Georg Simmel (1858 – 1918)

  Deutsch-jüdischer Philosoph und Soziologe, der seit 1914 Professor in Straßburg war. Simmel stand dem Neukantianismus nahe und entwarf eine dialektische Lebens-Metaphysik und pluralistische Ethik. Er ist einer der Begründer der formalen Soziologie. In seiner (späten) Lebensmetaphysik versucht er den Gedanken einer Transzendenz des Lebens in Einklang mit seiner notwendigen Entfremdung und Verdinglichung in Einklang zu bringen und weiter zu entwickeln. Der Tod ist für Simmel die Form des Lebens, weil er dieses begrenzt und somit Raum für die Gestaltung weiterer Entwicklungs-Möglichkeiten schafft. Seine Ethik stellt die singuläre Totalität des Lebens unter die Idee eines individuellen Gesetzes, nach der nicht die Allgemeinheit des Kantschen Sittengesetzes, sondern das Prinzip der kreativen Einzigartigkeit des individuellen Selbstbewusst-Werden-Prozesses (Individuation) die spezifische Moralität begründen soll.

Siehe auch Wikipedia
, Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg

Inhaltsverzeichnis

Die Persönlichkeit Gottes
Religiöses Erleben als formende Kategorie
Religiöses Erleben als metaphysische Tatsache
  Zur Metaphysik des Todes
Die gestaltende und formgebende Funktion des Todes für das Leben
Das Verhältnis zwischen Leben und Tod
Die Seelenwanderung

Die Persönlichkeit Gottes
Die Diskussionen über das Dasein Gottes münden oft in die Erklärung des positiv Behauptenden: er könne zwar nicht angeben, was Gott sei, er glaube oder wisse aber, dass Gott sei. Das ist nicht die Vorstellung der Mystiker, dass Gott »ein Nichts« sei; denn diese will nur von ihm keine einzelne Bestimmung aussagen lassen, die notwendig etwas Einseitiges [subjektive Betrachtunsweise, die nicht alle Seiten und Gesichtspunkte berücksichtigt], Einschränkendes, Ausschließendes ist und damit die Allumfassung [die Existenz aller Dinge und Personen umfassend, einschließend , begrenzend, die es es jemals gab, momentan gibt und zukünftig möglicherweise geben kann] , Alldurchdringung [alle Lebewesen, Dinge, Gegenstände, Sachen durchdringen, in dem die Gottheit in sie eindringt, auf diese Weise in ihnen vorhanden ist und ihre Existenz und Denkfähigkeit ermöglicht und verwirklicht], Absolutheit des göttlichen Prinzips [die ausschließlich nur nur sich selbst bedingengende und sich selbst hervorbringende Einmaligkeit und Einzigartigkeit des göttliche Wesens] verneint; das göttliche »Nichts« des Mystikers bedeutet, dass Gott nichts Einzelnes, aber eben darum das Ganze ist. Jene erste Behauptung aber enthält keineswegs diesen pantheistischen Sinn, sondern die wunderliche Unlogik, die Existenz von Etwas zu behaupten, wovon man durchaus nicht sagen kann, was es denn eigentlich ist. Der Kritiker könnte ohne weiteres einwenden: mit welchem Rechte dieses Etwas Gott genannt werde? Gott sei ein leeres Wort, wenn zwar seine Realität behauptet, aber in keiner Weise aufgezeigt werden könne, was denn nun unter diesem Namen real sei. Der psychologische Grund dieses Verhaltens dürfte der sein: dass der Gottesbegriff für den modernen Menschen durch so viele und heterogene historische Inhalte und Deutungsmöglichkeiten hindurchgegangen ist, daß nur ein mit gar keinem Inhalt mehr festzulegendes Gefühl übrig geblieben ist, etwas viel Allgemeineres, als es der abstrakte Begriff wäre, der etwa das Gemeinsame all jener verschiedenen Bestimmungen des Gottesbegriffes sein könnte. Man kann dies als das Extrem der Gläubigkeit bezeichnen: es wird sozusagen nur geglaubt, die Form des Glaubens als solche ist in der Seele wirksam, ohne daß sein Inhalt noch irgendwie angebbar wäre. Von der Seite des Objekts her ausgedrückt: die Frage oder Tatsache des Seins hat in der Logik des religiösen Bewußtseins die Prärogative gewonnen, die Existenz hat sozusagen ihren Inhalt verschlungen; es ist die Akzentuierung, die zuerst an Parmenides deutlich wurde, für den allein das allumfassende einheitliche Sein ist, während alle Bestimmungen, alles Dies und Das wesenlos und nichtig sind. So haftet hier an dem Sein Gottes alles Interesse, und — so wunderlich es in diesem abstrakten Ausdrucke erscheinen muss— was er ist, verschwindet in dem Abgrund dieses Seins-Gedankens. Diese objektive und jene subjektive Seite hängen zusammen: der Gegenstand des Glaubens ist das Sein. Das Was und Wie macht der Verstand, die Intuition, die Überlieferung aus; aber das gleichsam von diesen fertig gestellte Gebilde bleibt so noch in der Schwebe, in einer ideellen und noch fragwürdigen Begrifflichkeit. Erst der Glaube rückt es in die Festigkeit des Seins, das dem Verstande und der Phantasie mit ihren nur qualitativen und quantitativen Bestimmungen gar nicht ergreifbar ist. Der Glaube ist sozusagen das Sinnesorgan, durch das uns das Sein als solches vermittelt wird.

Dieser enge Zusammenhang, in dem das Sein nur dem Glauben zugängig, der Glaube, genau angesehen, nur auf das Sein gerichtet ist, bezeichnet sozusagen den einen Pol des religiös gerichteten Bewußtseins. An dem andern sammeln sich die seelischen Energien, die die religiöse Welt ihrem Inhalte nach aufbauen, die Bestimmungen des göttlichen Wesens, die Heilstatsachen, die Imperative des Verhaltens. So unbedingt in der Lebenswirklichkeit der Religion natürlich beides unmittelbar Eines ist: die religiösen Inhalte und der Glaube an ihre Wirklichkeit — so treten sie doch in der Analyse, und nicht nur in ihr, auseinander. Denn an ihren Polen stehen sich der religiöse Mensch als solcher und der Religionsphilosoph gegenüber. Für jenen ist der Glaube das Wesentliche, der Inhalt des Glaubens, obgleich er bis zur Selbstopferung für dessen Realität eintritt, ist daneben doch sozusagen etwas Sekundäres; wie sich einerseits an der Gleichgültigkeit vieler tief religiöser Naturen gegen jedes Dogma zeigt, andrerseits an der Abhängigkeit der Dogmen von dem unendlich variablen Zufall der historischen Situation — während das religiöse Sein dieser, so mannigfaltigen Inhalten zugeschworenen Persönlichkeiten zweifellos das wesentlich gleiche ist. Ihr Wirklichkeitsglaube als solcher, als die Form der Religion, ist derselbe, obgleich dessen Inhalte die heterogensten sein mögen. Wenn nun andrerseits diese Inhalte dem Religionsphilosophen zum Gegenstand der Konstruktion, der psychologischen Erklärung, der logischen Kritik werden, so ist ihm insofern gleichgültig, ob sie geglaubt werden und ob sie wirklich sind — wie, mutatis mutandis, der Mathematiker mit den geometrischen Figuren verfährt, unbekümmert darum, ob ihre Gegenbild er in dem realen Raum auffindbar sind und welche Rolle sie und ihre von ihm gefundenen Gesetzlichkeiten in den Prozessen des praktischen Bewußtseins spielen.

Innerhalb dieser Philosophie also verbleibend, der keine religiösen Entscheidungen obliegen, weil sie nur gleichsam immanent über die religiösen Inhalte — ihren Sinn, ihre Zusammenhänge, ihre logische Dignität [Rang, Bedeutung] —, nicht aber über deren Wirklichkeit urteilt — untersuche ich hier den Begriff der »Persönlichkeit« des göttlichen Prinzips. Gegen keinen andern desselben Bezirks vielleicht haben sich die verschiedensten Standpunkte mit so leidenschaftlicher Entschiedenheit gewendet, wie gegen diesen; für die »Aufklärung« ist er ein Beweis, daß es sich in der Religion nur um die Vergöttlichung des Menschlichen handelt, der Pantheismus und die Mystik umgekehrt lehnen ihn als Vermenschlichung des Göttlichen ab. Allein es gibt eine höhere, beiden Kritiken entgehende Perspektive. Mag das Person-Sein des Menschen die Gelegenheitsursache für die psychologische Entstehung des »persönlichen Gottes« sein; aber sein logisches und metaphysisches Fundament ist davon unabhängig.

Was heißt Persönlichkeit? Wie mir scheint: die Erhöhung und Vollendung, die die Form des körperlichen Organismus durch ihre Fortsetzung in das seelische Dasein gewinnt. Der Organismus ist innerhalb des physischen Daseins ein Ausschnitt, dessen Teile in einer engeren Wechselwirkung stehen, als irgend welche Zusammenfassungen solcher Elemente, die wir als unorganische bezeichnen. Das »Leben« kreist innerhalb eines geschlossenen Umfanges, in dem jeder Teil durch jeden bestimmt ist und den wir wegen dieses dynamischen Zusammenhanges als »Einheit« charakterisieren. Keinem Stück des Unorganischen kommt in diesem objektiven Sinne »Einheit« zu. Ein Felsen oder ein Metallklumpen ist »einer« nur im numerischen Sinne, weil er ein Exemplar eines an ihn herangebrachten Begriffes ist; wird er mechanisch gespalten, so ist jeder Teil für sich wieder Felsen oder Metall, das in demselben Sinne Einheit ist, wie vorher das größere — während keiner der Teile eines zerschnittenen Lebewesens in dem Sinne Einheit ist, in dem es vorher das ganze war. Nun aber ist die Geschlossenheit, in der die Elemente des körperlichen Organismus sich gegenseitig Form und Funktion bestimmen, keine vollständige, da das Lebewesen in fortwährenden Austauschverhältnissen mit seinem Milieu steht; aufnehmend und abgebend zeigt es sich einbezogen in ein größeres Ganzes, so daß es als eine Einheit in strengem Sinn, d. h. als ein sich selbst genügendes, aus den Relationen seiner Teile zueinander völlig verständliches Ganzes nicht gelten kann. Indem aber im Organismus die bewußte Seele erwächst, zeigen deren Inhalte nun einen Grad des Zusammenschlusses und der gegenseitigen Bedingtheit, der weit über jene körperliche Einheitlichkeit hinausgeht.

Dies wird von einem fundamentalen Unterschied des Geistigen gegen das Körperliche getragen. Im Körperlichen verschwindet die Ursache in der Wirkung; nachdem diese eingetreten ist, ist jene so abgelöst und gleichgültig geworden, daß nicht einmal ein irgend sichrer Schluß von der Wirkung auf die Ursache möglich ist. Diese Art der Kausalität besteht auch im Geistigen; außer ihr, oder vielleicht genauer: innerhalb ihrer aber noch eine andre, die wir als Erinnerung bezeichnen. Diese bedeutet, daß das frühere Ereignis nicht nur eine Ursache in jenem Sinne ist, d. h. nicht nur sein Energiequantum, seine Richtung, seine Beschaffenheit in die morphologisch vielleicht völlig anders gestaltete Wirkung umsetzt, sondern daß es, in seinem Inhalte, seiner morphologischen Identität sozusagen erhalten, als späteres Ereignis wiederkehrt. Während jede physische Wirkung, wie ich andeutete, prinzipiell durch eine beliebige Anzahl ganz verschiedener Ursachen hervorgerufen werden kann, kann die erinnerte Vorstellung, insofern sie erinnert ist, nur eine einzige Ursache haben: eben die inhaltlich gleiche, in einem früheren Moment bewußt gewesene Vorstellung — vorbehalten natürlich, daß der ganze dazwischen liegende Verlauf und die ganze übrige jetzt kooperierende Verfassung der Psyche es überhaupt zu der Erinnerung kommen läßt. Dies nun ergibt eine ganz einzigartige Konstellation. Während der Zeitverlauf als solcher das Vergangene vergangen sein läßt und ihm nur eine Wirkung auf das Spätere gestattet, die aber dies Spätere nicht zurückgeben und also nicht zu einer Wechselwirkung gestalten kann, hebt die Erinnerung das Vergangene in die Gegenwart und damit in eine relative Gleichgültigkeit gegen den Zeitverlauf.

Nun aber werden Bewußtseinselemente durch Bewußtseinselemente unbedingt beeinflußt, d. h. wir können uns den kontinuierlichen Fluß unsres inneren Lebens nur unter dem Symbol denken, daß dessen Inhalte, in unsrer Abstraktion zu einzelnen, umschriebenen »Vorstellungen« kristallisiert, sieh untereinander modifizieren und so die Gegenwart des Menschen, im großen und ganzen, das Ergebnis seiner Vergangenheit ist. Allein da nun außerdem die Erinnerung das Vergangene zu Gegenwärtigem macht, so wird auch das so in uns lebende Vergangene durch die inzwischen und aktuell eintretenden Vorstellungselemente beeinflußt. Das heißt: die einsinnige, nur vorwärts drängende Kausalität der Zeit wird innerhalb des seelischen Lebens zu einer Wechselwirkung. Da wir in diesem das Vergangene noch als identisch permanierenden Erinnerungsinhalt haben, so geschieht hier das scheinbar Paradoxe, daß die Gegenwart auf die Vergangenheit ebenso wirkt, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart.

In unsrer jeweiligen Bewußtseinslage ist der momentan neu erzeugte Inhalt in der Regel nur ein Minimum, der Hauptsache nach wird sie von erinnerten Vorstellungen gespeist und ihr Gesamtbild ergibt sich aus der Wechselwirkung oder als die Wechselwirkung zwischen diesen letzteren, die gewissermaßen unser ganzes bisheriges Leben repräsentieren, und den aktuell produzierten. So haben wir innerhalb des Bewußtseinsrayons eine Wechselwirkung und also eine organisch-personale Einheit, die unser körperliches Wesen an Geschlossenheit weit übertrifft. Wir werden auch nicht umhin können, die nicht bewußten Vorgänge, auf denen in irgend einer Weise die bewußten ruhen, in dauernden Wechselwirkungen begriffen zu denken. Gewiß ist das Bild der mechanischen Psychologie irrig, das »Vorstellungen« zu Wesen macht, die auf- und absteigen, sich verbinden und sich trennen usw. Ein solches Bild konnte nur so entstehen, daß die logisch ausdrückbaren Inhalte aus dem kontinuierlichen und einheitlichen Fluß des inneren Lebens heraus abstrahiert und mit einer Art von Körper bekleidet wurden, so daß sie nun, gewissermaßen selbständig bestehend, erst ihrerseits dieses Leben zusammenzusetzen scheinen konnten.

Die »Vorstellung« als ein grenzumschriebenes, für sich tätiges oder leidendes Element ist ein reines Mythologem, zu dem die Analogie der physischen Atomistik verführt hat. Dennoch sehe ich vorläufig keinen Weg, diese Doppelheit der Betrachtung des Seelischen zu vermeiden: es ist einmal ein einreihiger, in der dimensionslosen Lebenseinheit abrollender Prozeß — dann aber auch ein Komplex außereinander befindlicher Inhalte, die wir uns in mannigfachen Verhältnissen stehend denken müssen. So wenig wir nun den Symbol- und Projizierungscharakter dieses letzten Bildes vergessen, sowenig wir uns eine »Vorstellung« zwischen ihrem ersten Auftreten und ihrer späteren Reproduktion als tale quale im Unbewußten wie in einem Kühlraum konserviert denken dürfen, wie den Schauspieler, der unsichtbar hinter den Kulissen auf sein Stichwort wartet — so ist doch irgend eine, noch so rätselhafte Art ihres »Beharrens« unumgänglich. Da dieses Beharren nun unzählige Vorstellungen trifft und da keine einzige bei ihrem Wiederauftauchen eine absolute, starre Identität ihres Inhaltes zeigt, so müssen gegenseitige Beeinflussungen und Modifikationen während jenes Latenzzustandes angenommen werden.

Die psychischen Elemente also, die irgendwie jenseits des Bewußtseins in uns bestehen, sind in fortwährenden Wechselwirkungen und schmieden sich dadurch gegenseitig zu der Einheit, die wir Persönlichkeit nennen. Denn diese ist doch nicht ein einfach beharrendes Zentrum, sondern ein Sich-Durchdringen, eine funktionelle Angleichung, ein Übertragen, Sich-Beziehen, Sich-Verschmelzen innerhalb des Umkreises aller Vorstellungsinhalte überhaupt. Im Gegensatz also zu dem isoliert betrachteten seelischen Elemente, das als solches gleichsam unlokalisiert und nicht untergebracht erscheint, erwächst unsre »Persönlichkeit« als das Geschehen, das wir mit dem Formsymbol der Wechselwirkung unter allen Elementen bezeichnen.

Wir wären also formal vollkommene Persönlichkeiten, wenn diese Wechselwirkung eine vollkommen geschlossene wäre und jedes seelische Geschehen seine Veranlassung ausschließlich in eben diesem Umkreis hätte. Allein das ist nicht der Fall. Wir sind auch mit unserer Psyche, wie mit unsrem Körper, in die uns äußere Welt verwebt; es finden Wirkungen in ihr statt, die nicht aus ihr allein zu erklären sind, und es scheint auch, als ob gewisse ihrer inneren Vorgänge nach außen verliefen und sich nicht mit ihrer ganzen Wirkungsmöglichkeit in den psychischen Verlauf weitererstreckten. So wenig wir mit unsrem Körper den reinen Begriff des Organismus erfüllen, so wenig mit unsrer Seele den der Persönlichkeit. Mag dieser Begriff also auch psychologisch in der Erfahrung über uns selbst entstanden sein: seinem Sinne nach ist er »eine Idee«, eine Kategorie, die kein empirisches Einzelwesen ganz erfüllt. Schon daß unser Dasein einen zeitlichen Verlauf als seine Form hat, daß es sich deshalb »erinnern« muß, um seine Inhalte zu einer, immer fragmentarischen, Wechselwirkung zu bringen —verhindert jene Einheit der Inhalte, mit der wir Persönlichkeit im absoluten Sinne sein würden. Wie nun die Idee des Organismus sich nur an einer einzigen Vorstellung restlos realisiert: an der des Weltganzen, da dieses allein, seinem Begriffe nach, nichts außer sich hat, das die vollkommene, in sich geschlossene Wechselwirkung all seiner Elemente durchbrechen könnte — so ist der Begriff Gottes die eigentliche Realisierung der Persönlichkeit. Denn für ihn, wie die metaphysisch abgeschlossene Religiosität ihn denkt, besteht keine »Erinnerung« in der menschlich-zeitlichen Form, die immer ihr Gegenteil, das Vergessen, in sich enthält. Für ihn besteht keine Vergangenheit, die ihre Inhalte nur in Bruchstücken an die Wechselwirkung seines aktuellen Zustandes überlieferte; wer sich nicht erst zu »erinnern« braucht, für den gibt es keine Zeit, dem fällt nicht die Ganzheit und Einheit seines Seins in das Brüchige und Lückenhafte der zeitlichen Distraktion.

Was man die »Ewigkeit« Gottes, sein Enthobensein aus der Zeitbedingtheit genannt hat, ist die Form, in der sein absolutes Persönlich-Sein möglich ist. Er wird durch dieses nicht vermenschlicht, sondern er bezeichnet gerade das, woran der Mensch nicht hinanreicht: die absolute Verknüpftheit und Selbstgenügsamkeit des ganzen Daseinsgehaltes. Ein Wesen, das der Teil eines Ganzen ist, wie der Mensch, kann nie vollkommene Persönlichkeit sein, weil es sich von außen speist und nach außen abgibt, - was in der Form des Nebeneinander eben dasselbe ist, was die Angewiesenheit unsrer Existenz auf die Erinnerung in der Form des Nacheinander ist: kein Moment jener wirklich in sich geschlossen, ein jeder auf Vergangenheit und Zukunft angewiesen und so keiner wirklich ganz er selbst. Es ist ganz irrig, daß der Gott in dem Maße Persönlichkeit sei, in dem der Mensch ihn in seiner Eingeschränktheit hinabzieht. Denn gerade das, was den Menschen einschränkt, daß er nur der Teil eines Ganzen ist. statt selbst ein Ganzes, und daß sein Dasein keine gesammelte Einheit ist, weil es in zeitliche und nur durch die Erinnerung verknüpfte Momente distrahiert ist - eben das verhindert sein ganz eigentliches Persönlichkeit-Sein. Gerade in dem Maße, in dem die Idee Gottes ein wirkliches Ganzes und ein zeitloses Ein-für-alle-Mal, eine absolute Verbundenheit aller seiner Daseinsmomente ist, in dem Maße also, in dem er über den Menschen hinausreicht, erfüllt er den Begriff der Persönlichkeit. Wie wir schon unsre eigene unvollkommene Einheit zu dem Ich verdichten, das sie in rätselhafter Weise trägt, so kristallisiert die wirkliche Einheit des Weltseins zu einer restlosen Ichform, zu der absoluten Persönlichkeit. Wenn man etwa sagt: der Gott als Persönlichkeit ist die Persönlichkeit als Gott - so ist das wohl wahr; nur daß dies nicht die kleine Persönlichkeit des Menschen ist, sondern gerade die große der Welt, die das jener versagte Ideal der Persönlichkeitsbestimmungen verwirklicht und damit der religiösen Empfindung entgegenkommt. Indem diese Empfindung sozusagen der Form des Alls gilt, jenseits seiner von ihr zusammengehaltenen Einzelheiten, ist ihr Gegenstand der Gott, zu dem dieser Sinn des Ganzen zusammenwächst.

Noch einmal sei betont: ob dieser Gott objektiv existiert oder auch subjektiv geglaubt wird, hat mit dieser rein ideellen Bestimmung seines Begriffes nichts zu tun, für die Sein oder Nichtsein nicht die Frage ist. Jedenfalls aber wird mit ihr die Alternative zwischen der pantheistischen und der personalistischen Auffassung des göttlichen Prinzips auf eine neue Basis gestellt. Macht man mit dem Begriff der Persönlichkeit Ernst — so daß sie nicht die Beschränktheit unseres Seins ist, sondern gerade das, woran unser Sein nur in beschränktem Maße teil hat, was wir gerade als beschränkte Wesen nicht sind — so kann es sich nur an einem absoluten Wesen realisieren, an einem, das entweder mit der Totalität der Welt Eins ist, substantia sive Deus, oder an einem, das sozusagen das Totalitätsmoment der Welt bedeutet ... Allein der pantheistische Gedanke macht noch weiterhin Probleme und Widersprüche im Gottesbegriff sichtbar, für die dessen Persönlichkeitsform Lösung gibt.

Die Bedeutung des göttlichen Prinzips knüpft sich in dem weit überwiegenden Teil aller Religionsgeschichte daran, daß der Gott dem Gläubigen und seiner Welt gegenübersteht. Der Gott, dem man sich gibt, ist vor allem der mächtige; und dieses Motiv, vom rohesten Aberglauben bis zu der sublimsten christlichen Spekulation führend. setzt irgendeine Selbständigkeit des Daseins voraus, an dem sich die Macht bewährt, formend, überwindend, lenkend; ein Gott, der mit dem Dasein in eine Einheit verschmolzen ist, kann keine Macht haben, weil er kein Objekt für diese besäße. Es bedarf dieses Gegenüber zwischen dem Gott und dem Einzelwesen nicht weniger für das Motiv der Liebe. Wenn die mystische Leidenschaft sich mit ihrem Gotte bis zur Einheit durchdringen und jede Schranke des Andersseins niederreißen will, so mag sie mit jedem Schritt zu dieser Vereinigtheit sich weiter, tiefer, in ihrer Liebe beseligter fühlen — aber in dem Augenblicke der völligen Erreichtheit würde sie sich im Leeren sehen; denn in dieser absoluten Einheit würde sie nur sich selbst greifen. Indem die Zweiheit ganz schwände, wäre auch die Möglichkeit des Gebens und Nehmens, des Liebens und Geliebtwerdens verschwunden, an die, wie die Seele nun einmal beschaffen ist, auch die religiöse Seligkeit geknüpft bleibt. Auch wo diese Gefundenhaben und Besitz ist, klingt die suchende Sehnsucht noch in irgendeiner seelischen Schicht an oder nach, auch die Ruhe in Gott wird nur an einer dennoch gefühlten Entferntheit gewonnen. Dieses Gegenüber aber, das die Liebe und das vor allem die Macht fordert, will sich mit der Absolutheit des göttlichen Wesens nicht vertragen. Denn jede Selbständigkeit der Dinge, jedes Nicht-Sein Gottes in ihnen ist eine Grenze seiner Macht, die doch keine Grenze kennen soll. Ohne den Willen Gottes fällt kein Sperling vom Dach — das heißt doch nicht, daß er, als ein passiver Zuschauer des Weltlaufs, nur nichts gegen ihn einzuwenden hat, sondern offenbar, daß er die wirksame, veranlassende Kraft in jedem Geschehen ist. Da nun aber alle Dinge in unaufhörlicher Bewegung sind, alle scheinbare Stofflichkeit in rastlose Oszillationen aufgeht — bleibt denn dann noch etwas, wo er nicht sei? Wenn die Welt Bewegung ist und er das Bewegende in jeder Bewegung, so ist die Welt nichts außerhalb seiner. Das Werk, das durch den Willen eines menschlichen Schöpfers wird, geht freilich in diesem Willen nicht auf, es ist noch etwas andres als er selbst; aber doch nur, weil der Mensch ein Sein, ein Material vorfindet, an dem er wirkt. Wenn Gott aber wirklich allmächtig ist und alles durch seinen Willen ist, so ist nichts außerhalb seiner, so ist er das Sein und Werden aller Dinge. Ganz willkürlich ist es deshalb auch, wenn die verschiedenen Punkte der Wirklichkeit von seinem Willen in verschiedenem Grade getragen sein sollen, wenn die Erscheinungen hier und dort den »Finger Gottes« zeigen, während andere in trotziger Freiheit und »Gottverlassenheit« sich ihm entzögen. Heißt das nicht, die Unterschiede unseres Erkennens, das Durcheinander von Blindheit und Scharfsichtigkeit unseres Blickes in die Wirklichkeit hineintragen? Wenn ein Punkt die Erscheinung des göttlichen Willens ist, so muß jeder andere es ebenso sein. Der strenge gesetzliche Zusammenhang des Kosmos einerseits, die Einheit Gottes andrerseits verbieten, daß die Welt in ihren verschiedenen Provinzen ein verschiedenes Verhältnis zu ihm habe. Wenn der Fall des Sperlings vom Dache der Kraftwille Gottes ist, so ist es die unvermeidliche Konsequenz, daß die Welt völlig in seiner Einheit befaßt ist, daß es zwischen ihm und ihr nirgends ein Gegenüberstehn, ein Anderssein geben kann.

Dieser dialektische Prozeß, der den konsequenten Gottesbegriff in den Pantheismus hinüberentwickelt, bei dem so entwickelten aber nicht stehen bleiben kann, weil unentbehrliche religiöse Werte an das Gegenüber und das Sondersein zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch geknüpft sind — dieser Prozeß durchzieht mit seinen Erschütterungen das Innerste aller Religionen, die mit der Absolutheit des göttlichen Prinzips Ernst machen. Vielleicht bedarf es gar nicht einer »Versöhnung« dieses Gegenspieles von Verschmolzenheit und Trennung; vielleicht ist dieses Von-einem-zum-andern-Getriebenwerden der allein angemessene Ausdruck unseres Verhältnisses zum Unendlichen, das wir nicht mit einer einreihigen Formel festzulegen hoffen dürfen. Allein die Vorstellung Gottes, an der diese Konstellation gewissermaßen ihr anschauliches Symbol findet — ist seine Persönlichkeit. Denn es ist doch deren Wesen, daß eine Unbeschränktheit von Inhalten, deren jeder einzelne eine gewisse Selbständigkeit besitzt, dabei doch als Inhalte oder Erzeugnisse einer zusammenfassenden Einheit begriffen werden. Das Ich umgreift jeden seiner Gedanken. Gefühle, Entschlüsse als etwas nur an ihm, nur in ihm Mögliches und Wirkliches, als einen Pulsschlag seines Seins — und dennoch steht es jedem dieser Inhalte gegenüber, als ein Nicht-darin-Aufgehendes. Aber auch der Inhalt geht in ihm nicht auf; denn es beurteilt einen jeden, es akzeptiert oder verwirft ihn, es ist Herr über ihn oder nicht: das Geborensein aus dem Ich und daß er ein Teil von dessen Leben ist, ist jenes eigentümliche Zugehörigkeitsverhältnis, das eine Distanz und Freiheit nicht hindert. Wenn schon im körperlichen Leben das Glied dem ganzen Organismus anders verbunden ist, enger und freier, als der Teil eines mechanisch-starren Systems dem Ganzen — so spannen sich diese Gegensätzlichkeiten innerhalb des Psychischen noch mit ganz andrer Energie. Je mehr wir uns als Persönlichkeit fühlen, als desto unabhängiger wissen wir unser Ich von jedem einzelnen Inhalt, desto weniger reißt irgendeiner es mit, aber desto selbständiger steht auf dieser Ausbildungsstufe auch jeder einzelne Inhalt in seinem logischen und ethischen, seinem dynamischen und historischen Rechte dem Ich gegenüber, in dessen sonst bestimmtes Gesamtschicksal nicht hineingezogen. Und doch: je mehr wir Persönlichkeit sind, desto mehr färben wir die Gesamtheit unserer Inhalte mit der Färbung unseres Ich, desto charakteristischer ist jeder als zu uns gehörig erkennbar, desto souveräner ist dieses Ich nicht nur im Sinne der Unabhängigkeit von jedem einzelnen, sondern auch im Sinne der Herrschaft darüber. Alle »Persönlichkeit« hat dieses Doppel- und Gegenspiel zwischen dem einzelnen Element und dem einheitlichen Ganzen in sich; sie unterscheidet sich damit völlig von äußerlich verwandt aussehenden Erscheinungen, wie dem Staat; denn, wie omnipotent er sei, der Staat kann immer nur gewisse Teile der Gesamtexistenz seiner Bürger umgreifen. An der Existenzform der zur Persönlichkeit gestalteten Seele scheitern alle sonst gewohnten logischen Kategorien: wie hier das einzelne seelische Element dem Ich wurzelhaft einwohnt und das Ich in dem Innerlichsten von jenem lebt, und wie doch beide einander gegenüberstehen, um alle Mannigfaltigkeit von Nähe und Distanz, Kontrast und Verschmelzung zu erfahren — das kann eigentlich nicht beschrieben, sondern nur erlebt werden; und dazu gibt es in unsrer historischen Vorstellungswelt nur die eine Analogie: eben jenes, für die Logik so problematische Verhältnis zwischen Gott und Welt. Daß die Gleichzeitigkeit von Gegenüberstehn und Einssein, die das religiöse Bewußtsein dauernd erlebt, kein Widersinn ist, dafür besitzen wir gleichsam ein Pfand in dem Erlebnis der Persönlichkeit. Jenem Doppelverhältnis gemäß muß Gott, wenn man ihn überhaupt denken will, als Persönlichkeit gedacht werden: als die Einheit und Lebendigkeit des Daseins, die ihre einzelnen Produkte sich gegenübersieht, Macht über sie übend, aber in gewissen Intervallen doch ihrer Selbständigkeit nicht Herr, in jedem einzelnen lebend und es doch wie in einer Distanz haltend, die zwischen Fremdheit oder Abfall und innigstem Verschmolzensein unendliche Stufen zeigt. Indem Persönlichkeit Zentrum und Peripherie oder: einheitliche Ganzheit und Teile und jenes einzigartige Verhältnis zwischen ihnen bedeutet — ist die Persönlichkeit Gottes nicht der Widerspruch gegen den Pantheismus, sondern nur gleichsam der lebendig gewordene Pantheismus selbst.

So wenig wie die erste Bestimmung der Persönlichkeit: die geschlossene Wechselwirkung der Elemente, in ihrer Übertragung auf das göttliche Prinzip ein Anthropomorphismus war, so wenig ist es diese zweite. Denn mögen wir auch die in gleichzeitiger Umfassung und Sonderung bestehende Relation zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen nur in uns selbst erleben, so ist sie doch ihrem Sinne nach eine allgemeine, gar nicht an ein bestimmtes Dasein geknüpfte Wesensform überhaupt, die in sehr verschiedenen Vollkommenheitsmaßen realisiert sein kann, eine Kategorie, unter die wir die unmittelbare Tatsache unsres Daseins bringen, um es anschauen und ausdrücken zu können. Ein Anthropomorphismus des Göttlichen liegt nur vor, wo ein aus der menschlichen Erfahrung und Existenz als solcher hervorgegangener und an diese prinzipiell gebundener Begriff auf das Transzendente übertragen wird. Wenn aber umgekehrt ein Begriff seinem Sinn nach über der menschlichen Existenz steht, ein Ideelles und gleichsam Absolutes, durch das diese Existenz, mehr oder weniger an ihm teilhabend, erst gedeutet wird — so haben wir an dieser Art von Begriffen grade die einzige berechtigte Möglichkeit, das Göttliche als ihre Vollendung, als die Realisierung ihrer absoluten Bedeutung zu denken. Man mag den Glauben an das Göttliche, als ein Seiendes, grundsätzlich ablehnen; aber es seiner Idee nach, geglaubt oder nicht, als Persönlichkeit zu bezeichnen, ist keineswegs eine Vermenschlichung seiner. Sondern es ist, eher umgekehrt, die Unterordnung des menschlichen Ich unter den ganz allgemeinen Begriff einer Existenzart, von der jenes nur ein einzelnes, eingeschränktes Beispiel, Gott aber die absolute, dem Weltganzen gegenüber sich vollziehende Erfüllung bieten kann.

Endlich kann man dieses Wesensbild der Persönlichkeit noch in einer andern, sozusagen gesammelteren Form anschauen. Als die entscheidende Charakteristik des persönlichen Geistes erscheint mir sein inneres Sich-selbst-Trennen in Subjekt und Objekt, das eines und dasselbe ist, seine Fähigkeit, zu sich selbst so Ich zu sagen, wie zum Andern Du, sein Selbstbewußtsein, mit dem er die Funktion seiner selbst zum Inhalt seiner selbst macht. Mit dem Selbstbewußtsein hat das Leben sich in sich gebrochen und hat sich wiedergefunden; Womit natürlich nur ein schlechthin einheitlicher Akt für den Ausdruck in eine zeitliche Folge auseinandergezogen ist. Das ist die Grundtatsache, wenn man will: das Grundwunder des Geistes, das macht ihn zum persönlichen, daß er, in seiner Einheit verbleibend, sich dennoch sich selbst gegenüberstellt; die Identität des Wissenden und des Gewußten, wie sie im Wissen um das eigne Sein, um das eigne Wissen vorliegt, ist ein Urphänomen, das sich ganz jenseits des mechanisch-numerischen Gegensatzes von Einheit und Zweiheit stellt. Der Weg des Lebens, wo jeder spätere Augenblick des Wesens von seinem früheren lebt, ein andrer und doch ein Leben in beiden, wo Erzeugte das Erzeugende fortsetzt, ein andres und doch irgendwie dasselbe — dieser zeitlich erstreckte Weg hat sich im Selbstbewußtsein zurückgebogen oder findet in ihm seine zeitlose Grundform. Was den Organismus im Tiefsten vom Mechanismus unterscheidet: daß eine Vielheit in ihm zur Einheit zusammengefaßt ist oder daß eine Einheit sich in ein nach Raum und Zeit vielheitliches Leben entfaltet, ist in dem Wesen des persönlichen Geistes, dem Bewußtsein von sich selbst, wie in einem Punkt gesammelt. Denn »Wechselwirkung«, die das Wesen des Lebendigen und des Geistes überhaupt war, hat in dem Selbstbewußtsein — darin, daß das Subjekt sein eigenes Objekt ist — gleichsam seine absolute Gestalt gewonnen.

Hiermit scheint auch die Form am reinsten ausgedrückt zu sein, in der die Einheit des göttlichen Wesens symbolisiert wird. Von religionsgeschichtlicher Seite ist behauptet worden, es hätte noch niemals einen ganz reinen Monotheismus gegeben. Es scheint, als ob das göttliche Prinzip eine Tendenz zur Spaltung — und sei es auch nur, daß Seraphim oder »Geister« ihm zur Seite stünden — unvermeidlich in sich trüge. Und seine vollkommenste Einheit, wie sie im Pantheismus und teilweise in der Mystik empfunden wird, ist zugleich seine vollkommenste Auflösung in die Vielheit der realen Erscheinungen. Damit scheint mir eine Annäherung an den Persönlichkeitsbegriff gegeben zu sein, der freilich hier besonders vorsichtig vor Anthropomorphismus bewahrt werden muß. Das Selbstbewußtsein, mit dem das Denken, in seiner Einheit verbleibend, sich in sich spaltet, um sein eignes Objekt zu werden, ist die Grundtatsache des Denkens überhaupt und sein gesammeltster Typus, seine reinste und sicherste Form, gewissermaßen der Vorentwurf für jedes Denken eines Einzelinhaltes. Die große Dunkelheit des Denkens: wie es, als ein in sich verbleibender Prozeß, doch einen Gegenstand haben könne, wie es mit der reinen Subjektivität seines Ablaufes doch ein ihm Gegenüberstehendes in sich einziehen könnte — ist dadurch aufgehellt, daß es dieses Insich und Außersich, diese Geschlossenheit und den Einschluß des Gegenüber schon, als Selbstbewußtsein, in sich selber hat, daß die Identität von Subjekt und Objekt die Form seines eignen Lebens ist. Damit zeichnet es, hier freilich nur innerhalb der Kategorie des menschlichen Denkens, die Idealform jener Spaltung, die das göttliche Prinzip erfährt, ohne darum doch — und mit steigender religiöser Entwicklung immer weniger — seine metaphysische Einheit einbüßen zu dürfen. So geht durch die ganze religionsphilosophische Spekulation das Motiv vom »Selbstbewußtsein Gottes«, das aber sehr oft nur ein andrer Ausdruck oder eine Deutung der »Persönlichkeit Gottes« ist. Das göttliche Prinzip ist nicht als Einheit schlechthin zu denken, weil diese für unsere Vorstellungsmöglichkeiten steril ist; es steht, wenn es innerhalb dieser gedacht werden soll, unter demselben kategorialen Problem wie die selbstbewußte Persönlichkeit: sich in sich selbst zu trennen und damit ein Gegenüber zu gewinnen, das Bewegung, Wirksamkeit, Leben ist, und doch in der eignen Einheit beschlossen bleibt — mag man dies nun mit spekulativer Fantasie zu einer Art immanenten Pantheon ausgestalten, wie etwa die christliche Dreieinigkeit, oder zu einem Pantheismus, für den der Reichtum des Weltprozesses nichts Anderes ist, als diese Ausspannung der göttlichen Einheit zu ihrem eignen Objekt, wie es die Mystik Spinozas andeutet: unsre Liebe zu Gott wäre ein Teil der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt.

Dieser Begriff der Persönlichkeit aber fordert, um nicht in eine Vermenschlichung des Göttlichen hineinzugleiten, eine sehr hohe Abstraktion. Grade ihr letztbetonter Sinn scheint ganz und gar an den Geist gebunden; auf dessen Begriff aber kann das göttliche Prinzip nicht eingeschränkt werden. Denn Gott als Geist zu bezeichnen ist nur ein auf den Kopf gestellter Materialismus, wie dieser eine Festlegung des Absoluten auf eine bestimmte Substanz. Vielmehr, wenn Persönlichkeit von Gott gelten soll, so muß sie als eine so allgemeine Form gefasst werden, daß das geistige Selbstbewußtsein, das uns allein empirisch zugängig ist, nur als ein Sonderfall darunter gehört. Die einzige Art, in der wir von einem Subjekte erfahren können, das sein eignes Objekt ist, ist freilich ein solches Selbstbewußtsein des Geistes. Aber von diesem besondern Substrat muß jene Form gelöst werden, wenn sie einem absoluten Wesen, einem, in dem das Dasein seine Totalität hat, zukommen soll. Wir können uns eine nähere Vorstellung, die dieses begrifflich Geforderte anschaulich machte, nicht bilden. Wenn es aber eine unerläßliche Vorstellung von dem göttlichen Wesen ist: daß es, über die tote Einheit hinaus, ein Gegenüber haben muss, ein Andres, mit dem es ein lebendig Wechselwirkendes sei, dieses Andre und Gegenüber aber seine Einheit nicht durchbrechen darf, sondern es in dieser ganzen »selbstseligen« oder die Welt bedeutenden Relation doch immer es selbst bleiben, also Subjekt und Objekt eiti Identisches sein müsse — so ist dies freilich die Form der Persönlichkeit, aber durchaus nicht die menschliche. Kein Anthropomorphismus trägt hiermit die menschliche Beschränktheit auf die bloße Bewußtseinsart der einheitlichen Zweiheit in Gott hinein, sondern umgekehrt, »Persönlichkeit« ist die völlig formale, wenn man will: abstrakte Bestimmtheit, deren Realisierung in dieser Abstraktheit nur einem absoluten Wesen zukommen kann, während eine unvollkommenere, einseitig-geistige Stufe davon Sache unsres Lebens ist. Richtig verstanden mag man deshalb sagen: Gott ist nicht der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen.

Damit ist das Prinzip noch einmal bezeichnet, das diese Untersuchung geleitet hat. Für die Realitäten unsres Lebens gewinnen wir Ordnung und Wertung von einem Komplex von Ideen her, deren Bewusstsein freilich sich psychogenetisch aus dem zufälligen und fragmentarischen Zustand des empirischen Lebens erhebt, die aber ihrem Sinne nach eine ideelle Selbständigkeit und eine geschlossene Vollkommenheit besitzen, von der unsre menschlichen Existenzinhalte — gleichsam durch einen Subtraktionsakt — ihre Bezeichenbarkeit, ihr Maß, ihre Sonderform entlehnen. Ob und inwieweit dies geschieht, ist eine Frage der Tatsächlichkeit, die in die Feststellung jener Kategorien, in die Zusammenhänge ihres Sinnes, in ihre logische und normative Bedeutung nicht eingreift. Insoweit nun ein göttliches Wesen seinem Inhalte, seinem Was nach gedacht werden soll, so kann nichts Andres, als jene Ideen, aber in ihrer Absolutheit oder Reinheit, in Frage kommen. Nicht um einen Gradunterschied kann es sich handeln, so daß Gott mehr Macht, mehr Gerechtigkeit, mehr Vollkommenheit hätte, als der Mensch; solche quantitative Steigerung nimmt ersichtlich ihren Ausgangspunkt vom Menschen und ist Antropomorphismus. Sondern für den Gläubigen ist er die Idee der Macht, der Gerechtigkeit, der Vollkommenheit in der Form des Seins, sein Inhalt ist unmittelbar dasjenige, was über dem relativen Dasein des Menschen als seine ideelle Kategorie steht, als die reine Bedeutsamkeit, von der sein relatives, unvollkommnes, gemischtes Leben immerhin seine Bedeutung und seine Form bekommt.

Ich müsste mich sehr täuschen, wenn dieses Verhalten nicht in allem entwickelteren religiösen Wesen als ein Moment bestünde, das freilich nur in logischen Paradoxen aussagbar ist: nicht daß Gott über dem Menschen stehe ist das Wesentliche, sondern daß der Mensch unter Gott steht; jenes ist sozusagen das Selbstverständliche, aus diesem aber erst quillt die religiöse Lebensempfindung und Aufgabe des Menschen. In der Relation: Gott und Mensch — ist nur das zweite Glied etwas Relatives, das erste aber ein Absolutes — eben die Realität jenes Ideellen, mit dem der Mensch der Relativität seines Wesens Gestalt, Grad und Sinn zumißt. Ob diese Realität geglaubt wird oder nicht, das hat die Religion, aber nicht die Religionsphilosophie auszumachen; sie kann nur von dem reden, was dem religiösen Menschen — wiederum mit logischer Paradoxie — oft genug sekundär ist: von dem Was des göttlichen Prinzips, nicht von seinem Daß. Meine Aufgabe war es, an dem Begriff der Persönlichkeit, grade weil er so entschieden von unten, vom Menschlichen her gebildet scheint, die Schicht aufzuzeigen, in der für unser Denken die Bestimmungen einer göttlichen Wesensheit allein liegen können. Der Persönlichkeitsbegriff muß nur in seinem Kern und seiner Reinheit gefaßt werden, um sich jener Ordnung zugehörig zu zeigen, die ihren Sinn nicht von dem Unteren her bezieht, sondern umgekehrt dieses zu Sinn und Form bringt und über den besonderen menschlichen Gestaltungsinhalten ungefähr so steht, wie für den Gläubigen das Sein Gottes über dem Sein des Menschen. so unabhängig aber ist dieses von jenem, aus so andern Quellen der Seele und der sachlichen Ordnungen gespeist, daß die Religionsphilosophie sehr wohl behaupten kann: Gott ist Persönlichkeit — ohne im Geringsten zu behaupten oder auch nur behaupten zu dürfen: Gott ist. In dieser Schicht sich haltend, steht sie jenseits der illegalen Spekulation: denn diese will ein Sein ersinnen. Sie begnügt sich nicht mit ihrem Heimatsrecht in der ideellen Ordnung der Inhalte eines Seins, das als solches nur aus ganz andern Quellen fließen kann. Solange die Religionsphilosophie sich von dem unlautern Wettbewerb mit der Religion fernhält, hat sie das Recht des Gemäldes, das die innere Logik, den Sinn der Einzelheiten und Zusammenhänge anschaulicher Welt darlegt, die durch die Kunstform von ihrer zufälligen Wirklichkeit geschieden sind; die Spekulation aber gleicht dem Panorama, das mit Mitteln, wie sie zwar für den Bau jener ideellen Welt, aber nicht für den der Wirklichkeit —im Sinne der Empirie wie im Sinne des Glaubens — zureichen, dennoch den Versuch macht, die Zeugungskräfte dieser letzteren zu ersetzen.

Enthalten in: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne (Zur Religionsphilosophie, S.166-180)
Gesammelte Essais. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Verlag Klaus Wagenbach Berlin (WAT 324)

Auch enthalten in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1909 – 1918 Band 1 . Gesamtausgabe Band 12 (S.290ff.) suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 812

Religiöses Erleben als formende Kategorie
Aus: Die Religion (in der Sammlung: Die Gesellschaft, hsg. von Buber), 2. Aufl., Frankfurt a. M., Rütten & Loening, 1912 S. Uff.

Es ist eine längst triviale Wendung, daß Religion nichts anderes ist als eine gewisse Übertreibung empirisch-seelischer, von unseren Naturzusammenhängen ressortierender Tatsachen. Der weltschaffende Gott erscheint als eine Hypertrophie [übermäßige Vergrößerung] des Kausaltriebes, das religiöse Opfer als eine Fortsetzung der erfahrenen Notwendigkeit, für jedes Erwünschte einen Preis daranzugeben, die Furcht vor Gott als die Zusammenfassung und vergrößernde Spiegelung der Übergewalt, die wir fortwährend von der physischen Natur erfahren. Nur die vollkommenste Oberflächlichkeit kann noch an dieser Hypothese Halt machen. Handelte es sich wirklich nur um ein Mehr solcher sinnlich gebundenen Erfahrbarkeiten, so wäre eben, daß es zu diesem Mehr kommt, aus dem sinnlich-empirischen Verhältnis selbst doch nicht zu begreifen; so daß diese Reduktion das eigentliche Problem gerade unterschlägt. Dieses fordert vielmehr die Wendung: daß die religiösen Kategorien schon zum Grunde liegen, das Material von vornherein mitwirksam gestalten müssen, wenn dieses als religiös bedeutsam empfunden werden, wenn sich aus ihm religiöse Gebilde ergeben sollen.

Nicht das Empirische wird zum Religiösen übertrieben, sondern das im Empirischen liegende Religiöse wird herausgestellt. Wie die Gegenstände der Erfahrung eben dadurch erkennbar sind, daß die Formen und Normen der Erkenntnis zu ihrer Bildung aus dem bloßen Sinnesmaterial gewirkt haben; wie wir deshalb z. B. das Kausalgesetz aus unseren Erfahrungen abstrahieren können, weil wir unsere Erfahrungen von vornherein ihm gemäß, das sie überhaupt erst zu »Erfahrungen« macht, geformt haben, - so sind die Dinge religiös bedeutsam und steigern sich zu transzendenten Gebilden, weil und insofern sie von vornherein unter der religiösen Kategorie aufgenommen sind und diese ihre Bildung aufgenommen hat, bevor sie bewußt und vollständig als religiös gelten.

Wenn wirklich Gott als Weltschöpfer dem Fortsetzungszwang der Ursachenreihe entspringt, so liegt das religiöse, zum Transzendenten aufstrebende Element schon gleich in den niederen Stufen des Kausalprozesses. Einerseits freilich verbleibt dieser innerhalb der konkreten Erkenntnis und verbindet ein gegebenes Glied mit dem nächsten; allein außerdem bringt der rastlose Rhythmus dieser Bewegung einen Ton von Unbefriedigung an allem Gegebenen mit sich, von Degradierung jedes einzelnen zu verschwindender Nichtigkeit in einer unermeßlichen Kette, - kurz, ein Klang aus der religiösen Tonart schwebt von vornherein in der Kausalbewegung mit. Es ist die gleiche Gedankenbewegung, die je nach der Schicht, in der wir sie verlaufen lassen, je nach den Gefühlsakzenten, mit denen wir sie ausstatten, auf eine Welt erkennbarer Natur oder auf einen im Transzendenten liegenden Punkt hinausgeht.

Gott als Weltursache bedeutet, daß aus diesem, von vornherein in einer religiösen Kategorie verlaufenden Prozesse sein innerer Sinn gleichsam auskristallisiert ist, wie das abstrakte Kausalgesetz bedeutet, daß aus dem Kausalprozeß, soweit er unter die Kategorie des Erkennens erfolgt, seine Formel extrahiert ist. Niemals würde die endlose Fortsetzung der Ursachenreihe, wie sie die empirisch erkennbare Welt ordnet, zu einem Gotte aufgestiegen sein, niemals wäre von ihr allein aus der Sprung in die religiöse Welt zu begreifen, - wenn eben diese Reihe nicht zugleich auch unter der Ägide des religiösen Empfindens ablaufen könnte, wofür dann der weltschaffende Gott der abschließende Ausdruck ist, die Substanz, in der die an einer Seite und im Sinn jenes Prozesses lebende Religiosität sich niederschlagen kann. Leichter durchschaubar ist es, wie unsere Gefühlsverbindung mit der äußeren Natur sich unter dem religiösen Zeichen entwickeln kann, und wie diese Entwickelung sich in dem Gegenstand der Religion gleichsam sich selbst gegenüberstellt.

Die Natur um uns erregt uns bald zu ästhetischem Genießen, bald zu Schreck und Grauen und der Empfindung des Erhabenen ihrer Obergewalt - jenes, indem uns auf einmal durchsichtig und zugängig erscheint, was wir eigentlich als ein Fremdes und ewiges Gegenüber fühlen, dieses, indem das bloß Physische und uns als solches ganz Indifferente und Verständliche eine schreckhaft undurchdringliche Dunkelheit annimmt -, bald zu jenem schwer analysierbaren Grundgefühl, das ich nur als Erschütterung schlechthin zu bezeichnen wüßte: wenn wir plötzlich im Tiefsten ergriffen und bewegt werden, nicht durch außergewöhnliche Schönheit oder Erhabenheit der Naturerscheinung, sondern oft durch einen Sonnenstrahl, der ein Laub durchstreift, oder durch die Biegung eines Astes im Winde, durch irgend etwas scheinbar gar nicht besonders Ausgezeichnetes, das wie durch eine geheime Konsonanz mit unserem Wesensgrunde diesen in leidenschaft¬lichen Eigenbewegungen schwingen läßt. Alle diese Empfindungen können verlaufen, ohne über ihre unmittelbare Zuständlichkeit hinauszugreifen, also ohne jeden religiösen Wert; sie können diesen aber auch annehmen, ohne ihren Inhalt irgendwie zu ändern.

Wir fühlen bei solchen Erregungen manchmal eine gewisse Spannung oder einen Schwung, eine Demut oder Dankbarkeit, ein Ergriffensein, als spräche durch ihren Gegenstand eine Seele zu uns, - welches alles nur als religiös zu bezeichnen ist. Dies ist noch nicht Religion; aber es ist derjenige Vorgang, der Religion wird, indem er sich ins Transzendente fortsetzt, ein eigenes Wesen zu seinem Objekt werden läßt und von diesem sich selbst zurückzuempfangen scheint. Was man als den teleologischen Gottesbeweis bezeichnet hat: daß die Schönheit, Formung, Ordnung der Welt auf eine zweckmäßig bauende absolute Macht hinwiese, - ist nichts als die logische Gestaltung dieses religiösen Prozesses.

Gewisse Empfindungen der Natur gegenüber werden eben außer in der rein subjektiven oder der ästhetischen oder metaphysischen Kategorie auch in der religiösen erlebt; und wie der empirische Gegenstand für uns den Schnittpunkt bedeutet, in dem eine Anzahl sinnlicher Eindrücke sich treffen, beziehungsweise bis zu dem hin sie verlängert werden, so ist der Gegenstand der Religion ein solcher Punkt, in dem Gefühle wie die angedeuteten ihre Einheit finden, indem sie sich gleichsam aus sich heraussetzen. Sie lassen ihn aus sich zusammenrinnen, und weil er so das Produkt ihrer aller ist, scheint er dem einzelnen gegenüber den Ausstrahlungspunkt der religiösen Linien, ein zuvor bestehendes Sein darzustellen. Das an Weltinhalten formend betätigte religiöse Leben ist an ihm zu einer eigenen religiösen Substanz geworden.

Religiöses Erleben als metaphysische Tatsache
Aus: Das Problem der religiösen Lage in dem Sammelband Weltanschauung, Philosophie und Religion, Berlin, Reichl & Co., 1911, S. 333 ff.
Sie (die Aufklärung) schließt: entweder gibt es »in der Realität« ein Metaphysisches, Transzendentes, Göttliches außerhalb des Menschen; oder, wenn der wissenschaftliche Geist eine solche Realität nicht gestattet, so ist der Glaube daran eine subjektive Phantastik, die rein psychologisch erklärt werden muß. Wenn diese Alternative das Metaphysische, psychologisch nicht Herleitbare zu widerlegen meint, so ist sie irrig. Denn es gibt ein drittes: vielleicht ist dieser Glaube, diese seelisch gegebene Tatsache selbst etwas metaphysisches! - insofern nämlich darin ein Sein lebt und sich ausdrückt, jenes religiöse Sein, dessen Sinn und Bedeutung von dem Inhalt, den der Glaube ergreift oder erzeugt, völlig unabhängig ist. Wenn der Mensch ein metaphysisch-göttliches, alle empirische Einzelheit übersteigendes Gebilde sich gegenüberstellt, so projiziert er damit nicht immer und nicht nur seine psychologischen Emotionen: Furcht und Hoffnung, Überschwang und Erlösungsbedürfnis aus sich heraus; er projiziert damit auch dasjenige, was in ihm selbst metaphysisch ist, in ihm selbst jenseits aller empirischen Einzelheit liegt ...

Natürlich ist die Vergottung des Menschen ebenso abzulehnen wie die Vermenschlichung Gottes, denn mit beiden geschieht ein nachträgliches, gewaltsames Zusammenbiegen von Instanzen, die innerhalb ihrer Ebene sich unvermeidlich gegenüberstehen müssen. Aber man kann von vornherein unter ihren Dualismus heruntergreifen, indem man in oder gleichsam unter dem Glauben der Seele, mit dem zugleich sein Gegenstand entsteht, ihr religiöses Sein als das absolute jenseits dieser Relation empfindet, als verschont von dem Gegensatz: Subjekt-Objekt. Wie die Vorstellung des Räumlichen, die wir in unserem Bewußtsein finden, nicht etwa erst den Schluß gestattet: also gäbe es auch außerhalb des Bewußtseins eine reale Raumeswelt; wie vielmehr, wenn Kant recht hat, jene Vorstellung selbst schon alles das ist, was wir räumliche Realität nennen - so garantiert die subjektive Religiosität nicht etwa das Vorhandensein eines metaphysischen Seins oder Wertes außerhalb ihrer, sondern sie ist selbst und unmittelbar ein solcher, sie, als eine Wirklichkeit, bedeutet schon all das Überweltliche, all die Tiefe, Absolutheit und Weihe, die an den religiösen Gegenständen verloren scheint.
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925

Zur Metaphysik des Todes
Die Kultur des innersten Lebens steht in jedem Zeitalter in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung, die es dem Tode zuschreibt. Wie wir das Leben auffassen und wie wir den Tod auffassen — das sind nur zwei Aspekte eines einheitlichen Grundverhaltens. Die hier gebotenen Überlegungen, obgleich bemüht, ihre Abstraktionen aus ganz verschiedenen Todesbegriffen zu gewinnen, mögen in der Methode dieser Bemühung ein Beispiel dafür sein, wie eine der augenblicklichen Kulturlage entsprungene Denkweise sich zu diesen Problemen stellt.

Die gestaltende und formgebende Funktion des Todes für das Leben
Den unorganischen Körper scheidet vor Allem dies von dem lebendigen: daß ihm seine begrenzende Form von außen bestimmt wird — sei es in dem äußerlichsten Sinne, daß er aufhört, weil ein anderer anfängt, sich seiner Expansion entgegenstellt, ihn biegt oder bricht; oder sei es durch molekulare, chemische oder physikalische Einflüsse, wie etwa die Form des Felsens durch Verwitterung, die der Lava durch Erstarren fixiert wird. Der organische Körper aber gibt sich seine Gestalt von innen her; er hört auf zu wachsen, wenn die mit ihm geborenen Formkräfte an ihre Grenze gekommen sind; und dauernd bestimmen diese die besondere Art seines Umfanges. Die Bedingungen seines Wesens überhaupt sind auch die seiner erscheinenden Form, während für den unorganischen Körper die letzteren außerhalb seiner selbst wohnen.

Das Geheimnis der Form liegt darin, daß sie Grenze ist; sie ist das Ding selbst und zugleich das Aufhören des Dinges, der Bezirk, in dem das Sein und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind. Und das organische Wesen ist, anders als das unlebendige, zu dieser Grenzsetzung keines zweiten bedürftig. Nun aber ist seine Grenze nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Dadurch, daß das Lebendige stirbt, daß das Sterben mit seiner Natur selbst (gleichviel ob aus begriffener oder noch nicht begriffener Notwendigkeit heraus) gesetzt ist, bekommt sein Leben eine Form — in der freilich der quantitative und der qualitative Sinn sich anders mischt als in der räumlichen. Die Einsicht in die Bedeutung des Todes hängt durchaus daran, daß man sich von der »Parzen«-Vorstellung befreie, in der sein gewöhnlicher Aspekt sich ausdrückt: als würde in einem bestimmten Zeitmoment der Lebensfaden, der sich bis dahin als Leben und ausschließlich als Leben fortgesponnen, mit einem Male »abgeschnitten«; als setzte der Tod dem Leben seine Grenze in demselben Sinn, in dem der unorganische Körper dadurch räumlich zu Ende ist, daß ein anderer, mit dem er von sich aus gar nichts zu tun hat, sich gegen ihn schiebt und ihm seine Form — als »Aufhören« seines Seins — bestimmt. Den meisten Menschen erscheint so der Tod als eine dunkle Prophezeiung, die über ihrem Leben schwebt, aber doch erst in dem Augenblick ihrer Verwirklichung irgend etwas mit dem Leben zu tun haben wird, wie über dem Leben des Ödipus die, daß er irgend wann einmal seinen Vater erschlagen wird. In Wirklichkeit aber ist der Tod von vornherein und von innen her dem Leben verbunden.

Ich lasse die biologische Strittigkeit bei Seite: ob die einzelligen Wesen unsterblich sind, da sie sich nur in mehrere, wieder ganz und gar lebendige Wesen teilen und niemals, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, eine Leiche hinterlassen, so daß der Tod nur eine, bei den vielzelligen Organismen zu dem Leben hinzugetretene Erscheinung wäre — oder ob auch von jenen ein Teil oder die ganze Körpersubstanz schließlich zu Grunde geht. Hier gehen uns nur diejenigen Wesen an, die eben sterben und deren Leben darum in keiner weniger innigen Verbindung mit dem Tode steht, weil die Lebensform anderer Wesen diese Bedingtheit von vornherein nicht besitzt. Ebenso wenig wird das Abgestimmtsein unseres Lebens auf den Tod und seine durchgängige Bestimmtheit durch ihn von der Tatsache widerlegt, daß das normale Leben eine Zeitlang aufwärtsschreitet, immer mehr und sozusagen immer lebendigeres Leben wird; erst nach einem höchsten Punkt seiner Entwicklung, — der gewissermaßen dem Tode ferner zu sein scheint als jeder frühere — beginnen die ersten Zeichen des Abwärtsgehens.

Allein jenes voller und stärker werdende Leben steht doch in einem Gesamtzusammenhang, der auf den Tod angelegt ist.
Auch ohne daß , wie seit dem beginnenden Härterwerden der Gefäße, der Tod gleichsam pro rata in ihm feststellbar wäre, würde es doch ein anderes sein, wenn es nicht in jener eindeutig auf den Tod zugehenden Reihe stünde. Wie die Ursache eines Erfolges in diesem doch nicht substanziell, in ihrem Eigenbestand und Eigenform fortzubestehen braucht, ein erstes Gebilde vielmehr die qualitativ völlig andere Bestimmtheit eines zweiten zur Wirkung haben kann, so kann, in anderer Richtung gesehen, der Tod dem Leben von vornherein einwohnen, ohne daß er, oder gleichsam ein Partikelchen von ihm, in jedem einzelnen Momente schon als Wirklichkeit feststellbar wäre. Aber in jedem einzelnen Momente des Lebens sind wir solche, die sterben werden, und er wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene, in ihm irgendwie wirksame Bestimmung wäre. So wenig wir in dem Augenblick unserer Geburt schon da sind, fortwährend vielmehr irgend etwas von uns geboren wird, so wenig sterben wir erst in unserem letzten Augenblicke.

Dies erst macht die formgebende Bedeutung des Todes klar. Er begrenzt, d. h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt: die Begrenztheit des Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden seiner Inhalte und Augenblicke vor; die Qualität und Form eines jeden wäre eine andere, wenn er sich über diese immanente Grenze hinauserstrecken könnte
. Es gehört zu den ungeheuren Paradoxien des Christentums, dem Tod diese apriorische Bedeutung zu nehmen, das Leben von vornherein unter den Gesichtspunkt seiner eigenen Ewigkeit zu stellen. Und zwar nicht nur als eine an den letzten irdischen Augenblick sich anschließende Verlängerung des Lebens; sondern von der gesamten Reihe der Lebensinhalte hängt das ewige Geschick der Seele ab, ein jeder setzt seine ethische Bedeutung als Bestimmungsgrund unserer transzendenten Zukunft in das Unendliche fort und durchbricht damit die ihm einwohnende Begrenztheit. Der Tod kann hier als überwunden gelten, nicht nur weil das Leben, als eine durch die Zeit erstreckte Linie, über die Formgrenze seines Endes hinausreicht, sondern auch weil es den durch alle Einzelmomente des Lebens hin wirkenden und sie innerlich begrenzenden Tod vermöge der ewigen Konsequenzen eben dieser Momente verneint.

Und auch für den umgekehrt gerichteten Blick erscheint der Tod als der Gestalter des Lebens. Die gegebene Stellung der Organismen innerhalb ihrer Welt ist die, daß sie sich in jedem Augenblick nur durch irgendwelche Anpassung — im weitesten Sinne des Wortes — am Leben erhalten können. Das Versagen dieser Anpassung bedeutet den Tod. Ebenso wie jede automatische oder willkürliche Bewegung als der Drang nach Leben, nach Mehr-Leben gedeutet werden kann, ebenso kann sie es als die Flucht vor dem Tode. Jede unserer Bewegungen findet in dieser Hinsicht ihr Symbol an der arithmetischen Größe, die ebenso durch Addition von unten her, wie durch Subtraktion von oben her zustande gebracht werden kann. Oder vielleicht ist das Wesen unserer Aktivität eine für uns selbst geheimnisvolle Einheit, die wir, wie soviel andere, nur durch Zerlegung in Lebenseroberung und Todesflucht erfassen können. Jeder Schritt des Lebens zeigte sich nicht nur als eine zeitliche Annäherung an den Tod, sondern als durch ihn, der ein reales Element des Lebens ist, positiv und a priori geformt. Und diese Formung wird also nun grade durch die Abwendung vom Tode mitbestimmt, dadurch, daß Erwerb und Genuß, Arbeit und Ruhe, und all unsere andern, naturhaft betrachteten Verhaltungsweisen — instinktive oder bewußte Todesflucht sind. Das Leben, das wir dazu verbrauchen, uns dem Tode zu nähern, verbrauchen wir dazu, ihn zu fliehen. Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf entgegengesetzten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird der Boden, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen. Und diese Doppelrichtung ihres Bewegtseins bestimmt ihren jeweiligen Standort im Raume.

Das Verhältnis zwischen Leben und Tod
Diese Formung des Lebens in seinem ganzen Verlaufe durch den Tod ist bisher sozusagen etwas Bildhaftes, das von sich aus noch nicht zu irgend welchen Schlüssen vordringt; es handelte sich nur darum, die gewöhnliche Vorstellung, die den Tod nur, gleichsam unorganisch, als den lebenbeendigenden Parzenschnitt ansieht, durch die organischere zu ersetzen, für die er ein formendes Moment des kontinuierlichen Lebensverlaufes von Anfang an ist; ohne daß der Tod wäre, auch jenseits seiner ungemischten Sichtbarkeit in der Todesstunde, wäre das Leben ganz und gar und unausdenkbar anders. Mag man aber seine enbiotische Verbreitung als eine Vorwirkung oder Vorschattung des singulären Todesereignisses, mag man sie als eine autochthone Formung oder Färbung jedes Lebensmomentes für sich ansehen — jedenfalls begründet erst sie, zusammen mit jener Akutheit des Todes, gewisse Reihen metaphysischer Vorstellungen vom Wesen und Schicksal der Seele. Ich scheide die Modifikationen nicht ausdrücklich von einander, die der eine und die der andere Sinn des Todes in die folgenden Erwägungen hineinträgt; es wäre Sache leichten Überlegens, die Anteile jener beiden an diesen Vorstellungen zu sondern.

Die Hegelsche Formulierung, daß jedes Etwas seinen Gegensatz fordert und mit ihm zu der höheren Synthese zusammengeht, in der es zwar aufgehoben ist, aber ebendamit »zu sich selbst kommt« — läßt ihren Tiefsinn vielleicht nirgends stärker als an dem Verhältnis zwischen Leben und Tod hervorleuchten. Das Leben fordert von sich aus den Tod, als seinen Gegensatz, als das »Andere«, zu dem das Etwas wird und ohne das dieses Etwas überhaupt seinen spezifischen Sinn und Form nicht hätte. Insoweit stehen Leben und Tod auf einer Staffel des Seins, als Thesis und Antithesis. Damit aber erhebt sich über sie ein Höheres, Werte und Spannungen unseres Daseins, die über Leben und Tod hinaus sind und von deren Gegensatz nicht mehr berührt werden, in denen aber das Leben eigentlich erst zu sich selbst, zu dem höchsten Sinne seiner selbst kommt. Die Basis dieses Gedankens ist, daß das Leben, wie es unmittelbar gegeben ist, seinen Prozeß in voller Ungeschiedenheit von seinen Inhalten abrollt. Diese tatsächliche Einheit kann nur gelebt werden und ist als solche intellektuell nicht zu bewältigen. Die Analytik des Verstandes erst zerlegt sie in jene beiden Elemente, ohne daß die so gezogene Scheidelinie darum einer objektiven Struktur des Gegenstandes weniger zu entsprechen brauchte, als — freilich in einer anderen Realitätsebene — die im Gefühle gegebene Einheit des Erlebens. Die sachliche wie die psychologische Möglichkeit der Scheidung aber scheint mir, insbesondere für gewisse höchste Werte, nur durch die Tatsache gegeben, daß ihr Träger, ihr Prozeß, dem Tode unterworfen ist. Lebten wir ewig, so würde das Leben voraussichtlich mit seinen Werten und Inhalten undifferenziert verschmolzen bleiben, es würde gar keine reale Anregung bestehen, diese außerhalb der einzigen Form, in der wir sie kennen und unbegrenzt oft erleben können, zu denken. Nun aber sterben wir und erfahren damit das Leben als etwas Zufälliges, Vergängliches, als etwas, was sozusagen auch anders sein kann. Dadurch erst wird der Gedanke entstanden sein, daß die Inhalte des Lebens ja das Schicksal seines Prozesses nicht zu teilen brauchen, erst so wird man auf die von allem Verfließen und Enden unabhängige, jenseits von Leben und Tod gültige Bedeutung gewisser Inhalte aufmerksam geworden sein. Erst die Erfahrung vom Tode wird jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst haben. Aber gerade mit diesen zeitlos bedeutsamen Inhalten gewinnt das zeitliche Leben seine eigene reinste Höhe; indem es sie, die mehr sind als es selbst, in sich aufnimmt oder sich in sie ergießt, kommt das Leben über sich hinaus, ohne sich zu verlieren, ja, sich eigentlich erst gewinnend; denn erst so kommt sein Ablauf als Prozeß zu einem Sinn und Wert und weiß sozusagen, weshalb er da ist. Es muß diese Inhalte erst ideell von sich sondern können, um sich bewußt zu ihnen zu erheben, und es vollbringt diese Sonderung im Hinblick auf den Tod, der zwar den Prozeß des Lebens annullieren, aber die Bedeutung seiner Inhalte nicht angreifen kann.

Wenn diese Scheidung zwischen Leben und Inhalt, die durch den Tod geschieht, die Inhalte überleben läßt, so tritt derselbe Akzent doch auch auf die andere Seite der Trennungslinie. Der seelische Lebensprozeß als ganzer stellt mit steigender Entwicklung das Gebilde immer klarer und stärker heraus, das man das Ich nennen kann. Es handelt sich um das Wesen und den Wert, um den Rhythmus und sozusagen den inneren Sinn, die unserer Existenz, als diesem besonderen Stück der Welt, zukommen; um dasjenige, was wir eigentlich von vornherein sind und doch wieder im vollen Sinne noch nicht sind. Dieses Ich steht in einer eigentümlichen, näherer Darstellung noch bedürftigen Kategorie, die ein Drittes ist, jenseits der gegebenen Wirklichkeit und der irrealen, bloß geforderten Wertidee. Nun ist aber das Ich am Anfang seiner Entwicklung, sowohl für das subjektive Bewußtsein, wie in seinem objektiven Sein, aufs engste mit den Einzelinhalten des Lebensprozesses verschmolzen. Und wie dieser Lebensprozeß — so sahen wir eben —seine Inhalte von sich sondert, wie sie eine Bedeutung jenseits ihres dynamisch-realen Erlebtwerdens erhalten, so entläßt er, gleichsam auf seiner anderen Seite, das Ich aus sich, das sich, in gewissem Sinn uno actu mit den Inhalten, aus ihm herausdifferenziert und sich damit auch von den Inhalten, die zunächst das naive Bewußtsein ausschließlich erfüllen, als eine besondere Bedeutung und Wert, Existenz und Forderung ablöst. Je mehr wir erlebt haben, desto entschiedener markiert sich das Ich als das Eine und Kontinuierende in allen Pendelschwingungen des Schicksals und des Weltvorstellens; und zwar eben nicht nur in dem psychologischen Sinn, in dem die Wahrnehmung des Gleichen und Beharrenden in sonst differenten Erscheinungen durch deren numerisches Anwachsen leichter und unvermeidlicher wird; sondern auch im objektiven Sinne, derart, daß das Ich sich reiner in sich selbst sammelt, sich herausarbeitet aus all den fließenden Zufälligkeiten erlebter Inhalte, sich immer sicherer und von diesen unabhängiger seinem eigenen Sinn und Idee zu entwickelt. Hier setzt der Unsterblichkeitsgedanke ein. Wie in dem oben erörterten Fall der Tod das Leben versinken läßt, um die Zeitlosigkeit seiner Inhalte gleichsam freiwerden zu lassen, so beendet er nun, anders angesehen, die Erlebnisreihe der bestimmten Inhalte, ohne daß damit die Forderung des Ich, sich ewig zu vollenden oder weiterzuexistieren — das Gegenspiel jener Zeitlosigkeit — abgeschnitten wäre. Die Unsterblichkeit, wie sie die Sehnsucht vieler tieferen Menschen ist, hat den Sinn: daß das Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der einzelnen Inhalte ganz vollbringen könnte. Religiöserweise pflegt die Unsterblichkeit einen anderen Sinn zu haben. Sie gilt hier meistens einem Haben, die Seele will Seligkeit oder das Schauen Gottes oder vielleicht nur ein Weiterexistieren überhaupt; oder, bei stärkerer ethischer Sublimiertheit, will sie eine Qualität ihrer selbst: sie will erlöst sein, oder gerechtfertigt, oder gereinigt. Aber alles das kommt nicht in Frage gegenüber dem jetzigen Sinn der Unsterblichkeit, als des Zustandes der Seele, in dem sie nichts mehr erlebt, in dem ihr Sein sich also nicht mehr an einem Inhalt vollzieht, der in irgend einem Sinn außerhalb ihrer selbst bestünde. Solange wir leben, erleben wir Objekte, das Ich hebt sich zwar mit dem Vorschreiten der Jahre und ihrer Vertiefung mehr und mehr als der reine Prozeß, als das Invariable und Durchhaltende aus allen Mannigfaltigkeiten der vorüberflutenden Inhalte heraus; aber irgendwie bleibt es doch jeweilig mit diesen verschmolzen, das Sich-Abheben, das Selbstsein der Seele bedeutet nur eine asymptotische Annäherung an das Ich, das nicht an irgend einem Etwas, sondern nur an sich selbst existiere. Wo an Unsterblichkeit geglaubt wird und jeder materiale Inhalt, dem sie zum Zweck diene, abgelehnt wird, — sei es als das ethisch nicht hinreichend Tiefe, sei es als das schlechthin Unwißbare — wo sozusagen die reine Form der Unsterblichkeit gesucht wird, da wird der Tod wohl als die Grenze erscheinen, jenseits deren alle angebbaren Einzelinhalte des Lebens vom Ich abfallen und wo sein Sein oder sein Prozeß ein bloßes Sich-selbst-Gehören, eine reine Bestimmtheit durch sich selbst ist.

Die Seelenwanderung
Wenn das erste der hier behandelten Motive die Funktion des Todes am und im Leben zeigte, wenn das zweite seine das Leben zerlegende Rolle aufwies, mit der er einerseits den objektiven Inhalten, andererseits dem subjektiven Ich die Reinheit des Fürsichseins gewährt, so steht nun ein drittes Motiv gewissermaßen zwischen diesen: die Seelenwanderung, die den Tod zwar in die grenzenlose Existenz der Seele hineinsetzt, ihn aber doch zu der Zäsur macht, an der jeweilig völlig neue Inhaltsreihen, ja, ein anderes Ich beginnt. An der Seelenwanderung scheint zunächst die Unsterblichkeit eine sozusagen begrifflich notwendige Ergänzung zu finden. Denn die Unsterblichkeit fordert eigentlich die Präexistenz. Daß eine Seele, bloß weil sie zufällig entstanden ist, auch gleich ins Unendliche weiterleben sollte, gibt keinen rechten Sinn. Wohl aber ist die Unvernichtbarkeit das angemessene Korrelat der Unentstandenheit. Das ist wie mit der »Unsterblichkeit« von Gedanken: der ganz große Gedanke ist nur wie ein Aktualisieren und Bewußtwerden von etwas, was die Menschheit von jeher besessen hat, was zu der Erbmasse ihres Wesens, zu ihrer ewigen Ausstattung gehört. Darin liegt das Überzeugende der großen Gedanken, auch und insbesondere der nicht wissenschaftlich erweisbaren. Sie würden nicht so unmittelbar — als hätte man es längst gewußt und jetzt würde es nur ausgesprochen — und bleibend wirken, wenn sie nicht in der Struktur der Seele präexistent gewesen wären. Nur wenn das Leben prinzipiell nicht auf der Form empirischer Begrenztheit ruht, nicht als ein Einzelnes irdisch entstanden ist, sondern ein bloßer Ausschnitt aus einer ewigen Existenz ist, ist seine Unsterblichkeit nicht mehr ein unerträglicher Sprung aus einer Ordnung der Dinge in eine völlig heterogene. Die Seelenwanderung stellt diese Ewigkeit des Lebens in einer gleichsam prismatischen Brechung in unzählige, verschieden gefärbte, individuell begrenzte Existenzen dar. Der Tod ist dann nur das Ende der Individualität, aber nicht des Lebens.

Hiermit aber setzt die Schwierigkeit des Seelenwanderungsgedankens ein. Welches Leben endet mit dem Tode? Das persönlich-individuelle? Dann ist es unverständlich, daß die nächste Existenz als die desselben, unzerstörten Subjekts gelten darf. Wird aber gerade die Persönlichkeit in allen Wandlungen bewahrt, so dürfte das in dieser Selbigkeit Erhaltene schwer anzugeben sein, wenn sie jetzt als Fürst, dann als Tiger dann als Bettler, dann als Schakal wiedergeboren wird. Welcher Inhalt des Seins oder des Bewußtseins beharrt denn eigentlich, um die Bezeichnung all dieser Erscheinungen als der Erscheinungen eben desselben Subjekts zu rechtfertigen? Geschichtlich berichtete Vorstellungsweisen zeigen diese Alternative in polaren Entgegengesetztheiten. Bei sehr verschiedenen primitiven Völkern herrscht der Glaube, das neugeborene Kind sei ein wiedergeborener früher Gestorbener. Bei einem Negervolk werden dem Neugeborenen Sächelchen gezeigt, die verstorbenen Familienmitgliedern gehört haben. Wird es dann bei einem besonders aufmerksam, so ist es der wiedergekommene Besitzer dieses. »Es ist Onkel John, er erkennt seine Pfeife!« Bei den Maoris zählt der Priester dem Neugeborenen die Namen der Vorfahren auf: bei welchem es niest oder schreit, der ist in ihm wiedergeboren. Dies ist offenbar die roheste und äußerlichste Form der Wiederkunft, die man kaum als Seelenwanderung bezeichnen kann, weil es sich um eine Wiederholung des Gestorbenen in seiner ganzen leiblich-seelischen Wirklichkeit handelt. Aber es zeigt das äußerste Extrem des Individualismus, der in vielen Abstufungen eine Form der Seelenwanderung bildet. Das Extrem der anderen Richtung hat die tiefere Lehre des Buddhismus, besonders in der neueren Zeit, zu vollem Bewußtsein gebracht. Auf die ethische Bedenklichkeit der Strafe, mit der die Sünden eines früheren Ich an einem neuen, das seinerseits gar nicht gesündigt habe, heimgesucht werden, erwidert der Buddhist: die Frage sei von vornherein falsch gestellt, da ein Ich, ein sündigendes und ein gestraftes, gar nicht bestehe. Es gäbe nur Gedanken und Taten, sozusagen naturhaft-unpersönliche, die sich in einem gegebenen Moment zu einem Aggregat zusammenfinden; an einem späteren Aggregat, durch kausale Übertragungen mit jenem zusammenhängend, erscheinen eben die sich fortsetzenden Wirkungen jener früheren Elemente oder Elementzustände. Sünde und Strafe bestünden also nicht an zwei gesonderten Subjekten, die durch ein kontinuierendes Ich verbunden wären, sondern verhielten sich einfach wie ein Geschehen und seine, vielleicht viel spätere, Wirkung, die sich an zwei subjektlosen Komplexen physisch-psychischer Elemente abspielten. Auch diese höchste Steigerung der Unpersönlichkeit gestattet offenbar keine eigentliche Seelenwanderung, weil eine jenseits ihrer jeweiligen Tuns- und Leidensinhalte stehende Seele von vornherein abgeleugnet wird und also auch nicht durch mehrere, mit einer Verschiedenheit solcher Inhalte verknüpfte leibliche Existenzen hindurch beharren kann.

Zwischen diesen beiden Extremen liegen die möglichen Vorstellungen von Seelenwanderung, deren Arten also durchaus von dem jeweiligen Begriff der »Persönlichkeit« abhängig sind. Diese muß sich, um als die identische in verschiedenen Körpern. zu wohnen, aus all den Bestimmungen zurückgezogen haben, die ihr aus der Verbundenheit der Seele mit der Körperlichkeit kommen. Aristoteles indes spottet über die Seelenwanderungslehre, die beliebige Seelen in beliebige Körper eingehen lasse: ebenso gut könne die Zimmermannskunst in Flöten eingehen; in Wirklichkeit sei diese bestimmte Seele nur diesem bestimmten Körper verbunden und verbindbar. Dennoch macht selbst die aristotelische Voraussetzung hierfür: daß die Seele, kurz gesagt, die Lebendigkeit des lebenden Wesens sei — jene Ablehnung noch nicht unbedingt erforderlich, und zwar gerade dann nicht, wenn man die Seele als mit der Individualität des Wesens identisch setzt. Man könnte diese als die Form des seelischen Verhaltens verstehen, die von jedem Einzelinhalt des seelischen Lebens unabhängig ist und sich deshalb in den inhaltlich allerverschiedensten seelischen Komplexen als die identische wiederholen kann. Wie sich diese Individualität, dieser besondere Rhythmus, Organisiertheit, Färbung, von einem Wesen auf das andere überträgt, muß freilich dahingestellt bleiben. Die Individualität ist eine Kategorie, die weder in das Körperhafte noch in das Seelenhafte aufgeht, ein höheres Drittes, das sich in dem einen wie in dem andern findet oder der Generalnenner für den Dualismus dieser beiden. Mag Aristoteles also recht haben, daß dieselbe (d. h. im existentialen Sinne dieselbe) Seele nicht in verschiedenen Körpern wohnen könne: darum können doch sehr verschiedenartige Gesamtgebilde, ein jedes körperhaft und seelenhaft, die Bestimmung, diese und diese Individualität zu sein, mit einander teilen. So paradox es klingt: ein Fürst und ein Tiger, ein Bettler und ein Schakal können die gleiche »Individualität« haben. Nicht ein einziger angebbarer Inhalt ihrer körperlich-seelischen Existenz mag hier oder dort der gleiche sein; dennoch kann eine Gesamtfärbung, die etwa in der Relation der Wesenselemente zueinander besteht, in ihnen übereinstimmen. Die Individualität im Verhältnis zu diesen einzelnen Elementen gleicht dem Werte eines Bruchs, der der identische sein kann, auch wenn die Faktoren, die ihn bilden, keinerlei Gleichheit besitzen. Das Übergehen der »Seele« des Fürsten in den Tiger begegnet vielleicht der Schwierigkeit, die Aristoteles hervorgehoben hat; aber dennoch kann er als Fürst »dasselbe« sein, was der Tiger als Tiger ist. Dieses innere Gesetz des Wesens, das gegen die Materie seiner Verwirklichung indifferent ist, mag man als seine »Individualität« bezeichnen, und wenn der phantastische Gedanke der Übertragung einer Wesenheit auf eine völlig anders aussehende Erscheinung überhaupt akzeptiert werden soll, so brauchte man ihn also an der Gebundenheit jeder bestimmten Seele an einen bestimmten Körper nicht scheitern zu lassen. Diese vielmehr völlig zugebend, könnte man ihn an diese Beziehungsgesetze — deren es unendlich mannigfaltige geben mag — sei es zwischen Körper und Seele, sei es zwischen den Wesenselementen überhaupt, knüpfen, an die Individualität, die in keinem dieser Elemente für sich, auch nicht pro rata, auffindbar ist und doch der Ganzheit des Wesens ein zwar unverwechselbares, aber wegen seines sozusagen formalen Charakters auf beliebig differente Materien übertragbares Cachet gibt. Was den Tod überdauerte, wäre dann nicht die Seele in ihrer historisch-realen Substanzialität, sondern ein zeitloses Wesensgesetz, das sich bald in diesem, bald in jenem Wirklichkeitskomplex darstellt und nur die besondre Bestimmung hätte, daß diese Komplexe nur eine, in der Zeit verlaufende und durch den Tod der einzelnen Realitäten in Perioden gegliederte Reihe bilden — wie auch der Prozeß unserer Welt als ganzer eine Individualität besitzt (nach Raumbedingtheit, Kausalordnung, begrifflichem Gefüge etc.), die sich auch nur an dem einen Verlauf einer einreihigen Zeit verwirklicht. Im übrigen fände dieser Gedanke an der empirisch-psychologischen Wirklichkeit seine Analogie. Die Seele jedes Menschen wandert zwischen Geburt und Tod durch unabmeßbar viele Schicksale, Stimmungen, extrem entgegengesetzte Epochen, die, auf ihren Inhalt angesehen, gegeneinander ganz fremde Gesamterscheinungen bieten. Allein die Individualität des Subjekts läßt sie doch zu einem einheitlichen Bilde zusammengehen: wie der Stimmklang eines Menschen derselbe und unverwechselbare bleibt, wie wechselnde Worte er auch spreche, so bleibt eine Grundfärbung, ein Grundrhythmus, ein Grundverhältnis für all das, was dieses Leben je erlebt, ein gleichsam apriorisches Formgesetz seines Tuns und Leidens, das das Zu-Ende-Sein jedes einzelnen Inhaltes überlebt und, als die Individualität des Ganzen, sich auf den nächsten überträgt.

Hiermit ist das Motiv angedeutet, aus dem heraus auch die Individualität als Träger der Metempsychose noch abgeworfen werden kann und dieser wunderlichsten aller Unsterblichkeitslehren ein noch unbeschränkterer Sinn kommen mag — nicht eigentlich ein teleologischer, der sie dem modernen Menschen irgendwie plausibel machte, aber doch ein kausaler, der ihrem Entstehen eine sozusagen ideelle Basis gibt. Die durch viele Körper und Leben wandernde Seele ist nichts, als die Seele des einzelnen Lebens, »mit großen Buchstaben geschrieben«; die Seelenwanderung nichts als eine groteske Verbreiterung, ein Radikal- und Absolutwerden gewisser Erfahrungen des täglichen, relativischen Lebens. Machen wir uns die Veränderungen klar, die dessen Verlauf zwischen Geburt und Tod an uns hervorbringen, so scheint deren Spannweite manchmal kaum geringer, als sie zwischen mancher menschlichen und mancher tierischen Existenz besteht. Keinem erheblich bewegten Leben wird das gelegentliche Gefühl mangeln, daß seine Ausschlagspole die Grenzen nicht nur des menschlichen, sondern des überhaupt ausdenkbaren Daseins berührt haben, daß es nicht nur Widersprüche — ein solcher enthält noch immer eine korrelative Zusammengehörigkeit seiner Seiten —, sondern Entferntheiten, berührungsunfähige Gleichgültigkeiten einschließt, die am Ende nur von einer rein formalen Lebenseinheit und von der Tatsache umgriffen sind, daß sich diese Inhalte in einem kontinuierlichen Fließen, in der zeitlichen Stetigkeit eines Lebensprozesses aneinander reihen. Zunächst in den Abständen der typischen Entwicklung: das stammelnde Kind, der Mann auf der Höhe seiner Schaffenskraft, der verfallene Greis — woraufhin werden diese Erscheinungen als eine Einheit angesprochen, als weil ein Lebensstrom sie durchfließt, der aber ihren Inhalten keinerlei Einheit und Vergleichbarkeit zu geben vermag und der, angenommen, die Seelenwanderung bestünde als Tatsache, sozusagen keine größere Anstrengung, mindestens keine fundamental anders gerichtete, brauchte, um die noch etwas distanteren Inhalte von Menschlichem und Tierischem in seine formale Kontinuität aufzunehmen. Zwischen der einen Geburt und dem einen Tode fühlen wir uns unzählige Male als ein »Andersgewordener« — körperlich, seelisch, schicksalsmäßig — und fühlen dabei freilich dieselbe »Seele«, die durch dies alles hindurchgeht, ohne durch ein Einzelnes in ihrer Beschaffenheit als Seele überhaupt abgefärbt zu werden; sonst wäre es unbegreiflich, daß sie morgen das genau entgegengesetzte Einzelne in dasselbe seelische Leben ruft. Es beharrt etwas in uns, während wir Weise und dann wieder Toren, Bestien und dann wieder Heilige, Selige und dann wieder Verzweifelte sind. Ein mechanisch bestimmtes Gebilde freilich ist ein anderes, sobald irgend eine seiner Bestimmungen geändert ist; denn es besitzt keine reale innere Einheit, die diese zusammenhielte; wird es, auch wenn seine Bestimmungen nicht mehr die genau identischen sind, aus begriffstechnischen Gründen noch als »eines« bezeichnet, so ist es in Wirklichkeit nicht mehr dieses eine, sondern ein anderes. Aber das lebende, genau genommen nur das beseelte Wesen, verhält sich anders. Von ihm stellen wir uns vor, daß es auch anders hätte handeln, bestimmt werden, ja sein können, ohne seine Identität zu verlieren, weil all dies Angebbare an ihm von einem beharrenden, jenseits seiner einzelnen Bestimmungen und Aktionen stehenden Ich getragen wird. Damm kann man vielleicht nur von einem Menschen sagen, daß er hätte ein anderer sein können, als er ist — während jedes sonstige Wesen in diesem Falle eben nicht mehr »er« wäre. An diesem Punkte liegt offenbar die Verknüpftheit des Freiheitsgedankens mit dem Ichgedanken, durch ihn wird begreiflich, wieso jene Polarität und Fremdheit mannigfaltiger Stimmungen und Schicksale, Entscheidungen und Gefühle die auseinanderstrebenden Schwingungen eines Pendels sind, das schließlich an einem unverrückbaren Punkte hängt.

Sieht man von diesem Bilde unserer Wirklichkeit auf die Seelenwanderung, so erscheint es in ihr nur wie in einem Vergrößerungsspiegel aufgefangen. Die rätselhafte Grundtatsache des Lebens, insbesondere des in der Seele gesammelten: daß ein Wesen immer ein anderes und doch immer dasselbe ist, wird mit der Seelenwanderung nur in einen gröberen Abstand der Momente auseinandergezogen. Oder, von dem Glauben an Seelenwanderung her blickend, ist das einzelne Leben eine Abbreviatur des durch unermeßliche Zeiten und Formen erstreckten Daseins der Seele, etwa wie man das individuelle Leben als eine kursorische Darstellung des Gattungslebens gedeutet hat oder wie der einzelne Tag in den mannigfachen Anklängen von Lust und Leid, den Vibrierungen zwischen Kraft-und Schwächeempfindungen, der Erfülltheit und Leerheit der Stunden, den Abwechslungen von Schaffen und Aufnehmen ein Miniaturbild des Gesamtlebens ist. Die verschiedenen Leiber, durch die die Seele passiert, sind nur wie Materialisationen und Fixierungen der verschiedenen Zustände, die die Seele, rein als Seele, in sich erzeugt und erfährt — wie man die Martern der Schattenleiber in der Danteschen Hölle als die Sinnbilder der Qualzustände interpretiert hat, die die sündige Seele in ihrer irdischen Existenz durchmacht. Das Schicksal der Seele zwischen der einzelnen Geburt und dem einzelnen Tode und das zwischen der ersten Geburt und dem letzten Tode, wie die Seelenwanderungslehren sie schildern, sind gegenseitig Symbole von einander.

Mit dieser Auffassung des Mythus erscheint als sein tieferer Sinn, daß er die Absolutheit von Leben und Tod gewissermaßen in eine Relativität aufhebt. An die Stelle des einmaligen Gegeneinander von beiden, dessen Härte sozusagen in kein übergreifendes Gesamtbild zu fassen ist, tritt eine einheitliche, unendliche Existenz, in der Leben und Tod sich wie die Glieder einer Kette verschlingen, jedes Anfang und Ende des andern, der Tod fortwährend die Existenz abteilend, formend, überleitend. Die Seelenwanderung wird dem modernen Menschen im allgemeinen als eine solche Paradoxie, ja, als eine so wüste Phantastik erscheinen, daß ihre Gefolgschaft unter gebildeten und hochstehenden Volksstämmen, unter ganz hervorragenden Individuen unserer Kultur schlechthin unbegreiflich wäre, wenn nicht Instinkte für tiefgelegene Lebensbestimmtheiten in ihr zu einer, wie auch wunderlichen und über alles Wissen hinausliegenden Äußerung kämen. Und sollte sich unter diesen Zusammenhängen auch die zuletzt angedeutete Symbolik befinden, so würde dies an die Erwägung schließen, von der diese Blätter ausgingen. Wenn es das Schicksal der Seele ist, unendlich oft zu sterben und in unendlich vielen, immer neuen Formen zu erstehen, und wenn dies das Symbol des individuellen Lebens ist, dessen Teile damit nur zu Totalexistenzen verbreitert werden — so erscheint damit der Tod so in alle diese Teile eingesenkt, wie es unsere ganz anders orientierte Betrachtung dort ergab. Wenn die Existenzen der ewig wandernden Seele den Tagen oder Minuten einer von ihren begrenzten Existenzperioden entsprechen, so ist der Tod jedem Tage und jeder Minute des Tages so als Grenze und Form, als Element und Bestimmung gegenwärtig, wie er den Rhythmus und die Gestaltung des Gesamtverlaufes bestimmt und gliedert. In ihrer etwas plumpen und sozusagen materialistischen Art führt die Seelenwanderung in die beiden Richtungen, in denen jene Todesvorstellung des »Parzenschnittes« überwindbar ist: sie entfernt einerseits die Absolutheit des Todes überhaupt aus dem Leben, das Leben als Ganzes wird zu dem absoluten Begriff, der von dem Wechselspiel des relativen einzelnen Lebens und des relativen einzelnen Todes konkretisiert wird, und sie senkt andererseits den Tod in den Lebensverlauf hinein, als das Gleichnis dafür, daß das Leben sozusagen in jedem Augenblick die Zäsur des Todes zu überwinden hat, daß er ein positives Moment des Lebens ist und es ununterbrochen durchflicht und formt. Jenen rohen Symbolen gleich, mit denen primitive Völker doch die tiefsten narurerkennenden und metaphysischen Ideen entwickelter Geistigkeit antizipieren, deutet die Seelenwanderung darauf hin, daß es vielleicht ein Schritt ist, der den Tod zu einem Momente des Lebens selbst macht und der ihn überwindet, der den Tod schon vor den Parzenschnitt und das Leben noch hinter ihn verlegt.
Aus: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Georg Mehlis, Band 1, 1910/11, 1. Heft (April), S.57-70, Tübingen
Auch enthalten in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1909 – 1918 Band 1 . Gesamtausgabe Band 12 (S.81ff.)
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