David Friedrich Strauss (1808 – 1874)

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Inhaltsverzeichnis

Über kaum eine große Persönlichkeit der Geschichte wissen wir so wenig wie über Jesus
Die Unterscheidung des historischen von dem idealisierten Christus
Jesus – das Vorbild des Gottmenschen?

Über kaum eine große Persönlichkeit der Geschichte wissen wir so wenig wie über Jesus
Diese Einsicht kommt uns eben an dieser Stelle um so gelegener, je gründlicher sich uns am Schlusse unseres kritischen Geschäfts die Überzeugung aufdringt, wie mangelhaft und unsicher unsere historische Kunde von Jesus ist.

Nachdem wir die Masse von mythischen Schlinggewächsen verschiedener Art, die sich an dem Baume hinaufgerankt, entfernt haben, sehen wir, dass, was wir bisher für Äste, Belaubung, Farbe und Gestalt des Baumes selber hielten, großteils vielmehr jenen Schlinggewächsen angehörte; und statt dass uns nun nach Wegräumung derselben der Baum in seinem wahren Bestand und Aussehen wiedergegeben wäre, finden wir vielmehr, wie die Schmarotzer ihm die eigenen Blätter abgetrieben, den Saft ausgesogen, Zweige und Äste verkümmert haben, seine ursprüngliche Figur mithin gar nicht mehr vorhanden ist.

Jeder mythische Zug, der zu dem Bilde Jesu hinzukam, hat nicht nur einen geschichtlichen verdeckt, so dass mit der Wegräumung des ersteren der letztere wieder zum Vorschein käme, sondern gar viele sind auch von den darüber gelagerten mythischen Gebilden gänzlich aufgezehrt worden und verloren gegangen.

Man hört es nicht gern, und glaubt es darum auch nicht, wer sich aber einmal ernstlich mit dem Gegenstande beschäftigt hat und aufrichtig sein will, der weiß es so gut wie wir, dass wir über wenige große Männer des Geschichte so ungenügend wie über Jesus unterrichtet sind. Wie ohne alle Vergleichung deutlicher ist uns die um vierhundert Jahre ältere Gestalt des Sokrates. Zwar von seiner Jugend- und Bildungsgeschichte wissen wir gleichfalls wenig; was er aber in seinen reifen Jahren gewesen ist, gewollt und gewirkt hat, wissen wir genau, die Gestalten seiner Schüler und Freunde stehen mit geschichtlicher Deutlichkeit vor uns, über die Ursachen und den Verlauf seiner Verurteilung und seines Todes sind wir vollständig unterrichtet. Hauptsächlich ist es aber sein Leben, wenn auch einzelne anekdotenhafte Ansätze nicht fehlen, von dem mythischen Beiwerke verschont geblieben, in welchen die geschichtlichen Figuren mancher älteren griechischen Philosophen, z. B. des Pythagoras, in ähnlicher Art wie die Gestalt Jesu, nahezu untergegangen sind. Diese Erhaltung seines Bildes verdankt Sokrates dem Umstande, dass er in der gebildesten Stadt Griechenlands in einer Zeit der hellsten Verstandesaufklärung und der höchsten Blüte der Schriftstellerei lebte, wie denn mehrere seiner Schüler ausgezeichnete Schriftsteller waren und zum Teil ihren Lehrer zum Gegenstand ihrer Darstellungen machte.

Xenophon und Plato – wem fällt dabei nicht Matthäus und Johannes ein, aber wie ungünstig für die beiden letzteren fällt die Vergleichung aus. Für’s Erste waren die Verfasser der sokratischen Denkwürdigkeiten, der beiden Gastmahle, des Phädon u. s. f. wirkliche Schüler des Sokrates; die Verfasser des ersten und vierten Evangeliums hingegen keine unmittelbaren Schüler von Jesus. Über die genannten Schriften der beiden Attiker dürften uns gar keine äußeren aufbehalten sein, wir würden sie doch an jedem Zug als Werke von Zeitgenossen und persönlichen Bekannten des Sokrates erkennen; bei den beiden Evangelien möchten die Zeugnisse für ihr apostolische Abfassung noch so alt und einstimmig sein, wir würden ihnen doch keinen Glauben schenken, weil der Augenschein widerspricht.
Für’s Andere geht das Bestreben der beiden Schriftsteller über Sokrates durchaus dahin, uns seine Eigentümlichkeit und seinen Wert als Mensch, als Staatsbürger, als Denker und Jugendbildner, anschaulich zu machen.

Das tun zwar unsere beiden Evangelisten in ihrer Art auch. Aber es ist ihnen nicht genug. Ihr Jesus soll ja mehr als Mensch, er soll ein gottgezeugter Wundermann, ja nach dem einen von ihnen gar das eingefleischte Schöpferwort gewesen sein. Daher geht in ihrer Darstellung nicht bloß neben der Lehrtätigkeit Jesu eine Reihe von Wundertaten und Wunderschicksalen her, sondern in die Lehre selbst, die sie ihm in den Mund legen, mischt sich dieses Wunderelement ein, so dass sie Jesum Dinge von sich aussagen lassen, die ein Mensch von gesunden Sinnen unmöglich von sich ausgesagt haben kann.

Für’s Dritte stimmen Plato und Xenophon in allem Wesentlichen, was sie von Sokrates erzählen, überein. Manches berichten sie gleichlautend; einzelne Züge, die dem einen eigentümlich sind, gehen doch mit denen, die der andere an die Hand gibt, auf’s Beste in ein Bild zusammen: und wenn Xenophon, was die philosophische Bedeutung des Sokrates betrifft, ebenso unter seinem Gegenstande bleibt, als Plato sich freischöpferisch über denselben hinausschwingt und seinem Sokrates platonische Spekulationen in den Mund legt, so berichtigt sich beides durch die Vergleichung beider Schriftsteller leicht, und ist nicht bloß auf Seiten Xenophon’s als unwillkürliche Unzulänglichkeit, sondern auch auf Seiten Plato’s deswegen unverfänglich, wie er mit seinen sokratischen Dialogen den Anspruch eines historischen Schriftstellers gar nicht macht.

Wie unvereinbar dagegen der matthäische und johanneische Christus sind, und wie angelegentlich gleichwohl namentlich der Verfasser des vierten Evangeliums die Wahrheit seiner Berichte beteuert, haben wir gesehen. Seine Wurzel aber hat Alles, wodurch sich die auf uns gekommenen Nachrichten über Jesus von denen über Sokrates in Absicht auf die historische Zuverlässigkeit zu ihrem Nachteil unterscheiden, in dem Unterschiede der Zeitalter und der Volkstümlichkeiten. Der reinen Luft und dem hellen Licht attischer Bildung und Aufklärung, worin uns das Bild des Sokrates so deutlich erscheint, steht der dicke, trübe Nebel jüdischen Wahns und Aberglaubens und alexandrinischer Schwärmerei gegenüber, woraus uns die Gestalt Jesu kaum noch als menschliche erkennbar entgegenblickt.

Man könnte sagen und hat oft gesagt, das Ungenügende der evangelischen Lebensnachrichten über Jesum ergänze sich reichlich dadurch, dass wir sein Werk, die christliche Kirche, noch vor uns haben, und nun von diesem auf seinen Urheber zurückschließen können. So wissen wir ja z. B. auch von Shakespeare wenig Geschichtliches, und manches Fabelhafte wird ihm nachgesagt; wir lassen uns das aber wenig anfechten, da seine Dichtungen uns in den Stand setzen, uns das Bild seiner Persönlichkeit in voller Deutlichkeit herzustellen. Die Vergleichung wäre treffend, wenn wir das Werk des galiläischen Propheten ebenso aus erster Hand hätten, wie die Werke des britischen Dichters. Aber jenes Werk ist durch gar viele Hände hindurchgegangen, die sich aus Einschiebungen, Auslassungen und Umänderungen aller Art kein Gewissen gemacht haben; die christliche Kirche ist schon in ihrer frühesten Gestalt, wie sie im Neuen Testament erscheint, bereits durch so viele andere Faktoren, als die Persönlichkeit Jesu mitbestimmt, dass der Rückschluss von ihr auf ihn ein höchst unsicherer ist. Schon der auferstandene Christus, auf welchen die Kirche gegründet wurde, ist ja ein anderer, als der Mensch Jesus gewesen war, und von hier aus bildete sich dann die Vorstellung von ihm und seinem Erdenleben, wie die Gemeinde selbst, in einer Weise um, dass sehr die Frage ist, wenn Jesus etwa um die Zeit der Zerstörung Jerusalems wiedergekommen wäre, ob er in dem Christus, den man damals vor der Gemeinde predigte, sich wieder erkannt haben würde.

Ich glaube nicht, dass es so schlimm steht, wie schon behauptet worden ist, dass wir von keinem einzigen der Aussprüche, die in den Evangelien Jesu in den Mund gelegt werden, gewiss wissen können, ob er denselben wirklich getan hat. Ich glaube, dass es deren gibt, die wir mit aller der Wahrscheinlichkeit, über welche ja in geschichtlichen Dingen ohnehin nicht hinauszukommen ist, Jesu zuschreiben dürfen, und habe ohne die Zeichen bemerklich zu machen gesucht, woran wir solche erkennen können. Aber sehr weit erstreckt sich diese der Gewissheit nahekommende Wahrscheinlichkeit nicht, und mit den Taten und Begebenheiten des Lebens Jesu sieht es, seine Reise nach Jerusalem und seinen Tod ausgenommen, noch übler aus. Wenigstens steht fest, und gerade von demjenigen, woran der Kirchenglaube sich vorzugsweise knüpft, dem Wunderbaren und Übermenschlichen in den Taten und Schicksalen Jesu, steht vielmehr fest, dass es nicht geschehen ist. Dass nun aber von dem Glauben an Dinge, von denen zum Teil gewiss ist, dass sie nicht geschehen sind, zum Teil ungewiss, ob sie geschehen sind, und nur zum geringsten Teil außer Zweifel, dass sie geschehen sind, dass von dem Glauben an dergleichen Dinge des Menschen Seligkeit abhängen sollte, ist so ungereimt, dass es heutzutage keiner Widerlegung mehr bedarf.

Die Unterscheidung des historischen von dem idealisierten Christus
Nein, die Seligkeit des Menschen, oder verständiger gesprochen, die Möglichkeit, dass er seine Bestimmung erfülle, die ihm eingepflanzten Kräfte entwickle, und damit auch des entsprechenden Maßes von Wohlsein teilhaftig werde, sie kann – darin behält der alte Reimarus ewig recht – unmöglich an der Anerkenntnis von Tatsachen hängen, über welche unter Tausenden kaum Einer eine gründliche Untersuchung anzustellen, und schließlich auch dieser zu keinem sicheren Ergebnis zu kommen im Stande ist. Sondern, so gewiss die menschliche Bestimmung eine allgemeine und jedem erreichbare ist, müssen auch die Bedingungen sie zu erreichen, d. h. außer und vor dem Willen, der sich nach dem Ziel in Bewegung setzt, die Erkenntnis dieses Zieles selbst, jedem Menschen gegeben, sie darf nicht eine zufällige, von außen kommende Geschichtskenntnis, sondern muss eine notwendige Vernunfterkenntnis sein, die jeder in sich selbst finden kann.
Das will jener tiefsinnige Ausspruch von Spinoza sagen, zur Seligkeit sei es nicht in allewege nötig, Christum nach dem Fleisch zu kennen; aber mit jenem ewigen Sohn Gottes, nämlich der göttlichen Weisheit, die in allen Dingen, besonders im menschlichen Gemüte zur Erscheinung komme und in ausgezeichneter Weise in Jesus Christus zur Erscheinung gekommen sei, verhalte es sich anders: ohne diese könne allerdings Niemand zur Seligkeit gelangen, weil sie allein lehre, was wahr und falsch, gut und böse sei.

Wie Spinoza, so unterschied auch Kant von der geschichtlichen Person Jesu das in der Vernunft liegende Ideal der gottgefälligen Menschheit, oder der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist. In diesem Ideale sich zu erheben, sei allgemeine Menschenpflicht; allein, obwohl wir uns dasselbe nicht anders vorstellen können, als unter dem Bilde eines vollkommenen Menschen, und obwohl, dass ein solcher Mensch einmal gelebt habe, nicht unmöglich sei, da wir ja alle jenem Ideale gleichen sollten, so komme es doch nicht darauf an, dass wir von der Existenz eines solchen Menschen wissen oder daran glauben, sondern lediglich darauf, dass wir uns jenes Ideal uns vorhalten, es als für uns verpflichtend anerkennen, und uns ihm ähnlich zu machen streben.

Die Unterscheidung des historischen Christus von dem idealen, d. h. dem in der menschlichen Vernunft liegenden Urbilde des Menschen, wie er sein soll, und die Übertragung des seligmachenden Glaubens von dem ersteren auf das letztere, ist das unabweisliche Ergebnis der neueren Geistesentwicklung; es ist die Fortbildung der Christusreligion zur Humanitätsreligion, worauf alle edleren Bestrebungen dieser Zeit gerichtet sind. Dass man darin so vielfach einen Abfall vom Christentum, eine Verleugnung Christi sieht, beruht auf einem Missverstand, an welchem die Ausdrucksweise, vielleicht auch die Denkart der Philosophen, die jene Unterscheidung gemacht haben, nicht ohne Schuld ist. Sie sprechen nämlich so, als wäre das Urbild menschlicher Vollkommenheit, nach dem sich der Einzelne zu richten hat, in der Vernunft ein für allemal gegeben; wodurch es den Schein gewinnt, als könnte dieses Urbild, d. h. der ideale Christus, in uns ganz ebenso wie jetzt vorhanden sein, wenn auch niemals ein historischer Christus gelebt und gewirkt hätte. So steht es aber in der Wirklichkeit keineswegs.

Die Idee menschlicher Vollkommenheit ist, wie andere Ideen, dem menschlichen Geiste zunächst nur als Anlage mitgegeben, die durch Erfahrung allmählich ihre Ausbildung erhält. Sie zeigt bei verschiedenen Völkern, nach Maßgabe ihrer Naturbeschaffenheit, ihrer klimatischen und geschichtlichen Verhältnisse, eine verschiedene Gestaltung, und lässt uns im Verlauf der Geschichte einen Fortschritt bemerken. Der Römer dachte sich den Menschen, wie er sein soll, anders als der Grieche, der Jude anders als beide, der Grieche nach Sokrates anders und unstreitig vollkommener als vorher. Jeder sittlich hervorragende Mensch, jeder große Denker, der das handelnde Wesen des Menschen zum Gegenstande seines Forschens machte, hat in engeren oder weiteren Kreisen geholfen, jene Idee zu berichtigen, zu ergänzen, weiter zu bilden. Und unter diesen Fortbildnern des Menschenideals steht in jedem Fall Jesus in erster Linie. Er hat Züge in dasselbe eingeführt, die ihm vorher fehlten, oder doch unentwickelt geblieben waren, andere beschränkt, die seiner allgemeinen Gültigkeit im Wege standen; hat demselben durch die religiöse Fassung, die er ihm gab, eine höhere Weihe, durch die Verkörperung in seiner eigenen Person die lebendigste Wärme gegeben; während die Religionsgesellschaft, die von ihm ausging, diesem Ideale die weiteste Verbreitung unter der Menschheit verschaffte. Freilich ging die Religionsgesellschaft von ganz anderen Dingen als von der sittlichen Bedeutung ihres Stifters aus, und brachte diese daher zunächst nichts weniger als rein zur Darstellung – in der einzigen Schrift unseres Neuen Testaments, die vielleicht von einem unmittelbaren Schüler Jesu herrührt, der Offenbarung Johannis, lebt ein Christus, von dem für das Ideal wenig zu gewinnen ist; aber die Züge der Duldung, der Milde und Menschenliebe, die Jesus zu den herrschenden in jenem Bilde gemacht hat, blieben der Menschheit doch unverloren, und sind es eben gewesen, aus denen alles das, was wir jetzt Humanität nennen, hervorkeimen konnte.

Jesus – das Vorbild des Gottmenschen?
Indes, so hoch immer Jesus unter denjenigen steht, welche der Menschheit das, was sie sein soll, reiner und deutlicher vorgebildet haben, so war er doch hierin der weder erste noch der letzte, sondern, wie er in Israel und Hellas, am Ganges und Oxus, Vorgänger gehabt hat, so ist er auch nicht ohne Nachfolger geblieben, vielmehr ist auch nach ihm jenes Vorbild weiter entwickelt, allseitiger ausgebildet, seine verschiedenen Züge mehr in’s Gleichgewicht gegen einander gebracht worden. Es ist nicht zu verkennen, dass in dem Muster, wie es Jesus in Lehre und Leben darstellte, neben der vollen Ausgestaltung einiger Seiten, andere nur schwach umrissen, oder auch gar nicht angedeutet sind. Voll entwickelt findet sich Alles, was sich auf Gottes- und Nächstenliebe, auf Reinheit des Herzens und Lebens der Einzelnen bezieht: aber schon das Leben in der Familie tritt bei selbst familienlosen Lehrer in den Hintergrund, dem Staate gegenüber erscheint sein Verhältnis als ein lediglich passives; dem Erwerb ist er nicht bloß für sich, seines Berufs wegen, abgewendet, sondern auch sichtbar abgeneigt, und Alles vollends, was Kunst und schönen Lebensgenuss betrifft, bleibt völlig außerhalb seines Gesichtskreises.

Dass dies wesentliche Lücken sind, dass hier eine Einseitigkeit vorliegt, die teils in der jüdischen Volkstümlichkeit, teils in den Zeitverhältnissen, teils in den besonderen Lebensverhältnissen Jesu ihren Grund hat, sollte man nicht leugnen wollen, da man es nicht leugnen kann. Und die Lücken sind etwa der Art, dass nur die vollständige Durchführung fehlte, während der regelnde Grundsatz gegeben wäre; sondern für den Staat insbesondere, den Erwerb und die Kunst fehlt von vorneherein der rechte Begriff, und es ist ein vergebliches Unternehmen, die Tätigkeit des Menschen als Staatsbürger, das Bemühen um Bereicherung und Verschönerung des Lebens durch Gewerbe und Kunst, nach den Vorschriften oder dem Vorbilde Jesu bestimmen zu wollen. Sondern hier war eine Ergänzung sowohl maus anderen Volkstümlichkeiten, als aus anderen Zeit-, Staats- und Bildungsverhältnissen heraus erforderlich, wie sie zum Teil schon rückwärts in demjenigen lag, was Griechen und Römer in dieser Hinsicht vor sich gebracht hatten, zum Teil aber der weiteren Entwicklung der Menschheit und ihrer Geschichte vorbehalten blieb.

Doch schließen sich alle diese Ergänzungen an das von Jesus Gegebene auf’s beste an, wenn man nur erst dieses selbst als eine menschliche, mithin der Fortbildung so fähige als bedürftige Errungenschaft begriffen hat.

Fasst man hingegen Jesum als den Gottmenschen, als das von Gott in die Menschheit hereingestellte, allgemein und ausschließlich gültige Musterbild auf, so muss man natürlich jede Ergänzung dieses Musters von sich weisen, seine Einseitigkeit und Unvollständigkeit zur Regel machen, und gegen alle diejenigen Seiten menschlicher Tätigkeit, die in demselben nicht vertreten, ablehnend oder doch nur äußerlich regulierend sich verhalten. Ja, indem neben und über dem von Jesu dargestellten sittlichen Musterbilde er selbst als der Gottmensch stehen bleibt, an welchen zu glauben noch außer und vor der Anerkennung jenes Musterbildes Pflicht des Menschen und Bedingung seiner Seligkeit sei, so wird dadurch das, worauf eben Alles ankommt, in zweite Linie zurückgedrängt, die sittliche Größe Jesu in ihrer vollen Wirksamkeit verkümmert, auch die sittlichen Pflichten, die ihre Geltung nur daher haben können, dass sie in der Natur des menschlichen Wesens liegen, in das falsche Licht positiver göttlicher Gebote gestellt.

Darum lebt der Kritiker der Überzeugung, keinen Frevel an dem Heiligen zu begehen, vielmehr ein gutes notwendiges Werk zu tun, wenn er alles dasjenige, was Jesum zu einem übermenschlichen Wesen macht, als wohlgemeinten und zunächst vielleicht auch wohltätigen, in die Länge aber schädlichen und jetzt geradezu verderblichen Wahn hinwegräumt, das Bild des geschichtlichen Jesus in seinen schlicht menschlichen Zügen, so gut es sich noch tun lässt, wiederherstellt, für ihr Seelenheil aber die Menschheit an den idealen Christus, auf jenes sittliche Musterbild verweist, an welchem der geschichtliche Jesus zwar mehrere Hauptzüge zuerst ins Licht gesetzt hat, das aber als Anlage ebenso zur allgemeinen Mitgift unserer Gattung gehört, wie seine Weiterbildung und Vollendung nur die Aufgabe und das Werk der gesamten Menschheit sein kann. S.158ff.
Kröner Stuttgart, David Friedrich Strauss: Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, Zweiter Band