Dorothee Sölle (1929 - 2003)

Deutsche evangelische Theologin. Nach dem Studium der Philosophie, Theologie und den Literaturwissenschaften habilitierte sie sich 1972 an der Universität in Köln und war 1975 – 1987 Professorin am Union Theological Seminary in New York. Dorthee Sölle war verheiratet und hat vier Kinder in die Welt gesetzt. Sie war feministisch orientiert und vertrat eine umstrittene politische Theologie, die ein rein säkulare (gottferne) Humanität sucht. Gott für sie als Geber alles Guten ist - spätestens nach Auschwitz - als Herrscher der Welt tot. An das alles besiegende Glück im ewigen Leben mag sie nicht glauben. Die Aufgabe des Christentums bestehe darin, die Menschwerdung Gottes nach dem Vorbild Christi unter den Menschen dieser Welt voranzutreiben. Sölle gab sich nicht damit zufrieden bloß Theologin zu sein, nein, sie wollte »Theologie treiben«. So nahm sie als überzeugte Pazifistin 1979 – zur Zeit des NATO-Doppelbeschlusses - an der Blockade des US-Atomraketendepots in Mutlangen teil und wurde dafür gerichtlich verurteilt. Sie prangerte das Unmenschliche im Kapitalismus an: »Es klebt Blut an den Palästen der Banken« und verurteilte die »barbarische« Globalisierung und den Druck der Ökonomie auf die Politik, die nach ihrer Aufassung die Verelendung der dritten Welt förderten: »Wir leben in einem neuen Totalismus, der weit cleverer ist und geschickter ist, als die beiden anderen totalitären Herrschaftsformen, die wir kennengelernt haben. Er brüllt nicht Kommandos herum, er spricht mit softer Stimme und beherrscht doch alles.«

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Vom Ende des Theismus

>>>Christus

Wer ist Jesus Christus für uns heute?


Vom Ende des Theismus
Es mag manche verwundern, dass in der Reihe dieser Vorlesungen Gott, die Grundlage alles theologischen Nachdenkens, erst am Ende thematisiert wird. Aber zwei Gründe für diese Verschiebung im Aufbau dürften im Verlauf schon klargeworden sein. Der eine ist das Prinzip der Kontextualität, dem ich treu zu bleiben versuche und das mir die fraglos gesetzte Selbstverständlichkeit [ein Sachverhalt, der so so klar, eindeutig und einleuchtend ist, dass er ganz alleine aus sich selbst ohne weitere Fragen und weitere Begründung verständlich ist] Gottes unmöglich macht. In einer Welt lebend, in der die neuzeitliche Naturwissenschaft das Leben erklärt und beherrscht, hat es keinen Sinn, von Gott als einem unumstößlichen Ausgangspunkt auszugehen, wenn man sich kontextuell-verständlich machen will. Selbstverständlich ist nicht das einst »Gott« genannte höchste Wesen, sondern das Unvermögen, mit dieser Vokabel auch nur irgend etwas zu verbinden: unsere Lage ist charakterisiert durch einen pragmatischen, kampflosen und leidfreien Atheismus.

Der andere Grund, warum Gott hier erst am Ende thematisiert wird, hängt mit der Scheu zusammen, der Zurückhaltung davor, einen Logos von Gott zu besitzen, die Martin Buber mir eingepflanzt hat. Die Frage nach Gott zu stellen bedeutet dann zu fragen, wie wir so von Gott reden können, dass Gott ein Du bleibt und nicht in irgendeinem Sinn ein Objekt unseres Wissens, ein Es wird.

Ich gehe vom Ende des Theismus aus. Die Vorstellung eines höchsten Wesens an der Spitze der Pyramide des Seins, das alle Ordnungen ins Dasein gesetzt hat und sie erhält, ist nicht mehr denkmöglich. Gott »ist« nicht, wie der Himalaja ist, ein feststellbares, erforschbares Objekt, das zum Beispiel fotografiert werden kann. Anders gesagt, der Theismus als die selbstverständliche Annahme Gottes ist unfähig, die Erfahrungen mit Gott, die auch heute gemacht werden, zu kommunizieren. Und darauf käme es doch gerade an! Die innerste Schwierigkeit einer gegenwärtigen Gottes-Sprache, von einem Gottes-Begriff ganz zu schweigen, besteht darin, dass Christen heute in einem unauflöslichen Widerspruch leben, der zwischen dem normalen Atheismus ihrer Welt einerseits besteht und den realen Erfahrungen Gottes andererseits, in die ich die Erleidungen der Abwesenheit Gottes einschließe.

Dieser Widerspruch von »atheistisch leben« und »an Gott glauben« ist aber vielleicht nicht so unerhört und denkunmöglich, wie es zunächst erscheint. Denn auch innerhalb des Theismus, also der Annahme eines höchsten, alles bedingenden und beherrschenden himmlischen Wesens, war der existentielle Glaube an Gott keineswegs selbstverständlich. Schon Luther weiß darüber zu spotten, wenn er sagt: »Du glaubst an Gott? Da tust du auch was Rechtes! Das tut der Teufel auch!« In Wirklichkeit sind Atheismus und Theismus gleich weit von einem das Leben bestimmenden, existentiellen Glauben entfernt. In der Entwicklung meiner eigenen Theologie drückt sich das darin aus, dass mir die Frage nach Atheismus oder Theismus immer unwichtiger geworden ist. Für die lebendige Beziehung auf den Grund des Lebens und auf sein Ziel, auf das Woher und das Wohin, auf Schöpfung und Erlösung bedeuten beide gleich wenig. Das Ende des Theismus oder den Tod des theistischen Gottes sehe ich daher als Chance an, endlich konkret, auf die Lebenspraxis bezogen von Gott zu reden. Das bedeutet, Gott zu bezeugen in einer vom Tod beherrschten und auf den Tod hin orientierten Welt.

Die intellektuelle Schwierigkeit, die ich hier mit den Adjektiven »theistisch« und »konkret« benannt habe, ist im übrigen so alt wie die christliche Theologie selber. »Gott« ist in ihr sowohl Eigenname wie auch ein abstraktes Substantiv für die Gottheit. Diese Doppeldeutung zeigt ein fundamentales Problem der theologischen Reflexion an. Das Wort »Gott« bedeutet einmal ein Du, das beim Namen genannt und im Gebet angerufen werden kann, das eine Geschichte mit seinem Volk und mit dem einzelnen ins Leben gerufen hat, und zum anderen die allem zugrunde liegende Macht des Universums, die die Wirklichkeit erklärt und verstehbar macht. In der Welt vor der Aufklärung hatten sowohl die Frömmigkeit als auch die Wissenschaft es mit Gott zu tun; die biblische und die griechische Tradition waren in einer Synthese verschmolzen. Denken und Glauben hatten sich in einer Lehre von Gott gefunden; der Vater Jesu Christi nach dem Neuen Testament und der Ursprung alles Seienden, jener unbewegte Beweger, wurden als ein und derselbe verstanden. Im Rahmen der griechischen philosophischen Tradition wird die Macht des höchsten Wesens als absolut gedacht. Gott ist unwandelbar, unendlich, leidensunfähig, allwissend und allmächtig.

Diese Synthese aus »Jerusalem« und »Athen« wird mit dem Beginn der Neuzeit problematisch. Die entstehende Naturwissenschaft emanzipiert sich von aller Offenbarung und Gottesspekulation. Aber auch die Theologie ihrerseits löst sich langsam aus der Vorherrschaft des aristotelischen Denkens und erkennt, dass der Gott Abrahams und Sarahs ein anderer ist als der der Philosophen. Der biblische Gott ist nicht unveränderlich, er bereut sogar, was er zuvor getan hat (Genesis 8,21). Die in der klassischen Theologie entwickelten Symbole der Absolutheit, nämlich Allwissenheit, Allgegenwart und Allmacht Gottes, können das, was die biblische Erfahrung von Menschen mit Gott meint, nicht wirklich, nicht realitätsnah ausdrücken. Sie verleihen dem Begriff Gott ein äußerstes Maß an Transzendenz, das der religiösen Erfahrung widerspricht. Diese Über-Transzendenz oder absolute, unbezogene Transzendenz läßt die Erde gottlos zurück. Geist und Materie stehen sich dualistisch unversöhnt gegenüber, und jene mittlere Ebene religiöser Erfahrung, die wir Transzendenz-in-Immanenz nennen können, wird verschwiegen und bleibt sprachlos.

Die früheste christliche Theologie hat versucht, den Glauben mit Hilfe der griechischen philosophischen Tradition auszudrücken. Sie hat die biblische Frömmigkeit mit dem theistischen Weltbild der hierarchisch-patriarchalen Pyramide mit Gott-Vater an der Spitze verbunden, und zwar so eng, dass beim Zusammenbruch dieses Weltbildes auch die biblische Erfahrung schwand; sie wurde zunächst für eine Minderheit von Aufgeklärten, heute für die Mehrheit der Bevölkerung in den industrialisierten Ländern unverständlich und unglaubwürdig. Die Schwierigkeit der selbstverständlichen, sozusagen naiven Annahme Gottes, also das Ende des Theismus, hat dann dazu geführt, dass heute im Mittelpunkt des Nachdenkens über Gott eine ganz andere Ebene der Reflexion erreicht ist, die nicht mehr an Beweisen für die Existenz Gottes interessiert ist; es ist die Ebene der Sprachphilosophie, des möglichen, sinnvollen Sprechens über Gott.

Wie können wir sinnvoll und verstehbar über Gott reden, wenn die theistische Selbstverständlichkeit nicht mehr gegeben ist? Wie wird das Wort »Gott« überhaupt verwandt? Welche Bilder für Gott gebrauchen wir? Welche Gottessprache ist angemessen, das heißt verständlich? Warum brauchen Menschen das Sprachspiel »Gott«?

Unter dem Wort Gott läuft ja alles mögliche. Ich erinnere mich an eine theologische Konferenz, in der der amerikanische Theologe Harvey Cox plötzlich sein Portemonnaie herauszog, einen Dollarschein hochhielt und fragte: »Ist es das, was Sie mit Gott meinen? In God we trust — auf jedem Dollar?« Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass das Wort »Gott« als solches noch gar nichts Bestimmtes sagt, übrigens genausowenig wie das Wort »Göttin«. Der Kontext gehört dazu, damit man erfährt, welche Inhalte hier eigentlich transportiert werden sollen. Dem entspricht die einfache Beobachtung, die man gerade an biblischen Texten machen kann, daß manchmal von Gott die Rede ist, ohne dass das Wort »Gott« vorkommt. Eine der schönsten Geschichten aus dem Neuen Testament nennt das Wort »Gott« nicht, und doch wäre es ganz blind, zu meinen, Gott käme in der Geschichte vom barmherzigen Samariter nicht vor. Die Geschichte handelt nur von einem Mann, der unter die Räuber gefallen ist, und von verschiedenen Passanten, die sich verschieden verhalten (Lukas 10,25—37). Die Personen der Handlung beziehen sich nicht auf Gott. Offenbar hat der Erzähler Gott in dieser Geschichte versteckt, man muss ihn suchen gehen; direkt, unmittelbar erscheint Gott hier nicht.

Wenn wir von der Gottessprache reden, so kann nicht die verbale Nennung Gottes zum Entscheidenden gemacht werden. Das Verfahren Jesu ist ganz anders, wie in dieser Geschichte vom Samariter sichtbar wird. Wer Gott nicht hört, wer nicht merkt, daß Gott hier handelt und daß Jesus ja gerade deswegen den Outsider, den Samariter, den Kommunisten, den Türken gewählt hat, um auf Gott hinzuweisen jenseits der peinlichen Familiarität der Wortfetischisten, dem ist schwer zu helfen. Dasselbe gilt für das Gebet. So wie nicht alle, die mit »Lieber Gott« anfangen und mit »Amen« enden, wirklich beten, so gilt auch umgekehrt, daß die Klage, der Schrei eines Menschen Gebet sein kann, ohne daß religiöse Formeln benutzt werden. Die Formalismen helfen uns in dieser Frage nicht weiter.


Ich will das an einem Märchen erläutern, das aus den 1871 entstandenen »Träumereien an französischen Kaminen« von Richard Volkmann-Leander stammt. Das Märchen handelt von einem reichen Mann, der stirbt und sich auf den steilen Weg zum Himmel macht. Beim Empfang sagt ihm Petrus, er solle sich überlegen, wie er‘s hier oben haben wolle, jeder bekomme genau das, was er sich wünsche. Der reiche Mann wünscht sich also ein großes goldenes Schloß, jeden Tag seine Lieblingsspeisen und einen Keller voll Gold. So geschieht es, Petrus führt ihn zu diesem prächtigen Schloß, er bekommt nach Herzenslust zu essen und zu trinken und findet im Keller Säcke und Truhen voller Geld und Juwelen. In der ersten Zeit ist er glücklich, aber bald langweilt er sich. Das gute Essen schmeckt ihm nicht, das Zählen des Geldes macht keinen Spass mehr. Nach tausend Jahren kommt Petrus zurück und fragt, wie es ihm denn gefalle. Der reiche Mann poltert gleich bitterböse los, wie miserabel das nichtswürdige Schloss sei. »Man hört nichts, man sieht nichts; niemand kümmert sich um einen. Nichts wie Lügen sind es mit eurem vielgepriesenen Himmel und mit eurer ewigen Glückseligkeit!« Daraufhin wundert sich Petrus und fragt ihn: »Du weißt wohl gar nicht, wo du bist? Du denkst wohl, du bist im Himmel? In der Hölle bist du. Du hast dich ja selbst in die Hölle gewünscht! Das Schloß gehört zur Hölle.« Und damit lässt er ihn für weitere tausend Jahre allein. Der reiche Mann weint, er hat an nichts mehr Freude, wird depressiv und magert ab. Als Petrus wiederkommt, fleht er ihn an, ihm den Himmel doch wenigstens einmal zu zeigen. Da führt Petrus ihn zum Dachgeschoß in eine Bodenkammer und zeigt ihm ein Astloch. Der reiche Mann muss sich auf die Zehen stellen und sehr anstrengen, überhaupt hindurchzusehen, aber schließlich sieht er ein goldenes Licht und Gott zwischen den Wolken und Sternen. Zugleich erkennt er einen alten Bettler wieder, der neben seinem Haus lebte und der nun zu Füßen Gottes sitzt, wie er es sich gewünscht hat. Der reiche Mann kann sich gar nicht sattsehen am Himmel, und dann vergißt er zu essen und seine Schätze im Keller zu zählen und bleibt an dem winzigen Ausguck stehen und sieht den Bettler lächeln und merkt gar nicht, wie wieder tausend Jahre vergangen sind, als Petrus kommt, auch ihn in den Himmel zu holen.

Warum versteht der reiche Mann nicht, daß er in der Hölle ist? Warum bildet er sich ein, im Himmel zu sein? Ich habe zu Beginn auf den Widerspruch hingewiesen, der zwischen dem Leben in einer atheistischen Welt mit ihrer Gleichsetzung von Glück mit Reichtum und Erfolg einerseits und den Erfahrungen und Entbehrungen Gottes anderseits besteht. In diesem Widerspruch von Reichtum und Verlorenheit, Übersättigung und Hunger, Gottlosigkeit und Sehnsucht lebt der reiche Mann. Er hat alles, was er will — oder zumindest das, was er zu wollen denkt. Daß er vielleicht noch etwas anderes braucht, ist ihm unbewußt. Er ist ein ganz normaler Mensch, er stellt sich unter Gott genau das vor, was diese atheistische Welt ihn gelehrt hat: Reichtum, Konsum, Erfolg, Besitz. Was fehlt ihm denn? Warum reichen denn die Erfüllungen, die das Leben für den einzelnen in einer reichen Welt bietet, nicht zu? Ich denke, das Märchen spricht von einer Sehnsucht, einer Ungenugsamkeit am Besitzbaren, einer Suche nach dem Sinn des Lebens, die ich jetzt den »Gotteshunger« nennen will. Ein Hunger, der sich leicht vergessen läßt, wenn wir uns den Bauch mit anderen Dingen vollschlagen, der aber wiederkommt, sogar wenn wir so sehr verdrängen, wie es dieser reiche Mann im Märchen tut, und uns glauben machen, wir seien im Himmel. Wir sind abhängig von diesem Hunger nach Gott, auch in unserem prächtigen Schloß. Die Erfüllung, die wir erfahren in Beruf, Karriere, Beziehungen, Familie, können diesen Hunger nicht stillen; er bricht immer wieder auf, oft an ganz unvermuteten Stellen, etwa in den zunehmend normal werdenden Ehekrisen, die auftauchen, wenn ein Lebensabschnitt mit Ausbildung, Heirat, Kindern, Hausbau beendet ist. Alles ist gut gelaufen und sieht schön aus, und plötzlich sitzen die Leute da wie der reiche Mann im Himmel und fragen sich, warum es nicht mehr schmeckt. Warum es eigentlich keinen Sinn hat, warum es uns langweilt, warum es nur aussah wie Himmel. Was der Gotteshunger ist, wissen vielleicht diejenigen unter uns am besten, die aus dem normalen Netz der Sicherheiten herausfallen: die Kranken, die Depressiven, die Süchtigen, also die vielen, die gerade innerhalb der Wohlstandsgesellschaft an den spezifischen Wohlstandskrankheiten, nämlich den Abhängigkeiten, erkranken. Die Süchtigen sehen klarer als die Tüchtigen.

Vielleicht fragt jemand, mit welchem Recht ich diesen Hunger, diese Suche nach Sinn denn »Gotteshunger« nenne. Im Sinne einer negativen Theologie würde ich antworten, dass nichts und niemand diesen Hunger stillen kann, und in diesem Nichts steckt eine Aussage darüber, was die Religionen »Gott« nennen. Sie versuchen in verschiedenen Bildern und Sprachen von der ursprünglichen Kraft des Lebens, von dem Ursprung und Ziel aller Dinge zu reden. Von diesem großen X im Herzen der Welt, das viele verschiedene Namen hat, viele verschiedene Gesichter trägt und in den verschiedensten Sprachen benannt wird, handeln die Religionen. Sie sagen eigentlich nichts anderes als: Ohne dieses X bist du nicht ganz, bist du nur halb, fehlt dir die Verbindung zum Geheimnis des Lebens. Ohne dieses X ist kein Segen in dem, was du tust, findest du keinen Frieden, gewinnst du keine Gewißheit. Ohne X bist du ein ersetzbares Schräubchen in der Megamaschine. Die Erfahrung und das Lebensgefühl vieler Menschen ist, nicht gebraucht zu werden und in diesem Sinn überflüssig zu sein. Die Religionen antworten auf diese negative Erfahrung und sagen: Gott braucht dich.

Ist es aber möglich, eine solche religiöse Gewißheit anderen mitzuteilen, sie kommunikationsfähig zu machen unter den Bedingungen der Moderne? Wie können wir verständlich von Gott reden, wenn uns die alte weltanschauliche Gewißheit des Theismus nicht mehr trägt? Wird damit nicht alles Reden von Gott ganz und gar der Subjektivität und Beliebigkeit unterworfen?

Die heutigen theologischen Paradigmen artikulieren verschiedene Antworten auf diese Situation. Die orthodoxe Theologie, vielfach mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis verbunden, beharrt auf einem Gott der absoluten Transzendenz, der nicht nur für die Frömmigkeit, sondern auch für das weithin vorwissenschaftliche Weltverständnis maßgebend sein soll. Eine Anpassung an die Moderne findet nur sehr begrenzt statt; das bedeutet, daß Gottes Immanenz im menschlichen Leben hinter seiner Transzendenz zurücktritt. Die biblische Konkretheit, die Geschichte Gottes mit seinem Volk wird irrelevant. So wird, wie wir gesehen haben, der Friede Gottes ausgelegt als transzendentes Eingreifen einer außerirdischen Macht, die nicht mehr prophetisch als in, mit und durch uns wirkend verstanden wird. Der Gott der Orthodoxie erstarrt zu einem objektivierbaren Fetisch. Dass in pietistischen Gemeinden manchmal geglaubt wird, man könne den Glauben eines jungen Pfarrers testen, indem man abzählt, wie oft er das Wort »Gott« oder »Jesus Christus« gebraucht, ist ein grotesker Ausdruck nicht nur der Primitivität, sondern auch der Glaubenslosigkeit: Gott wird zählbares Objekt.

Von der psychologischen Innenseite her ist dieser Gott das tiefste Symbol einer autoritären Religion. Dem autoritären Gott ist Macht wichtiger als Gerechtigkeit und Liebe. Nach Erich Fromm ist autoritäre im Gegensatz zu humanitärer Religion gekennzeichnet durch drei strukturelle Merkmale:

— Sie verlangt die Anerkennung einer höheren Macht, die unser Schicksal in Händen hat und Selbstbestimmung ausschließt.

— Die Menschen werden der Herrschaft dieser Gottesmacht unterworfen, ohne daß diese Macht sich sittlich, als Liebe und Gerechtigkeit, legitimieren müßte.

— Es herrscht ein tiefer anthropologischer Pessimismus; Menschen sind macht- und bedeutungslose Wesen, der Wahrheit und der Liebe nicht fähig, ihre Verleugnung der eigenen Stärke wird als »Gehorsam« ged
eutet.

Erich Fromm setzt dieser autoritären Religion idealtypisch die humanitäre, nichtrepressive Religion gegenüber. Sie beruht nicht auf einseitiger, asymmetrischer Abhängigkeit der machtlosen Menschen von einem Machthaber. Ihr Ziel ist nicht Unterwerfung und Gehorsam, sondern Vereinigung mit dem Willen Gottes, wie sie exemplarisch in Jesu Leben und Sterben sich vollzieht. Ihre Sünde ist nicht die Auflehnung gegen den als allmächtig verstandenen Vater, sondern die Selbstverfehlung des zur Freiheit geschaffenen Menschen, in der er oder sie gerade »das von Gott in uns« verleugnet.

Ihrem Anspruch nach erscheint dieser andere, nicht-repressive Gott in der liberalen Theologie. Sie hat auf die Erklärung der Welt durch den Gott der Philosophen zunehmend verzichtet. Sie behauptet weder die Selbstverständlichkeit noch die Notwendigkeit Gottes für die Erkenntnis der Welt. Ihre Sprache richtet sich an das Gewissen des einzelnen. Anstelle der objektivierbaren Wahrheiten der Orthodoxie setzt sie die Subjektivität, allerdings eine Subjektivität im Dialog mit Schrift und Tradition. Gott lädt ein, aber er zwingt nicht.

Auf welcher Grundlage reden wir eigentlich über Gott? Das ist eine der zwischen Orthodoxie und Liberalismus strittigen Fragen. Ist es überhaupt möglich, objektiv über Gott zu reden, oder gibt es da nur subjektive Gefühle? Die Gefahr der objektiven Gottes-Aussagen ist, daß eine außerweltliche Autorität beansprucht wird und, oft vermittelt durch den Begriff der »Offenbarung«, unhinterfragbare Wahrheiten etabliert und zu Herrschaftszwecken verwandt werden. Die Gefahren einer rein subjektiven Sprache sind aber nicht geringer; sie vereinzelt unsere Erfahrung so, daß sie eigentlich nicht mehr kommunizierbar wird. »Ich kann dir das nicht erklären, ich fühl‘ es eben so«, kann den Abbruch der Kommunikation ausdrücken. Dann wird Religion zu einer Art Privatneurose, für jeden ein eigenes Zeichen- und Verständnis-System. Zwischen objektiven und subjektiven Wahrheitsansprüchen gibt es aber eine bessere Methode, in der beide dem Test der Erfahrung ausgesetzt werden.

»Erfahrung« ist ein Grundbegriff der feministischen Theologie. Auch wenn er manchmal innerhalb der religiösen Frauenbewegung überzogen und dann kaum mehr reflektiert wird, so ist er doch grundlegend für die Kritikfähigkeit von Frauen und anderen Unterdrückten, die sich gegen eine herrschende Theorie, Meinung oder Ideologie auf ihre Erfahrung, ihr Selberleben berufen. Das wichtigste Kriterium für diesen Begriff ist die Intersubjektivität, das heißt die Mitteilbarkeit von Erfahrung. Es geht also, wiederum auf die Frage nach Gott bezogen, nicht darum, daß ich diesen Gott habe und du jenen Gott hast, sondern gerade um das Mitteilen von Erfahrungen, in denen wir uns gemeinsam wiederfinden. Eine der wichtigsten Aufgaben der feministischen Theologie ist es, eine gemeinsame Gottessprache zu finden, die dieses Teilen einübt. Die bessere Methode dafür ist der jenseits von autoritären oder subjektivistischen Wahrheitsansprüchen anzusiedelnde Dialog. Was ist ein Dialog oder was verstehen wir unter der dialogischen Methode? Ich will hier drei Bedingungen des Dialogs nennen, die für feministisches und anderes Befreiungsdenken unverzichtbar sind.

- Der Dialog muss herrschaftsfrei sein. Keinerlei Zwang darf ausgeübt werden. Wenn meine Antwort auf eine Frage Folgen für meine Karriere hat, wenn Druck ausgeübt wird zum Beispiel von einer Autorität, dann ist die Herrschaftsfreiheit nicht gegeben.


- Die zweite Bedingung ist die Intersubjektivität. Die verschiedenen Subjekte geraten mit ihren Erfahrungen in einen Austauschprozess, dem alle Beteiligten sich so rückhaltlos wie irgend möglich stellen.

- Dabei gehen sie, drittens, ein Risiko ein, das zugleich die Chance des Dialogs ist, nämlich die Möglichkeit der Veränderung. Die Bereitschaft, sich verändern zu lassen, wenn ich in einen Dialog mit der religiösen Tradition eintrete, ist unverzichtbar. Es mag sein, dass ich im Dialog Dinge aufgeben muss, die mir lieb und vertraut waren. Und zugleich lebt der Dialog von der Hoffnung aller, die eigene Erfahrung für andere produktiv zu machen.

Diese Methode des erfahrungsbezogenen und praxisrelevanten Dialogs stellt in ihren philosophischen Grundlagen ein Element dar, das über die liberale Theologie und ihren »god-talk« hinausgeht. Die innere Schwierigkeit gegenwärtiger theologischer Grundsatzreflexion besteht, wie mir scheint, in einer gewissen Beliebigkeit, die die alte Notwendigkeit der Theologie ersetzt hat. Im Prozeß der Säkularisierung wurde »das Übernatürliche und das Überhistorische« problematisiert. Gott wird zur Erklärung der Weltgeschichte nicht mehr benötigt. Beispielsweise schreibt Hans Weder in seiner Hermeneutik über die historisch-kritische Methode und die in ihr vorausgesetzte prinzipielle Säkularität der Geschichte: »Es ergibt sich methodisch die Notwendigkeit, Gott als geschichtlichen Faktor auszuschließen. Das bedeutet nichts anderes als die Aufhebung der Notwendigkeit Gottes.« Diese Aufhebung soll zwar »Gott bloß im Rahmen weltlicher Selbstverständlichkeit« betreffen, es wird aber nicht deutlich, welche anderen als diese es denn geben könnte.

Die Fragen, die sich von einer erfahrungsbezogenen befreiungstheologischen Position her an die liberale Theologie stellen, lauten: Welcher Gott ist hier gemeint? Aus welchen Erfahrungen wird Gott als nicht notwendig begriffen? Wessen Erfahrungen sind es, die auf Gott verzichten lassen? Es sind die Erfahrungen des weißen Europäers, der in der Pose des Siegers der Natur und allem, was ihm als ungebändigte Natur erscheint, wie Wilde, Ureinwohner oder Frauen, gegenübersteht. Jedenfalls sind es nicht die Erfahrungen des Leidens, der Vergewaltigung, der Angst um das Leben, der Zerstörtheit. Die »Aufhebung der Notwendigkeit Gottes« kann sich nur auf den griechisch gedachten Gott beziehen. Nur der unbezogene Gott wird nicht gebraucht. Weder spricht an anderer Stelle von der »Alltäglichkeit, die keineswegs nach einer theologischen Interpretation ruft, so wenig wie die Natur danach ruft, ein Tempel Gottes geheißen zu werden«. Das mag für den objektiven Beobachter einer zeitlosen Natur zutreffen; für diejenigen, die die Zerstörung des Tempels heute an ihrem eigenen Leibe erfahren, sind solche Sätze unerträglich. Eine Alltäglichkeit von mindestens 40000 Hungertoten pro Tag ruft in der Tat nach einer theologischen Interpretation, sie ruft nach einem Gott, der zwar nicht notwendig ist, die Welt zu erklären im Sinne des naturwissenschaftlichen Weltverständnisses, der aber wohl notwendig ist für die, die aus dieser liberalen Hermeneutik ganz herausfallen, eben die Opfer der alltäglichen Brutalität.

Aus: Dorothee Sölle, Gott denken . Einführung in die Theologie (Serie Piper 3416, S.219-229)
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