Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zu Stein (1757 – 1831)

Deutscher Politiker, der 1812, nachdem er von Napoleon geächtet wurde, als Berater des Kaisers Alexander I. nach Russland ging und danach den preußischen König in Breslau dazu bewegte, ein deutsch-russisches Bündnis einzugehen. Beim Wiener Kongress war er Vertrauensmann des russischen Kaisers. Stein war ein engagierter Befürworter des deutschen Bundesstaats und kämpfte gegen die Wiederherstellung der alten politischen Verhältnisse. Der Vollständigkeit halber ist noch zu erwähnen, dass Stein Mitglied bei den Freimaurern war.

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Vom Wesen der Dinge

Wirklich ist, was wirkt, was auf ein Wahrnehmungsvermögen wirkt, was wir sehen und hören. Wie sollte das nicht wirklich sein, was unser ganzes Gemüt einnimmt und gleichzeitig in sich hineinzieht? Es ist eine Macht der Wirklichkeit, die dieses vermag.

Die Wirklichkeit ist voller Wunder; nur sehen wir sie nicht alle und sehen sie nicht jederzeit. Die Dichter aber gleichen den Sonntagskindern, welche nach dem Märchen die Geister zuerst sehen, und besitzen überdies die heilvolle Gabe, sich über das, was sie gesehen haben, uns anderen schlicht, anschaulich und allverständlich mitzuteilen.

Die seelischen Erlebnisse sind es allein, welche eine eigentümliche absolute Geltung beanspruchen, und demnach, über das bloße Begriffsspiel der Wissenschaften hinaus, eine Philosophie verlangen. Eine begriffliche Orientierung über die letzten Gründe des Seins hat demnach immer nur in Beziehung auf das Gemüt Wert, und auch Halt; denn ohne die im Gemüt vertretene Form des Bewusstseins würden wir uns von gar keinem unbedingten Sein wirklich überzeugen können.

Wie lange braucht der menschliche Geist, um sich mit den Dingen unbedingter Weise einzulassen, und keine im eigentlichen Sinne gespenstischen Existenzen in und um sich zu vermuten. In der wahren, tiefen und erhaben-tragischen Wirklichkeit seines Seelenlebens fand er endlich alle jene Mysterien in ihrer ganzen Bedeutung wieder, ohne weiter nach gespenstischen Objekten desselben zu suchen.

Man kann nicht genug Ausdrucksformen für folgende Gedanken finden: Das Beste in uns ist, sucht, und schaut etwas über alle Wirklichkeit hinaus; ist aber dennoch mit der Wirklichkeit vital verknüpft – oder die ideellen Antizipation [Vorwegnahme] reicht über unser Leben, und über unser Erdenglück hinweg; ist aber dem Leben und dem lebendigen Menschenglück nicht durchaus unverwandt.

Ihr seht: die Großes wollen, leiden zwar schwer, führen es aber dennoch hinaus. Dies ist das Gesetz ihrer Natur. Es könnte sich nicht verwirklichen, wenn die Geschicke und die äußere Natur von gänzlich anderem Stoff wären (dann wäre es wie eine Seifenblase in Mehl: sie könnte nicht aufkommen). Vielmehr aber; ziemt es dir, an der Natur wie an dem Deinigen teilzunehmen, so sei gewiss, dass sie auch dir nicht im tiefsten Grunde ihres Wesens dauernd widerspricht. – Schopenhauers scheinbare Übersichtlichkeit. Dührings Vertrauen auf die Natur.

Der Stoff jeder möglichen »Metaphysik« ist das Innermenschliche: behutsam haben wir von der einstimmigen Annahme aller wahrhaft weisen Weltbetrachter auszugehen, dass in fernsten Fernen des Alls nie etwas dem menschlichen Innenleben gänzlich Unverwandtes angetroffen werde.

Bewusst aber ist uns der Wille, als innere Atemkraft unseres Lebens und Empfindens; als solche aber wird er von uns in den Dingen überhaupt vorausgesetzt, in diesen jedoch sich zu besonderer Art bestimmend. So hält er gleichsam den Atem an in der unbelebten Natur; er atmet leise in den Pflanzen, deren Anblick uns deshalb so milde und rührend bedünkt, und bereits näher verwandt; denn wahrlich gänzlich unverwandt sind uns Wind und Welle nicht - unmöglich wäre mir das zu denken, ich müsste mich selbst nicht denken dürfen, wäre es so.

Eine höchste Seelenkraft, sich der Dinge für das Gemüt zu bemächtigen und sich selbst in Darstellung von Gegenständen zu deutlichem Ausdruck zu bringen – dieses erste und ursprüngliche Zeichen der Herrschaft des Menschen über die Natur ist das künstlerische Vermögen, aus welchem alle Künste im einzelnen hervorgehen, wie Funktionen eines Organs.

Der Gehalt der Dinge ist immer da, aber er offenbart sich uns nur in der künstlerischen Betrachtung. Er ist objektiv, aber stumm; Sprache gewinnt er im menschlichen Gemüt.

Form eines Gegenstands ist der frei und im vollen Strome eines unbedingten Eindruckes aus dem Gegenstande selbst uns ansprechende Gehalt; dass der Gehalt in der Anschauung, im Gegenstande liege und nicht hinzu gedacht werden müsse, darin eben besteht das Künstlerische seiner Darstellung.

Form ist demnach die zum Sprechen gebrachte Seele des Gegenstandes.

In der schönen Erscheinung atmet in vollen Zügen, was auch in uns als Atem und Ahnung unserer Seele lebt.

Ein sehr schöner Anblick erfüllt uns mit der Überzeugung, dass ein uns befreundetes Wesen, auf unaussprechliche Weise, in den Dingen walte.

Der Mensch ist die Seele der Dinge. Erschaue sie in Christo. Erkenne sie in allem Wirklichen. Heilige sie in dir. Der Blick der Entfremdung. Wert der Dinge.

Anregung – Steigerung. S. 297-300
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 159, Heinrich von Stein: Idee und Welt. Das Werk des Philosophen und Dichters. Herausgegeben von Günter Ralfs © 1940 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart