Max Stirner, eigentlich Johann Kaspar Schmidt (1806 – 1856)

>>>Gott


Inhaltsverzeichnis
Der Spuk
Der Unmensch
Mein Selbstgenuss


Der Spuk

Allein durch Christus war zugleich die Wahrheit der Sache zutage gekommen, daß der eigentliche Geist oder das eigentliche Gespenst - der Mensch sei. Der leibhaftige oder beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder Dasein. Fortan graut dem Menschen nicht eigentlich mehr vor Gespenstern außer ihm, sondern vor ihm selber: er erschrickt vor sich selbst. In der Tiefe seiner Brust wohnt der Geist der Sünde, schon der leiseste Gedanke (und dieser ist ja selber ein Geist) kann ein Teufel sein usw. - Das Gespenst hat einen Leib angezogen, der Gott ist Mensch geworden, aber der Mensch ist nun selbst der grausige Spuk, hinter den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirklichkeit und zum Reden zu bringen sucht: der Mensch ist - Geist. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geist gerettet wird: auf den Geist kommt alles an, und das Geistes- oder »Seelenheil« wird alleiniges Augenmerk. Der Mensch ist sich selbst ein Gespenst, ein unheimlicher Spuk geworden, dem sogar ein bestimmter Sitz im Leibe angewiesen wird (Streit über den Sitz der Seele, ob im Kopfe usw.). S.44 [...]

Der Unmensch
Mit dürren Worten zu sagen, was ein Unmensch sei, hält nicht eben schwer: es ist ein Mensch, welcher dem Begriffe Mensch nicht entspricht, wie das Unmenschliche ein Menschliches ist, welches dem Begriffe des Menschlichen nicht angemessen ist. Die Logik nennt dies ein »widersinniges Urteil«. Dürfte man wohl dies Urteil, daß einer Mensch sein könne, ohne Mensch zu sein, aussprechen, wenn man nicht die Hypothese gelten ließe, daß der Begriff des Menschen von der Existenz, das Wesen von der Erscheinung getrennt sein könne? Man sagt: der erscheint zwar als Mensch, ist aber kein Mensch.

Dies «widersinnige Urteil« haben die Menschen eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch gefällt! Ja, was noch mehr ist, in dieser langen Zeit gab es nur — Unmenschen. Welcher Einzelne hätte seinem Begriffe entsprochen? Das Christentum kennt nur einen Menschen, und dieser eine - Christus - ist sogleich wieder im umgekehrten Sinne ein Unmensch, nämlich ein übermenschlicher Mensch, ein »Gott«. Wirklicher Mensch ist nur der - Unmensch.

Menschen, die keine Menschen sind, was wären sie anders als Gespenster? Jeder wirkliche Mensch ist, weil er dem Begriffe »Mensch« nicht entspricht, oder weil er nicht »Gattungsmensch« ist, ein Spuk. Aber bleibe Ich auch dann noch ein Unmensch, wenn Ich den Menschen, der nur als mein Ideal, meine Aufgabe, mein Wesen oder Begriff über Mich hinausragte und Mir jenseitig blieb, zu meiner Mir eigenen und inhärenten Eigenschaft herabsetze, so daß der Mensch nichts anderes ist, als meine Menschlichkeit, mein Menschsein, und alles, was Ich tue, gerade darum menschlich ist, weil Ich‘s tue, nicht aber darum, weil es dem Begriffe «Mensch« entspricht? ich bin wirklich der Mensch und Unmensch in Einem; denn Ich bin Mensch und bin zugleich mehr als Mensch, d. h. Ich bin das Ich dieser meiner bloßen Eigenschaft.

Es mußte endlich dahin kommen, daß man Uns nicht mehr bloß zumutete, Christen zu sein, sondern Menschen zu werden; denn obwohl Wir auch Christen niemals wirklich werden konnten, sondern immer «arme Sünder« blieben (der Christ war ja eben auch ein unerreichbares Ideal), so kam dabei doch die Widersinnigkeit nicht so zum Bewußtsein und die Täuschung war leichter, als jetzt, wo an Uns, die Wir Menschen sind und menschlich handeln, ja gar nicht anders können, als dies zu sein und so zu handeln, die Forderung gestellt wird: Wir sollen Menschen sein, «wirkliche Menschen«. S.194-195 [...]

Mein Selbstgenuss
Wir stehen an der Grenzscheide einer Periode. Die bisherige Welt sann auf nichts als auf Gewinn des Lebens, sorgte fürs — Leben. Denn ob alle Tätigkeit für das diesseitige oder für das jenseitige, für das zeitliche oder für das ewige Leben in Spannung gesetzt wird, ob man nach dem »täglichen Brote« lechzt («Gib Uns unser täglich Brot«) oder nach dem »heiligen Brote« (»das rechte Brot vom Himmel»; «das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt;« »das Brot des Lebens.« Joh. 6.), ob man ums »liebe Leben« sorgt oder um das »Leben in Ewigkeit«: das ändert den Zweck der Spannung und Sorge nicht, der im einen wie im andern Falle sich als das Leben ausweist. Kündigen sich die modernen Tendenzen anders an? Man will, daß Niemand mehr um die nötigsten Lebensbedürfnisse in Verlegenheit komme, sondern sich darin gesichert finde, und anderseits lehrt man, daß der Mensch sich ums Diesseits zu bekümmern und in die wirkliche Welt einzuleben habe, ohne eitle Sorge um ein Jenseits.

Fassen Wir dieselbe Sache von einer andern Seite auf. Wer nur besorgt ist, daß er lebe, vergißt über diese Ängstlichkeit leicht den Genuß des Lebens. Ist‘s ihm nur ums Leben zu tun und denkt er, wenn Ich nur das liebe Leben habe, so verwendet er nicht seine volle Kraft darauf, das Leben zu nutzen, d. h. zu genießen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem man‘s verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin den Lebendigen, indem man es und sich verzehre. Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens.

Nun — den Genuß des Lebens suchen Wir auf! Und was tat religiöse Welt? Sie suchte das Leben auf. »Worin besteht das wahre Leben, das selige Leben usw.? Wie ist es zu erreichen? Was muß der Mensch tun und werden, um ein wahrhaft Lebendiger zu sein? Wie erfüllt er diesen Beruf?« Diese und ähnliche Fragen deuten darauf hin, daß die Fragenden erst sich suchten, sich nämlich im wahren Sinne, im Sinne der wahrhaftigen Lebendigkeit. »Was Ich bin, ist Schaum und Schatten; was Ich sein werde, ist mein wahres Ich.« Diesem Ich nachzujagen, es herzustellen, es zu realisieren, macht die schwere Aufgabe der Sterblichen aus, die nur sterben, um aufzuerstehen, nur leben, um zu sterben, nur leben, um das wahre Leben zu finden.

Erst dann, wenn ich meiner gewiß bin und mich nicht mehr suche, bin ich wahrhaft mein Eigentum: Ich habe mich, darum brauche und genieße ich mich. Dagegen kann ich meiner nimmermehr froh werden, solange ich denke, mein wahres Ich hätte ich erst noch zu finden, und es müsse dahin kommen, daß nicht ich, sondern Christus in mir lebe oder irgend ein anderes geistiges, d.h. gespenstisches Ich, z.B. der wahre Mensch, das Wesen des Menschen u. dergl. S.358-359 [...]

Die konservative Tendenz des Christentums erlaubt nicht anders an den Tod zu denken, als mit der Absicht, ihm seinen Stachel zu nehmen und - hübsch fortzuleben und sich zu erhalten. Alles läßt der Christ geschehen und über sich ergehen, wenn er - der Erzjude - sich nur in den Himmel hineinschachern und schmuggeln kann; sich selbst töten darf er nicht, er darf sich nur - erhalten, und an der »Bereitung einer zukünftigen Stätte« arbeiten. Konservatismus oder »Überwindung des Todes« liegt ihm am Herzen: »Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod« (1. Kor. 15, 26.) »Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium« (2. Tim. 1, 10.). »Unvergänglichkeit«, Stabilität. S.361
Aus: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum
Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer
Reclams Universalbibliothek Nr. 3057 (S. 44, 194-195, 358-359, 361)
© 1972 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags