insoweit nun ein göttliches
Wesen seinem Inhalte, seinem Was nach gedacht werden soll, so kann nichts Andres,
als jene Ideen, aber in ihrer Absolutheit oder Reinheit, in Frage kommen. Nicht
um einen Gradunterschied kann es sich
handeln, so daß Gott mehr Macht, mehr Gerechtigkeit,
mehr Vollkommenheit hätte, als der Mensch; solche quantitative Steigerung
nimmt ersichtlich ihren Ausgangspunkt vom Menschen und ist Antropomorphismus.
Sondern für den Gläubigen ist er die Idee der Macht, der Gerechtigkeit,
der Vollkommenheit in der Form des Seins, sein Inhalt ist unmittelbar dasjenige,
was über dem relativen Dasein des Menschen als seine ideelle Kategorie
steht, als die reine Bedeutsamkeit, von der sein relatives, unvollkommnes, gemischtes
Leben immerhin seine Bedeutung und seine Form bekommt.
Ich müsste mich sehr täuschen, wenn dieses Verhalten nicht in
allem entwickelteren religiösen Wesen als ein Moment bestünde, das
freilich nur in logischen Paradoxen aussagbar ist: nicht daß Gott über
dem Menschen stehe ist das Wesentliche, sondern daß der Mensch unter Gott
steht; jenes ist sozusagen das Selbstverständliche, aus diesem aber erst
quillt die religiöse Lebensempfindung und Aufgabe des Menschen. In der
Relation: Gott und Mensch — ist nur das zweite Glied etwas Relatives,
das erste aber ein Absolutes — eben die Realität jenes Ideellen,
mit dem der Mensch der Relativität seines Wesens Gestalt, Grad und Sinn
zumißt. Ob diese Realität geglaubt wird oder nicht, das hat die Religion,
aber nicht die Religionsphilosophie auszumachen; sie kann nur von dem reden,
was dem religiösen Menschen — wiederum mit logischer Paradoxie —
oft genug sekundär ist: von dem Was des göttlichen Prinzips, nicht
von seinem Daß. Meine Aufgabe war es, an dem Begriff der Persönlichkeit,
grade weil er so entschieden von unten, vom Menschlichen her gebildet scheint,
die Schicht aufzuzeigen, in der für unser Denken die Bestimmungen einer
göttlichen Wesensheit allein liegen können. Der Persönlichkeitsbegriff
muß nur in seinem Kern und seiner Reinheit gefaßt werden, um sich
jener Ordnung zugehörig zu zeigen, die ihren Sinn nicht von dem Unteren
her bezieht, sondern umgekehrt dieses zu Sinn und Form bringt und über
den besonderen menschlichen Gestaltungsinhalten ungefähr so steht, wie
für den Gläubigen das Sein Gottes über dem Sein des Menschen.
so unabhängig aber ist dieses von jenem, aus so andern Quellen der Seele
und der sachlichen Ordnungen gespeist, daß die Religionsphilosophie sehr
wohl behaupten kann: Gott ist Persönlichkeit —
ohne im Geringsten zu behaupten oder auch nur behaupten zu dürfen: Gott
ist. In dieser Schicht sich haltend, steht sie jenseits der illegalen
Spekulation: denn diese will ein Sein ersinnen.
Sie begnügt sich nicht mit ihrem Heimatsrecht in der ideellen Ordnung der Inhalte eines Seins, das als solches nur
aus ganz andern Quellen fließen kann. Solange die Religionsphilosophie
sich von dem unlautern Wettbewerb mit der Religion fernhält, hat sie das
Recht des Gemäldes, das die innere Logik, den Sinn der Einzelheiten und
Zusammenhänge anschaulicher Welt darlegt, die durch die Kunstform von ihrer
zufälligen Wirklichkeit geschieden sind; die Spekulation aber gleicht dem
Panorama, das mit Mitteln, wie sie zwar für den Bau jener ideellen Welt,
aber nicht für den der Wirklichkeit —im Sinne der Empirie wie im
Sinne des Glaubens — zureichen, dennoch den Versuch macht, die Zeugungskräfte
dieser letzteren zu ersetzen.
Enthalten in: Georg Simmel, Philosophische Kultur.
Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne (Zur Religionsphilosophie,
S.166-180)
Gesammelte Essais. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Verlag Klaus
Wagenbach Berlin (WAT 324)
Auch enthalten in: Georg Simmel, Aufsätze und
Abhandlungen 1909 – 1918 Band 1 . Gesamtausgabe Band 12 (S.290ff.) suhrkamp
taschenbuch wissenschaft stw 812
Religiöses
Erleben als formende Kategorie
Aus: Die Religion (in der Sammlung: Die Gesellschaft, hsg. von Buber), 2. Aufl.,
Frankfurt a. M., Rütten & Loening, 1912 S. Uff.
Es ist eine längst triviale Wendung, daß Religion nichts anderes
ist als eine gewisse Übertreibung empirisch-seelischer,
von unseren Naturzusammenhängen ressortierender Tatsachen. Der weltschaffende
Gott erscheint als eine Hypertrophie [übermäßige
Vergrößerung] des Kausaltriebes, das religiöse
Opfer als eine Fortsetzung der erfahrenen Notwendigkeit, für jedes Erwünschte
einen Preis daranzugeben, die Furcht vor Gott als die
Zusammenfassung und vergrößernde Spiegelung der Übergewalt,
die wir fortwährend von der physischen Natur erfahren. Nur die vollkommenste
Oberflächlichkeit kann noch an dieser Hypothese Halt machen. Handelte es
sich wirklich nur um ein Mehr solcher sinnlich gebundenen Erfahrbarkeiten, so
wäre eben, daß es zu diesem Mehr kommt, aus dem sinnlich-empirischen
Verhältnis selbst doch nicht zu begreifen; so daß diese Reduktion
das eigentliche Problem gerade unterschlägt. Dieses fordert vielmehr die
Wendung: daß die religiösen Kategorien schon
zum Grunde liegen, das Material von vornherein
mitwirksam gestalten müssen, wenn dieses als religiös bedeutsam empfunden
werden, wenn sich aus ihm religiöse Gebilde ergeben sollen.
Nicht das Empirische wird zum Religiösen übertrieben, sondern das
im Empirischen liegende Religiöse wird herausgestellt. Wie die Gegenstände
der Erfahrung eben dadurch erkennbar sind, daß die Formen und Normen der
Erkenntnis zu ihrer Bildung aus dem bloßen Sinnesmaterial gewirkt haben;
wie wir deshalb z. B. das Kausalgesetz aus unseren Erfahrungen abstrahieren
können, weil wir unsere Erfahrungen von vornherein ihm gemäß,
das sie überhaupt erst zu »Erfahrungen«
macht, geformt haben, - so sind die Dinge religiös bedeutsam und
steigern sich zu transzendenten Gebilden, weil
und insofern sie von vornherein unter der religiösen Kategorie aufgenommen
sind und diese ihre Bildung aufgenommen hat, bevor sie
bewußt und vollständig als religiös gelten.
Wenn wirklich Gott als Weltschöpfer dem Fortsetzungszwang
der Ursachenreihe entspringt, so liegt das religiöse, zum Transzendenten
aufstrebende Element schon gleich in den niederen Stufen des Kausalprozesses.
Einerseits freilich verbleibt dieser innerhalb der konkreten Erkenntnis
und verbindet ein gegebenes Glied mit dem nächsten; allein außerdem
bringt der rastlose Rhythmus dieser Bewegung einen Ton von Unbefriedigung an
allem Gegebenen mit sich, von Degradierung jedes einzelnen zu verschwindender
Nichtigkeit in einer unermeßlichen Kette,
- kurz, ein Klang aus der religiösen Tonart schwebt
von vornherein in der Kausalbewegung mit. Es ist die gleiche Gedankenbewegung,
die je nach der Schicht, in der wir sie verlaufen lassen, je nach den Gefühlsakzenten,
mit denen wir sie ausstatten, auf eine Welt erkennbarer Natur oder auf einen
im Transzendenten liegenden Punkt hinausgeht.
Gott als Weltursache bedeutet, daß aus diesem,
von vornherein in einer religiösen Kategorie verlaufenden
Prozesse sein innerer Sinn gleichsam auskristallisiert ist, wie das abstrakte
Kausalgesetz bedeutet, daß aus dem Kausalprozeß, soweit er unter
die Kategorie des Erkennens erfolgt, seine Formel extrahiert ist. Niemals würde
die endlose Fortsetzung der Ursachenreihe, wie sie die empirisch erkennbare
Welt ordnet, zu einem Gotte aufgestiegen sein, niemals
wäre von ihr allein aus der Sprung in die religiöse Welt zu begreifen,
- wenn eben diese Reihe nicht zugleich auch unter der Ägide des religiösen
Empfindens ablaufen könnte, wofür dann der weltschaffende Gott
der abschließende Ausdruck ist, die Substanz, in der die an einer Seite
und im Sinn jenes Prozesses lebende Religiosität sich niederschlagen kann.
Leichter durchschaubar ist es, wie unsere Gefühlsverbindung mit der äußeren
Natur sich unter dem religiösen Zeichen entwickeln kann, und wie diese
Entwickelung sich in dem Gegenstand der Religion gleichsam sich selbst gegenüberstellt.
Die Natur um uns erregt uns bald zu ästhetischem Genießen, bald zu
Schreck und Grauen und der Empfindung des Erhabenen ihrer Obergewalt - jenes,
indem uns auf einmal durchsichtig und zugängig erscheint, was wir eigentlich
als ein Fremdes und ewiges Gegenüber fühlen,
dieses, indem das bloß Physische und uns als solches ganz Indifferente
und Verständliche eine schreckhaft undurchdringliche
Dunkelheit annimmt -, bald zu jenem schwer analysierbaren Grundgefühl,
das ich nur als Erschütterung schlechthin zu bezeichnen wüßte:
wenn wir plötzlich im Tiefsten ergriffen und bewegt
werden, nicht durch außergewöhnliche Schönheit oder Erhabenheit
der Naturerscheinung, sondern oft durch einen Sonnenstrahl, der ein Laub durchstreift,
oder durch die Biegung eines Astes im Winde, durch irgend etwas scheinbar gar
nicht besonders Ausgezeichnetes, das wie durch eine geheime Konsonanz mit unserem
Wesensgrunde diesen in leidenschaft¬lichen Eigenbewegungen schwingen läßt.
Alle diese Empfindungen können verlaufen, ohne über ihre unmittelbare
Zuständlichkeit hinauszugreifen, also ohne jeden religiösen Wert;
sie können diesen aber auch annehmen, ohne ihren Inhalt irgendwie zu ändern.
Wir fühlen bei solchen Erregungen manchmal eine gewisse Spannung oder einen
Schwung, eine Demut oder Dankbarkeit, ein Ergriffensein, als spräche durch
ihren Gegenstand eine Seele zu uns, - welches alles nur als religiös zu
bezeichnen ist. Dies ist noch nicht Religion; aber es ist derjenige Vorgang,
der Religion wird, indem er sich ins Transzendente fortsetzt, ein eigenes Wesen
zu seinem Objekt werden läßt und von diesem sich selbst zurückzuempfangen
scheint. Was man als den teleologischen Gottesbeweis
bezeichnet hat: daß die Schönheit, Formung,
Ordnung der Welt auf eine zweckmäßig bauende absolute Macht hinwiese,
- ist nichts als die logische Gestaltung dieses religiösen Prozesses.
Gewisse Empfindungen der Natur gegenüber werden eben außer in der
rein subjektiven oder der ästhetischen oder metaphysischen Kategorie auch
in der religiösen erlebt; und wie der empirische Gegenstand für uns
den Schnittpunkt bedeutet, in dem eine Anzahl sinnlicher Eindrücke sich
treffen, beziehungsweise bis zu dem hin sie verlängert werden, so ist der
Gegenstand der Religion ein solcher Punkt, in dem Gefühle
wie die angedeuteten ihre Einheit finden, indem sie sich gleichsam aus
sich heraussetzen. Sie lassen ihn aus sich zusammenrinnen, und weil er so das
Produkt ihrer aller ist, scheint er dem einzelnen gegenüber den Ausstrahlungspunkt
der religiösen Linien, ein zuvor bestehendes Sein darzustellen. Das
an Weltinhalten formend betätigte religiöse Leben ist an ihm zu einer
eigenen religiösen Substanz geworden.
Religiöses
Erleben als metaphysische Tatsache
Aus: Das Problem der religiösen
Lage in dem Sammelband Weltanschauung, Philosophie und Religion, Berlin, Reichl
& Co., 1911, S. 333 ff.
Sie (die Aufklärung) schließt: entweder
gibt es »in der Realität« ein
Metaphysisches, Transzendentes, Göttliches außerhalb
des Menschen; oder, wenn der wissenschaftliche Geist eine solche Realität
nicht gestattet, so ist der Glaube daran eine subjektive
Phantastik, die rein psychologisch erklärt werden muß. Wenn
diese Alternative das Metaphysische, psychologisch nicht Herleitbare zu widerlegen
meint, so ist sie irrig. Denn es gibt ein drittes:
vielleicht ist dieser Glaube, diese seelisch gegebene Tatsache selbst etwas
metaphysisches! - insofern nämlich darin ein Sein lebt und sich
ausdrückt, jenes religiöse Sein, dessen Sinn und Bedeutung von dem
Inhalt, den der Glaube ergreift oder erzeugt, völlig unabhängig ist.
Wenn der Mensch ein metaphysisch-göttliches, alle
empirische Einzelheit übersteigendes Gebilde sich gegenüberstellt,
so projiziert er damit nicht immer und nicht nur seine psychologischen Emotionen:
Furcht und Hoffnung, Überschwang und Erlösungsbedürfnis aus sich
heraus; er projiziert damit auch dasjenige, was in ihm
selbst metaphysisch ist, in ihm selbst jenseits aller empirischen Einzelheit
liegt ...
Natürlich ist die Vergottung des Menschen
ebenso abzulehnen wie die Vermenschlichung Gottes,
denn mit beiden geschieht ein nachträgliches, gewaltsames
Zusammenbiegen von Instanzen, die innerhalb ihrer Ebene sich unvermeidlich gegenüberstehen
müssen. Aber man kann von vornherein unter ihren Dualismus heruntergreifen,
indem man in oder gleichsam unter dem Glauben der Seele, mit dem zugleich sein
Gegenstand entsteht, ihr religiöses Sein als das absolute jenseits dieser
Relation empfindet, als verschont von dem Gegensatz: Subjekt-Objekt. Wie die
Vorstellung des Räumlichen, die wir in unserem Bewußtsein finden,
nicht etwa erst den Schluß gestattet: also gäbe es auch außerhalb
des Bewußtseins eine reale Raumeswelt; wie vielmehr, wenn Kant recht hat,
jene Vorstellung selbst schon alles das ist, was wir räumliche Realität
nennen - so garantiert die subjektive Religiosität nicht etwa das Vorhandensein
eines metaphysischen Seins oder Wertes außerhalb ihrer, sondern sie ist
selbst und unmittelbar ein solcher, sie, als eine Wirklichkeit,
bedeutet schon all das Überweltliche, all die Tiefe, Absolutheit und Weihe,
die an den religiösen Gegenständen verloren scheint.
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie,
5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise –
Berlin 1925
Zur Metaphysik
des Todes
Die Kultur des innersten Lebens steht in jedem Zeitalter in enger Wechselwirkung
mit der Bedeutung, die es dem Tode zuschreibt. Wie wir das Leben auffassen und
wie wir den Tod auffassen — das sind nur zwei Aspekte eines einheitlichen
Grundverhaltens. Die hier gebotenen Überlegungen, obgleich bemüht,
ihre Abstraktionen aus ganz verschiedenen Todesbegriffen zu gewinnen, mögen
in der Methode dieser Bemühung ein Beispiel dafür sein, wie eine der
augenblicklichen Kulturlage entsprungene Denkweise sich zu diesen Problemen
stellt.
Die gestaltende
und formgebende Funktion des Todes für das Leben
Den unorganischen Körper scheidet vor Allem dies von dem lebendigen: daß
ihm seine begrenzende Form von außen bestimmt wird — sei es in dem
äußerlichsten Sinne, daß er aufhört, weil ein anderer
anfängt, sich seiner Expansion entgegenstellt, ihn biegt oder bricht; oder
sei es durch molekulare, chemische oder physikalische Einflüsse, wie etwa
die Form des Felsens durch Verwitterung, die der Lava durch Erstarren fixiert
wird. Der organische Körper aber gibt sich seine Gestalt von innen her;
er hört auf zu wachsen, wenn die mit ihm geborenen Formkräfte an ihre
Grenze gekommen sind; und dauernd bestimmen diese die besondere Art seines Umfanges.
Die Bedingungen seines Wesens überhaupt sind auch die seiner erscheinenden
Form, während für den unorganischen Körper die letzteren außerhalb
seiner selbst wohnen.
Das Geheimnis der Form liegt darin, daß sie Grenze ist; sie ist das Ding
selbst und zugleich das Aufhören des Dinges, der Bezirk, in dem das Sein
und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind. Und das organische Wesen ist, anders
als das unlebendige, zu dieser Grenzsetzung keines zweiten bedürftig. Nun
aber ist seine Grenze nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Dadurch,
daß das Lebendige stirbt, daß das Sterben mit seiner Natur selbst
(gleichviel ob aus begriffener oder noch nicht begriffener Notwendigkeit heraus)
gesetzt ist, bekommt sein Leben eine Form — in der freilich der quantitative
und der qualitative Sinn sich anders mischt als in der räumlichen. Die
Einsicht in die Bedeutung des Todes hängt durchaus daran, daß man
sich von der »Parzen«-Vorstellung befreie, in der sein gewöhnlicher
Aspekt sich ausdrückt: als würde in einem bestimmten Zeitmoment der
Lebensfaden, der sich bis dahin als Leben und ausschließlich als Leben
fortgesponnen, mit einem Male »abgeschnitten«; als setzte der Tod
dem Leben seine Grenze in demselben Sinn, in dem der unorganische Körper
dadurch räumlich zu Ende ist, daß ein anderer, mit dem er von sich
aus gar nichts zu tun hat, sich gegen ihn schiebt und ihm seine Form —
als »Aufhören« seines Seins — bestimmt. Den meisten Menschen
erscheint so der Tod als eine dunkle Prophezeiung, die über ihrem Leben
schwebt, aber doch erst in dem Augenblick ihrer Verwirklichung irgend etwas
mit dem Leben zu tun haben wird, wie über dem Leben des Ödipus die,
daß er irgend wann einmal seinen Vater erschlagen wird. In Wirklichkeit
aber ist der Tod von vornherein und von innen her dem Leben verbunden.
Ich lasse die biologische Strittigkeit bei Seite: ob die einzelligen Wesen unsterblich
sind, da sie sich nur in mehrere, wieder ganz und gar lebendige Wesen teilen
und niemals, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, eine Leiche hinterlassen,
so daß der Tod nur eine, bei den vielzelligen Organismen zu dem Leben
hinzugetretene Erscheinung wäre — oder ob auch von jenen ein Teil
oder die ganze Körpersubstanz schließlich zu Grunde geht. Hier gehen
uns nur diejenigen Wesen an, die eben sterben und deren Leben darum in keiner
weniger innigen Verbindung mit dem Tode steht, weil die Lebensform anderer Wesen
diese Bedingtheit von vornherein nicht besitzt. Ebenso wenig wird das Abgestimmtsein
unseres Lebens auf den Tod und seine durchgängige Bestimmtheit durch ihn
von der Tatsache widerlegt, daß das normale Leben eine Zeitlang aufwärtsschreitet,
immer mehr und sozusagen immer lebendigeres Leben wird; erst nach einem höchsten
Punkt seiner Entwicklung, — der gewissermaßen dem Tode ferner zu
sein scheint als jeder frühere — beginnen die ersten Zeichen des
Abwärtsgehens.
Allein jenes voller und stärker werdende Leben steht doch in einem Gesamtzusammenhang,
der auf den Tod angelegt ist. Auch ohne daß , wie seit dem beginnenden
Härterwerden der Gefäße, der Tod gleichsam
pro rata in ihm feststellbar wäre, würde es doch ein anderes
sein, wenn es nicht in jener eindeutig auf den Tod zugehenden Reihe stünde.
Wie die Ursache eines Erfolges in diesem doch nicht substanziell, in ihrem Eigenbestand
und Eigenform fortzubestehen braucht, ein erstes Gebilde vielmehr die qualitativ
völlig andere Bestimmtheit eines zweiten zur Wirkung haben kann, so kann,
in anderer Richtung gesehen, der Tod dem Leben von vornherein einwohnen, ohne
daß er, oder gleichsam ein Partikelchen von ihm, in jedem einzelnen Momente
schon als Wirklichkeit feststellbar wäre. Aber in jedem einzelnen Momente
des Lebens sind wir solche,
die sterben werden, und er wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene,
in ihm irgendwie wirksame Bestimmung wäre. So wenig wir in dem Augenblick
unserer Geburt schon da sind, fortwährend vielmehr irgend etwas von uns
geboren wird, so wenig sterben wir erst in unserem letzten Augenblicke.
Dies erst macht die formgebende Bedeutung des Todes klar. Er begrenzt, d. h.
er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales
Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt: die Begrenztheit des
Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden seiner Inhalte und Augenblicke vor;
die Qualität und Form eines jeden wäre eine andere, wenn er sich über
diese immanente Grenze hinauserstrecken könnte. Es gehört zu
den ungeheuren Paradoxien des Christentums, dem Tod diese apriorische Bedeutung
zu nehmen, das Leben von vornherein unter den Gesichtspunkt
seiner eigenen Ewigkeit zu stellen. Und zwar nicht nur als eine an den
letzten irdischen Augenblick sich anschließende Verlängerung des
Lebens; sondern von der gesamten Reihe der Lebensinhalte hängt das ewige
Geschick der Seele ab, ein jeder setzt seine ethische Bedeutung als Bestimmungsgrund
unserer transzendenten Zukunft in das Unendliche fort
und durchbricht damit die ihm einwohnende Begrenztheit. Der Tod kann
hier als überwunden gelten, nicht nur weil das Leben, als eine durch die
Zeit erstreckte Linie, über die Formgrenze seines Endes hinausreicht, sondern
auch weil es den durch alle Einzelmomente des Lebens hin wirkenden und sie innerlich
begrenzenden Tod vermöge der ewigen Konsequenzen eben dieser Momente verneint.
Und auch für den umgekehrt gerichteten Blick erscheint
der Tod als der Gestalter des Lebens. Die gegebene Stellung der Organismen
innerhalb ihrer Welt ist die, daß sie sich in jedem Augenblick nur durch
irgendwelche Anpassung — im weitesten Sinne des Wortes — am Leben
erhalten können. Das Versagen dieser Anpassung bedeutet den Tod. Ebenso
wie jede automatische oder willkürliche Bewegung als der Drang nach Leben,
nach Mehr-Leben gedeutet werden kann, ebenso kann sie es als die Flucht vor
dem Tode. Jede unserer Bewegungen findet in dieser Hinsicht ihr Symbol an der
arithmetischen Größe, die ebenso durch Addition von unten her, wie
durch Subtraktion von oben her zustande gebracht werden kann. Oder vielleicht
ist das Wesen unserer Aktivität eine für uns selbst geheimnisvolle
Einheit, die wir, wie soviel andere, nur durch Zerlegung in Lebenseroberung
und Todesflucht erfassen können. Jeder Schritt des Lebens zeigte sich nicht
nur als eine zeitliche Annäherung an den Tod, sondern als durch ihn, der
ein reales Element des Lebens ist, positiv und a priori geformt. Und diese Formung
wird also nun grade durch die Abwendung vom
Tode mitbestimmt, dadurch, daß Erwerb und Genuß, Arbeit und Ruhe,
und all unsere andern, naturhaft betrachteten Verhaltungsweisen — instinktive
oder bewußte Todesflucht sind. Das Leben, das wir
dazu verbrauchen, uns dem Tode zu nähern, verbrauchen wir dazu, ihn zu
fliehen. Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf
entgegengesetzten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird
der Boden, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen. Und diese
Doppelrichtung ihres Bewegtseins bestimmt ihren jeweiligen Standort im Raume.
Das Verhältnis
zwischen Leben und Tod
Diese Formung des Lebens in seinem ganzen Verlaufe
durch den Tod ist bisher sozusagen etwas Bildhaftes, das von sich aus noch nicht
zu irgend welchen Schlüssen vordringt; es handelte sich nur darum, die
gewöhnliche Vorstellung, die den Tod nur, gleichsam unorganisch, als den
lebenbeendigenden Parzenschnitt ansieht, durch die organischere zu ersetzen,
für die er ein formendes Moment des kontinuierlichen Lebensverlaufes von
Anfang an ist; ohne daß der Tod wäre, auch jenseits seiner ungemischten
Sichtbarkeit in der Todesstunde, wäre das Leben ganz und gar und unausdenkbar
anders. Mag man aber seine enbiotische Verbreitung als eine Vorwirkung oder
Vorschattung des singulären Todesereignisses, mag man sie als eine autochthone
Formung oder Färbung jedes Lebensmomentes für sich ansehen —
jedenfalls begründet erst sie, zusammen mit jener Akutheit des Todes, gewisse
Reihen metaphysischer Vorstellungen vom Wesen und Schicksal der Seele. Ich scheide
die Modifikationen nicht ausdrücklich von einander, die der eine und die
der andere Sinn des Todes in die folgenden Erwägungen hineinträgt;
es wäre Sache leichten Überlegens, die Anteile jener beiden an diesen
Vorstellungen zu sondern.
Die Hegelsche Formulierung, daß jedes Etwas seinen Gegensatz fordert und
mit ihm zu der höheren Synthese zusammengeht, in der es zwar aufgehoben
ist, aber ebendamit »zu sich selbst kommt« — läßt
ihren Tiefsinn vielleicht nirgends stärker als an dem Verhältnis zwischen
Leben und Tod hervorleuchten. Das Leben fordert von sich aus den Tod, als seinen
Gegensatz, als das »Andere«, zu dem das Etwas wird und ohne das
dieses Etwas überhaupt seinen spezifischen Sinn und Form nicht hätte.
Insoweit stehen Leben und Tod auf einer Staffel des Seins, als Thesis und Antithesis.
Damit aber erhebt sich über sie ein Höheres, Werte und Spannungen
unseres Daseins, die über Leben und Tod hinaus sind und von deren Gegensatz
nicht mehr berührt werden, in denen aber das Leben eigentlich erst zu sich
selbst, zu dem höchsten Sinne seiner selbst kommt. Die Basis dieses Gedankens
ist, daß das Leben, wie es unmittelbar gegeben ist, seinen Prozeß
in voller Ungeschiedenheit von seinen Inhalten abrollt. Diese tatsächliche
Einheit kann nur gelebt werden und ist als solche intellektuell nicht zu bewältigen.
Die Analytik des Verstandes erst zerlegt sie in jene beiden Elemente, ohne daß
die so gezogene Scheidelinie darum einer objektiven Struktur des Gegenstandes
weniger zu entsprechen brauchte, als — freilich in einer anderen Realitätsebene
— die im Gefühle gegebene Einheit des
Erlebens. Die sachliche wie die psychologische Möglichkeit der Scheidung
aber scheint mir, insbesondere für gewisse höchste Werte, nur durch
die Tatsache gegeben, daß ihr Träger, ihr Prozeß, dem Tode
unterworfen ist. Lebten wir ewig, so würde das Leben voraussichtlich mit
seinen Werten und Inhalten undifferenziert verschmolzen bleiben, es würde
gar keine reale Anregung bestehen, diese außerhalb der einzigen Form,
in der wir sie kennen und unbegrenzt oft erleben können, zu denken. Nun
aber sterben wir und erfahren damit das Leben als etwas Zufälliges, Vergängliches,
als etwas, was sozusagen auch anders sein kann. Dadurch erst wird der Gedanke
entstanden sein, daß die Inhalte des Lebens ja das Schicksal seines Prozesses
nicht zu teilen brauchen, erst so wird man auf die von allem Verfließen
und Enden unabhängige, jenseits von Leben und Tod gültige Bedeutung
gewisser Inhalte aufmerksam geworden sein. Erst die Erfahrung vom Tode wird
jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst
haben. Aber gerade mit diesen zeitlos bedeutsamen Inhalten gewinnt das zeitliche
Leben seine eigene reinste Höhe; indem es sie, die mehr sind als es selbst,
in sich aufnimmt oder sich in sie ergießt, kommt das Leben über sich
hinaus, ohne sich zu verlieren, ja, sich eigentlich erst gewinnend; denn erst
so kommt sein Ablauf als Prozeß zu einem Sinn und Wert und weiß
sozusagen, weshalb er da ist. Es muß diese Inhalte erst ideell von sich
sondern können, um sich bewußt zu ihnen zu erheben, und es vollbringt
diese Sonderung im Hinblick auf den Tod, der zwar den Prozeß des Lebens
annullieren, aber die Bedeutung seiner Inhalte nicht angreifen kann.
Wenn diese Scheidung zwischen Leben und Inhalt, die durch den Tod geschieht,
die Inhalte überleben läßt, so tritt derselbe Akzent doch auch
auf die andere Seite der Trennungslinie. Der seelische Lebensprozeß als
ganzer stellt mit steigender Entwicklung das Gebilde immer klarer und stärker
heraus, das man das Ich nennen kann. Es handelt sich um das Wesen und den Wert,
um den Rhythmus und sozusagen den inneren Sinn, die unserer Existenz, als diesem
besonderen Stück der Welt, zukommen; um dasjenige, was wir eigentlich von
vornherein sind und doch wieder im vollen Sinne noch nicht sind. Dieses Ich
steht in einer eigentümlichen, näherer Darstellung noch bedürftigen
Kategorie, die ein Drittes ist, jenseits der gegebenen Wirklichkeit und der
irrealen, bloß geforderten Wertidee. Nun ist aber das Ich am Anfang seiner
Entwicklung, sowohl für das subjektive Bewußtsein, wie in seinem
objektiven Sein, aufs engste mit den Einzelinhalten des Lebensprozesses verschmolzen.
Und wie dieser Lebensprozeß — so sahen wir eben —seine Inhalte
von sich sondert, wie sie eine Bedeutung jenseits ihres dynamisch-realen Erlebtwerdens
erhalten, so entläßt er, gleichsam auf seiner anderen Seite, das
Ich aus sich, das sich, in gewissem Sinn uno actu mit den Inhalten, aus ihm
herausdifferenziert und sich damit auch von den Inhalten, die zunächst
das naive Bewußtsein ausschließlich erfüllen, als eine besondere
Bedeutung und Wert, Existenz und Forderung ablöst. Je mehr wir erlebt haben,
desto entschiedener markiert sich das Ich als das Eine und Kontinuierende in
allen Pendelschwingungen des Schicksals und des Weltvorstellens; und zwar eben
nicht nur in dem psychologischen Sinn, in dem die Wahrnehmung des Gleichen und
Beharrenden in sonst differenten Erscheinungen durch deren numerisches Anwachsen
leichter und unvermeidlicher wird; sondern auch im objektiven Sinne, derart,
daß das Ich sich reiner in sich selbst sammelt, sich herausarbeitet aus
all den fließenden Zufälligkeiten erlebter Inhalte, sich immer sicherer
und von diesen unabhängiger seinem eigenen Sinn und Idee zu entwickelt.
Hier setzt der Unsterblichkeitsgedanke ein. Wie in dem oben erörterten
Fall der Tod das Leben versinken läßt, um die Zeitlosigkeit seiner
Inhalte gleichsam freiwerden zu lassen, so beendet er nun, anders angesehen,
die Erlebnisreihe der bestimmten Inhalte, ohne daß damit die Forderung
des Ich, sich ewig zu vollenden oder weiterzuexistieren — das Gegenspiel
jener Zeitlosigkeit — abgeschnitten wäre. Die Unsterblichkeit, wie
sie die Sehnsucht vieler tieferen Menschen ist, hat den Sinn: daß das
Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der einzelnen Inhalte ganz
vollbringen könnte. Religiöserweise pflegt die Unsterblichkeit
einen anderen Sinn zu haben. Sie gilt hier meistens einem Haben, die Seele will
Seligkeit oder das Schauen Gottes oder vielleicht nur ein Weiterexistieren überhaupt;
oder, bei stärkerer ethischer Sublimiertheit, will sie eine Qualität
ihrer selbst: sie will erlöst sein, oder gerechtfertigt, oder gereinigt.
Aber alles das kommt nicht in Frage gegenüber dem jetzigen Sinn der Unsterblichkeit,
als des Zustandes der Seele, in dem sie nichts mehr erlebt, in dem ihr Sein
sich also nicht mehr an einem Inhalt vollzieht, der in irgend einem Sinn außerhalb
ihrer selbst bestünde. Solange wir leben, erleben wir Objekte, das Ich
hebt sich zwar mit dem Vorschreiten der Jahre und ihrer Vertiefung mehr und
mehr als der reine Prozeß, als das Invariable und Durchhaltende aus allen
Mannigfaltigkeiten der vorüberflutenden Inhalte heraus; aber irgendwie
bleibt es doch jeweilig mit diesen verschmolzen, das Sich-Abheben, das Selbstsein
der Seele bedeutet nur eine asymptotische Annäherung an das Ich, das nicht
an irgend einem Etwas, sondern nur an sich selbst existiere. Wo an Unsterblichkeit
geglaubt wird und jeder materiale Inhalt, dem sie zum Zweck diene, abgelehnt
wird, — sei es als das ethisch nicht hinreichend Tiefe, sei es als das
schlechthin Unwißbare — wo sozusagen die reine Form der Unsterblichkeit
gesucht wird, da wird der Tod wohl als die Grenze erscheinen, jenseits deren
alle angebbaren Einzelinhalte des Lebens vom Ich abfallen und wo sein Sein oder
sein Prozeß ein bloßes Sich-selbst-Gehören, eine reine Bestimmtheit
durch sich selbst ist.
Die Seelenwanderung
Wenn das erste der hier behandelten Motive die Funktion des Todes am und im
Leben zeigte, wenn das zweite seine das Leben zerlegende Rolle aufwies, mit
der er einerseits den objektiven Inhalten, andererseits dem subjektiven Ich
die Reinheit des Fürsichseins gewährt, so steht nun ein drittes Motiv
gewissermaßen zwischen diesen: die Seelenwanderung, die den Tod
zwar in die grenzenlose Existenz der Seele hineinsetzt, ihn aber doch zu der
Zäsur macht, an der jeweilig völlig neue Inhaltsreihen, ja, ein anderes
Ich beginnt. An der Seelenwanderung scheint zunächst die Unsterblichkeit
eine sozusagen begrifflich notwendige Ergänzung zu finden. Denn die Unsterblichkeit
fordert eigentlich die Präexistenz. Daß eine Seele, bloß
weil sie zufällig entstanden ist, auch gleich ins Unendliche weiterleben
sollte, gibt keinen rechten Sinn. Wohl aber ist die Unvernichtbarkeit das angemessene
Korrelat der Unentstandenheit. Das ist
wie mit der »Unsterblichkeit« von Gedanken: der ganz große
Gedanke ist nur wie ein Aktualisieren und Bewußtwerden von etwas, was
die Menschheit von jeher besessen hat, was zu der Erbmasse ihres Wesens, zu
ihrer ewigen Ausstattung gehört. Darin liegt das Überzeugende der
großen Gedanken, auch und insbesondere der nicht wissenschaftlich erweisbaren.
Sie würden nicht so unmittelbar — als hätte man es längst
gewußt und jetzt würde es nur ausgesprochen — und bleibend
wirken, wenn sie nicht in der Struktur der Seele präexistent gewesen wären.
Nur wenn das Leben prinzipiell nicht auf der Form empirischer Begrenztheit ruht,
nicht als ein Einzelnes irdisch entstanden ist, sondern ein bloßer Ausschnitt
aus einer ewigen Existenz ist, ist seine Unsterblichkeit nicht mehr ein unerträglicher
Sprung aus einer Ordnung der Dinge in eine völlig heterogene. Die Seelenwanderung
stellt diese Ewigkeit des Lebens in einer gleichsam prismatischen Brechung in
unzählige, verschieden gefärbte, individuell begrenzte Existenzen
dar. Der Tod ist dann nur das Ende der Individualität, aber nicht des Lebens.
Hiermit aber setzt die Schwierigkeit des Seelenwanderungsgedankens ein. Welches
Leben endet mit dem Tode? Das persönlich-individuelle? Dann
ist es unverständlich, daß die nächste Existenz als die desselben,
unzerstörten Subjekts gelten darf. Wird aber gerade die Persönlichkeit
in allen Wandlungen bewahrt, so dürfte das in dieser Selbigkeit Erhaltene
schwer anzugeben sein, wenn sie jetzt als Fürst, dann als Tiger dann als
Bettler, dann als Schakal wiedergeboren wird. Welcher Inhalt des Seins oder
des Bewußtseins beharrt denn eigentlich, um die Bezeichnung all dieser
Erscheinungen als der Erscheinungen eben desselben Subjekts zu rechtfertigen?
Geschichtlich berichtete Vorstellungsweisen zeigen diese Alternative in polaren
Entgegengesetztheiten. Bei sehr verschiedenen primitiven Völkern herrscht
der Glaube, das neugeborene Kind sei ein wiedergeborener früher Gestorbener.
Bei einem Negervolk werden dem Neugeborenen Sächelchen gezeigt, die verstorbenen
Familienmitgliedern gehört haben. Wird es dann bei einem besonders aufmerksam,
so ist es der wiedergekommene Besitzer dieses. »Es ist Onkel John, er
erkennt seine Pfeife!« Bei den Maoris zählt der Priester dem Neugeborenen
die Namen der Vorfahren auf: bei welchem es niest oder schreit, der ist in ihm
wiedergeboren. Dies ist offenbar die roheste und äußerlichste Form
der Wiederkunft, die man kaum als Seelenwanderung bezeichnen kann, weil es sich
um eine Wiederholung des Gestorbenen in seiner ganzen leiblich-seelischen Wirklichkeit
handelt. Aber es zeigt das äußerste Extrem des
Individualismus, der in vielen Abstufungen eine Form der Seelenwanderung
bildet. Das Extrem der anderen Richtung hat die tiefere Lehre des Buddhismus,
besonders in der neueren Zeit, zu vollem Bewußtsein gebracht. Auf die
ethische Bedenklichkeit der Strafe, mit der die Sünden eines früheren
Ich an einem neuen, das seinerseits gar nicht gesündigt habe, heimgesucht
werden, erwidert der Buddhist: die Frage sei von vornherein falsch gestellt,
da ein Ich, ein sündigendes und ein gestraftes, gar nicht bestehe. Es gäbe
nur Gedanken und Taten, sozusagen naturhaft-unpersönliche, die sich in
einem gegebenen Moment zu einem Aggregat zusammenfinden; an einem späteren
Aggregat, durch kausale Übertragungen mit jenem zusammenhängend, erscheinen
eben die sich fortsetzenden Wirkungen jener früheren Elemente oder Elementzustände.
Sünde und Strafe bestünden also nicht an zwei gesonderten Subjekten,
die durch ein kontinuierendes Ich verbunden wären, sondern verhielten sich
einfach wie ein Geschehen und seine, vielleicht viel spätere, Wirkung,
die sich an zwei subjektlosen Komplexen physisch-psychischer Elemente abspielten.
Auch diese höchste Steigerung der Unpersönlichkeit
gestattet offenbar keine eigentliche Seelenwanderung, weil eine jenseits ihrer
jeweiligen Tuns- und Leidensinhalte stehende Seele von vornherein abgeleugnet
wird und also auch nicht durch mehrere, mit einer Verschiedenheit solcher Inhalte
verknüpfte leibliche Existenzen hindurch beharren kann.
Zwischen diesen beiden Extremen liegen die möglichen Vorstellungen von
Seelenwanderung, deren Arten also durchaus von dem jeweiligen Begriff der »Persönlichkeit«
abhängig sind. Diese muß sich, um als die identische in verschiedenen
Körpern. zu wohnen, aus all den Bestimmungen zurückgezogen haben,
die ihr aus der Verbundenheit der Seele mit der Körperlichkeit kommen.
Aristoteles indes spottet über die Seelenwanderungslehre, die beliebige
Seelen in beliebige Körper eingehen lasse: ebenso gut könne die Zimmermannskunst
in Flöten eingehen; in Wirklichkeit sei diese bestimmte Seele nur diesem
bestimmten Körper verbunden und verbindbar. Dennoch macht selbst die aristotelische
Voraussetzung hierfür: daß die Seele, kurz gesagt, die Lebendigkeit
des lebenden Wesens sei — jene Ablehnung noch nicht unbedingt erforderlich,
und zwar gerade dann nicht, wenn man die Seele als mit der Individualität
des Wesens identisch setzt. Man könnte diese als die Form des seelischen
Verhaltens verstehen, die von jedem Einzelinhalt des seelischen Lebens unabhängig
ist und sich deshalb in den inhaltlich allerverschiedensten seelischen Komplexen
als die identische wiederholen kann. Wie sich diese Individualität, dieser
besondere Rhythmus, Organisiertheit, Färbung, von einem Wesen auf das andere
überträgt, muß freilich dahingestellt bleiben. Die Individualität
ist eine Kategorie, die weder in das Körperhafte noch in das Seelenhafte
aufgeht, ein höheres Drittes, das sich in dem einen wie in dem andern findet
oder der Generalnenner für den Dualismus dieser beiden. Mag Aristoteles
also recht haben, daß dieselbe (d. h. im existentialen Sinne dieselbe)
Seele nicht in verschiedenen Körpern wohnen könne: darum können
doch sehr verschiedenartige Gesamtgebilde, ein jedes körperhaft und seelenhaft,
die Bestimmung, diese und diese Individualität zu sein, mit einander teilen.
So paradox es klingt: ein Fürst und ein Tiger, ein Bettler und ein Schakal
können die gleiche »Individualität« haben. Nicht ein einziger
angebbarer Inhalt ihrer körperlich-seelischen Existenz mag hier oder dort
der gleiche sein; dennoch kann eine Gesamtfärbung, die etwa in der Relation
der Wesenselemente zueinander besteht, in ihnen übereinstimmen. Die Individualität
im Verhältnis zu diesen einzelnen Elementen gleicht dem Werte eines Bruchs,
der der identische sein kann, auch wenn die Faktoren, die ihn bilden, keinerlei
Gleichheit besitzen. Das Übergehen der »Seele« des Fürsten
in den Tiger begegnet vielleicht der Schwierigkeit, die Aristoteles hervorgehoben
hat; aber dennoch kann er als Fürst »dasselbe« sein, was der
Tiger als Tiger ist. Dieses innere Gesetz
des Wesens, das gegen die Materie seiner Verwirklichung indifferent ist, mag
man als seine »Individualität« bezeichnen, und wenn der phantastische
Gedanke der Übertragung einer Wesenheit auf eine völlig anders aussehende
Erscheinung überhaupt akzeptiert werden soll, so brauchte man ihn also
an der Gebundenheit jeder bestimmten Seele an einen bestimmten Körper nicht
scheitern zu lassen. Diese vielmehr völlig zugebend, könnte man ihn
an diese Beziehungsgesetze — deren es unendlich mannigfaltige geben mag
— sei es zwischen Körper und Seele, sei es zwischen den Wesenselementen
überhaupt, knüpfen, an die Individualität, die in keinem dieser
Elemente für sich, auch nicht pro rata, auffindbar ist und doch der Ganzheit
des Wesens ein zwar unverwechselbares, aber wegen seines sozusagen formalen
Charakters auf beliebig differente Materien übertragbares Cachet gibt.
Was den Tod überdauerte, wäre dann nicht die Seele in ihrer historisch-realen
Substanzialität, sondern ein zeitloses Wesensgesetz, das sich bald in diesem,
bald in jenem Wirklichkeitskomplex darstellt und nur die besondre Bestimmung
hätte, daß diese Komplexe nur eine, in der Zeit verlaufende und durch
den Tod der einzelnen Realitäten in Perioden gegliederte Reihe bilden —
wie auch der Prozeß unserer Welt als ganzer eine Individualität besitzt
(nach Raumbedingtheit, Kausalordnung, begrifflichem Gefüge etc.), die sich
auch nur an dem einen Verlauf einer einreihigen
Zeit verwirklicht. Im übrigen fände dieser Gedanke an der empirisch-psychologischen
Wirklichkeit seine Analogie. Die Seele jedes Menschen wandert zwischen Geburt
und Tod durch unabmeßbar viele Schicksale, Stimmungen, extrem entgegengesetzte
Epochen, die, auf ihren Inhalt angesehen, gegeneinander ganz fremde Gesamterscheinungen
bieten. Allein die Individualität des Subjekts läßt sie doch
zu einem einheitlichen Bilde zusammengehen: wie der Stimmklang eines Menschen
derselbe und unverwechselbare bleibt, wie wechselnde Worte er auch spreche,
so bleibt eine Grundfärbung, ein Grundrhythmus, ein Grundverhältnis
für all das, was dieses Leben je erlebt, ein gleichsam apriorisches Formgesetz
seines Tuns und Leidens, das das Zu-Ende-Sein jedes einzelnen Inhaltes überlebt
und, als die Individualität des Ganzen, sich auf den nächsten überträgt.
Hiermit ist das Motiv angedeutet, aus dem heraus auch die Individualität
als Träger der Metempsychose noch abgeworfen werden kann und dieser wunderlichsten
aller Unsterblichkeitslehren ein noch unbeschränkterer Sinn kommen mag
— nicht eigentlich ein teleologischer, der sie dem modernen Menschen irgendwie
plausibel machte, aber doch ein kausaler, der ihrem Entstehen eine sozusagen
ideelle Basis gibt. Die durch viele Körper und Leben wandernde Seele ist
nichts, als die Seele des einzelnen Lebens, »mit großen Buchstaben
geschrieben«; die Seelenwanderung nichts als eine groteske Verbreiterung,
ein Radikal- und Absolutwerden gewisser Erfahrungen des täglichen, relativischen
Lebens. Machen wir uns die Veränderungen klar, die dessen Verlauf zwischen
Geburt und Tod an uns hervorbringen, so scheint deren Spannweite manchmal kaum
geringer, als sie zwischen mancher menschlichen und mancher tierischen Existenz
besteht. Keinem erheblich bewegten Leben wird das gelegentliche Gefühl
mangeln, daß seine Ausschlagspole die Grenzen nicht nur des menschlichen,
sondern des überhaupt ausdenkbaren Daseins berührt haben, daß
es nicht nur Widersprüche — ein solcher enthält noch immer eine
korrelative Zusammengehörigkeit seiner Seiten —, sondern Entferntheiten,
berührungsunfähige Gleichgültigkeiten einschließt, die
am Ende nur von einer rein formalen Lebenseinheit und von der Tatsache umgriffen
sind, daß sich diese Inhalte in einem kontinuierlichen Fließen,
in der zeitlichen Stetigkeit eines Lebensprozesses aneinander reihen. Zunächst
in den Abständen der typischen Entwicklung: das stammelnde Kind, der Mann
auf der Höhe seiner Schaffenskraft, der verfallene Greis — woraufhin
werden diese Erscheinungen als eine Einheit angesprochen, als weil ein Lebensstrom
sie durchfließt, der aber ihren Inhalten keinerlei Einheit und Vergleichbarkeit
zu geben vermag und der, angenommen, die Seelenwanderung bestünde als Tatsache,
sozusagen keine größere Anstrengung, mindestens keine fundamental
anders gerichtete, brauchte, um die noch etwas distanteren Inhalte von Menschlichem
und Tierischem in seine formale Kontinuität aufzunehmen. Zwischen der einen
Geburt und dem einen Tode fühlen wir uns unzählige Male als ein »Andersgewordener«
— körperlich, seelisch, schicksalsmäßig — und fühlen
dabei freilich dieselbe »Seele«, die durch dies alles hindurchgeht,
ohne durch ein Einzelnes in ihrer Beschaffenheit als Seele überhaupt abgefärbt
zu werden; sonst wäre es unbegreiflich, daß sie morgen das genau
entgegengesetzte Einzelne in dasselbe seelische Leben ruft. Es beharrt etwas
in uns, während wir Weise und dann wieder Toren, Bestien und dann wieder
Heilige, Selige und dann wieder Verzweifelte sind. Ein mechanisch bestimmtes
Gebilde freilich ist ein anderes, sobald irgend eine seiner Bestimmungen geändert
ist; denn es besitzt keine reale innere Einheit, die diese zusammenhielte; wird
es, auch wenn seine Bestimmungen nicht mehr die genau identischen sind, aus
begriffstechnischen Gründen noch als »eines« bezeichnet, so
ist es in Wirklichkeit nicht mehr dieses eine,
sondern ein anderes. Aber das lebende, genau genommen nur das beseelte Wesen,
verhält sich anders. Von ihm stellen wir uns vor, daß es auch anders
hätte handeln, bestimmt werden, ja sein können, ohne seine Identität
zu verlieren, weil all dies Angebbare an ihm von einem beharrenden, jenseits
seiner einzelnen Bestimmungen und Aktionen stehenden Ich getragen wird. Damm
kann man vielleicht nur von einem Menschen sagen, daß er hätte ein
anderer sein können, als er ist — während jedes sonstige Wesen
in diesem Falle eben nicht mehr »er« wäre. An diesem Punkte
liegt offenbar die Verknüpftheit des Freiheitsgedankens mit dem Ichgedanken,
durch ihn wird begreiflich, wieso jene Polarität und Fremdheit mannigfaltiger
Stimmungen und Schicksale, Entscheidungen und Gefühle die auseinanderstrebenden
Schwingungen eines Pendels sind, das schließlich an einem unverrückbaren
Punkte hängt.
Sieht man von diesem Bilde unserer Wirklichkeit auf die Seelenwanderung, so
erscheint es in ihr nur wie in einem Vergrößerungsspiegel aufgefangen.
Die rätselhafte Grundtatsache des Lebens, insbesondere des in der Seele
gesammelten: daß ein Wesen immer ein anderes und doch immer dasselbe ist,
wird mit der Seelenwanderung nur in einen gröberen Abstand der Momente
auseinandergezogen. Oder, von dem Glauben an Seelenwanderung her blickend, ist
das einzelne Leben eine Abbreviatur des durch unermeßliche Zeiten und
Formen erstreckten Daseins der Seele, etwa wie man das individuelle Leben als
eine kursorische Darstellung des Gattungslebens gedeutet hat oder wie der einzelne
Tag in den mannigfachen Anklängen von Lust und Leid, den Vibrierungen zwischen
Kraft-und Schwächeempfindungen, der Erfülltheit und Leerheit der Stunden,
den Abwechslungen von Schaffen und Aufnehmen ein Miniaturbild des Gesamtlebens
ist. Die verschiedenen Leiber, durch die die Seele passiert, sind nur wie Materialisationen
und Fixierungen der verschiedenen Zustände, die die Seele, rein als Seele,
in sich erzeugt und erfährt — wie man die Martern der Schattenleiber
in der Danteschen Hölle als die Sinnbilder der Qualzustände interpretiert
hat, die die sündige Seele in ihrer irdischen Existenz durchmacht. Das
Schicksal der Seele zwischen der einzelnen Geburt und dem einzelnen Tode und
das zwischen der ersten Geburt und dem letzten Tode, wie die Seelenwanderungslehren
sie schildern, sind gegenseitig Symbole von einander.
Mit dieser Auffassung des Mythus erscheint als sein tieferer Sinn, daß
er die Absolutheit von Leben und Tod gewissermaßen in eine Relativität
aufhebt. An die Stelle des einmaligen Gegeneinander von beiden, dessen Härte
sozusagen in kein übergreifendes Gesamtbild zu fassen ist, tritt eine einheitliche,
unendliche Existenz, in der Leben und Tod sich wie die Glieder einer Kette verschlingen,
jedes Anfang und Ende des andern, der Tod fortwährend die Existenz abteilend,
formend, überleitend. Die Seelenwanderung wird dem modernen Menschen im
allgemeinen als eine solche Paradoxie, ja, als eine so wüste Phantastik
erscheinen, daß ihre Gefolgschaft unter gebildeten und hochstehenden Volksstämmen,
unter ganz hervorragenden Individuen unserer Kultur schlechthin unbegreiflich
wäre, wenn nicht Instinkte für tiefgelegene Lebensbestimmtheiten in
ihr zu einer, wie auch wunderlichen und über alles Wissen hinausliegenden
Äußerung kämen. Und sollte sich unter diesen Zusammenhängen
auch die zuletzt angedeutete Symbolik befinden, so würde dies an die Erwägung
schließen, von der diese Blätter ausgingen. Wenn es das Schicksal
der Seele ist, unendlich oft zu sterben und in unendlich vielen, immer neuen
Formen zu erstehen, und wenn dies das Symbol des individuellen Lebens ist, dessen
Teile damit nur zu Totalexistenzen verbreitert werden — so erscheint damit
der Tod so in alle diese Teile eingesenkt, wie es unsere ganz anders orientierte
Betrachtung dort ergab. Wenn die Existenzen der ewig wandernden Seele den Tagen
oder Minuten einer von ihren begrenzten Existenzperioden entsprechen, so ist
der Tod jedem Tage und jeder Minute des Tages so als Grenze und Form, als Element
und Bestimmung gegenwärtig, wie er den Rhythmus und die Gestaltung des
Gesamtverlaufes bestimmt und gliedert. In ihrer etwas plumpen und sozusagen
materialistischen Art führt die Seelenwanderung in die beiden Richtungen,
in denen jene Todesvorstellung des »Parzenschnittes« überwindbar
ist: sie entfernt einerseits die Absolutheit des Todes überhaupt aus dem
Leben, das Leben als Ganzes wird zu dem absoluten Begriff, der von dem Wechselspiel
des relativen einzelnen Lebens und des relativen einzelnen Todes konkretisiert
wird, und sie senkt andererseits den Tod in den Lebensverlauf hinein, als das
Gleichnis dafür, daß das Leben sozusagen in jedem Augenblick die
Zäsur des Todes zu überwinden hat, daß er ein positives Moment
des Lebens ist und es ununterbrochen durchflicht und formt. Jenen rohen Symbolen
gleich, mit denen primitive Völker doch die tiefsten narurerkennenden und
metaphysischen Ideen entwickelter Geistigkeit antizipieren, deutet die Seelenwanderung
darauf hin, daß es vielleicht ein Schritt ist, der den Tod zu einem Momente
des Lebens selbst macht und der ihn überwindet, der den Tod schon vor den
Parzenschnitt und das Leben noch hinter ihn verlegt.
Aus: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie
der Kultur, herausgegeben von Georg Mehlis, Band 1, 1910/11, 1. Heft (April),
S.57-70, Tübingen
Auch enthalten in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1909 –
1918 Band 1 . Gesamtausgabe Band 12 (S.81ff.)
suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 812