David Friedrich Strauss (1808 – 1874)

Deutscher evangelischer Theologe, der zunächst in Blaubeuren und Tübingen Philosophie und Theologie studierte. Nach seiner Promotion nahm Strauss im Winter 1831/2 in Berlin an Vorlesungen Hegels und Schleiermachers (über das Leben Jesu) teil. 1832 - 1835 war er Philosophie-Repetent am Tübinger Stift. Mit dem Erscheinen seines Werkes »Das Leben Jesu« (1835) endete seine akademische Laufbahn aufgrund kirchlicher Einsprüche. Danach war Strauss als Gymnasialprofessor und freier Schriftsteller in Ludwigsburg tätig. Sein von Hegel beeinflusstes Hauptwerk »Das Leben Jesu« erklärte das Christentum zur wahren Humanitätsreligion. die aus den mythischen Berichten der Evangelien herauszuarbeiten ist. Konsequent stellte er damit die Leben-Jesu-Forschung auf ein historisch-kritisches Fundament. In seiner »Christliche Glaubenslehre « (1840/41) versuchte er nachzuweisen, dass christliche Glaubensvorstellungen nicht mit philosophischen Begriffen interpretiert werden könnten und übte damit Kritik am Dogma. In »Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte« (1864) setzte er sich mit Schleiermacher auseinander. In seinem Alterswerk »Der alte und der neue Glaube« (1872) wendete er vom Christentum ab und bekannte sich stattdessen zu einer Glaubens-Mischung aus Pantheismus, Darwinismus und bürgerlicher Kulturreligion..

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon


Inhaltsverzeichnis

Der monotheistische Gottesbegriff
Göttliche Wohnungsnot

Die spekulative Christologie
Wahrheit und Unwahrheit der Religion

  Christus
Über kaum einen Großen der Geschichte wissen wir so wenig wie über Jesus
Die Unterscheidung des historischen von dem idealisierten Christus
Jesus – das Vorbild des Gottmenschen?

Der monotheistische Gottesbegriff
Unser heutiger monotheistischer Gottesbegriff hat zwei Seiten, die der Absolutheit und die der Persönlichkeit, die zwar in ihm vereinigt sind, doch so, wie bisweilen in einem Menschen zwei Eigenschaften, davon die eine ihm nachweislich von der väterlichen, die andre von mütterlichen Seite kommt: das eine Moment ist die jüdisch-christliche, das andre die griechisch-philosophische Mitgift unsres Gottesbegriffs. Das alte Testament, können wir sagen, hat uns den Herrn-Gott, das neue den Gott-Vater, die griechische Philosophie aber hat uns die Gottheit oder das Absolute vererbt.

Auch der Jude allerdings dachte sich seinen Jehova absolut, soweit er für diesen Begriff die Fassungskraft hatte, d. h. wenigstens in Macht und Dauer unbeschränkt; vor Allem war ihm sein Gott ein Wesen, das sich als persönliches geltend machte. Nicht bloß dass derselbe in der Urzeit im Garten wandelt und mit Adam spricht; dass er später in menschlicher Verkleidung sich von dem Erzvater unter dem Baume bei seiner Hütte bewirten lässt; dass er mit dem Gesetzgeber auf dem Berge verhandelt und ihm selbst die beiden Tafeln einhändigt: sondern seine ganze Haltung als zorniger und eifriger Gott, der es bereut, die Menschen gemacht zu haben, und sie zu vertilgen sich anschickt, der die Vergehungen seines erwählten Volkes als Beleidigungen aufnimmt und rächt, ist durchaus die eines persönlichen Wesens. Die im Christentum geschehene Verwandlung des Herrn-Gotts in den Gott-Vater hat das persönliche Moment nicht angetastet, im Gegenteil ihm noch Verstärkung gebracht. Je gemütlicher der Verkehr des Frommen mit seinem Gotte sich gestaltet, desto sicherer wird ihm derselbe als Person erscheinen, da ein gemütliches Verhältnis nur zu einer Person, wenigstens einer vermeintlichen, möglich ist.

Dagegen war es der Philosophie bei ihrem Gottesbegriff von jeher in erster Linie um die andre Seite, die der Absolutheit, zu tun. Sie wollte ein höchstes Wesen, von dem sie Dasein und die Einrichtung der Welt ableiten konnte. Dabei waren ihr aber gerade manche von den persönlichen Attributen, die Judentum und Christentum ihrem Gottesbegriff beigemischt hatten, hinderlich und anstößig. Nicht nur den bereuenden und zornigen, auch einen Gott, bei dem durch menschliche Gebete etwas zu erreichen ist, konnte sie nicht brauchen. Sie ging nicht darauf aus, Gott die Persönlichkeit zu nehmen, aber sie arbeitete darauf hin. Denn sie wollte ihren Gott schrankenlos haben, und die Persönlichkeit ist eine Schranke.


Göttliche Wohnungsnot
Man findet bisweilen Kopernikus als denjenigen hingestellt, der durch sein neues Weltsystem dem alten Juden- und Christengotte gleichsam den Stuhl unter dem Leibe weggezogen habe. Das ist ein Irrtum, nicht bloß in persönlicher Beziehung, sofern Kopernikus wie Kepler und Newton nicht aufhörte, ein gläubiger Christ zu sein, sondern auch in Bezug auf seine Theorie. Diese verhielt sich nur für den Kreis unseres Sonnensystems reformatorisch; jenseits desselben ließ sie die Fixsternsphäre, das erweiterte biblische Firmament, bestehen, eine feste kristallene Kugelschale, die wie eine Nussschale unsere Sonnen- und Planetenwelt umschloss, so dass jenseits ihrer Raum genug für einen wohl eingerichteten Himmel mit Gottesthron u. s. w. blieb. Erst wie in der Folge durch fortgesetzte Beobachtung und Rechnung die Fixsterne als ähnliche Körper wie unsere Sonne, mutmaßlich mit ähnlichen Planetensystemen um sich her, erkannt waren, als die Welt sich in eine Unendlichkeit von Weltkörpern, der Himmel in einen optischen Schein auflöste: da erst trat an den alten persönlichen Gott gleichsam die Wohnungsnot heran.

Man sagt wohl, das schade nichts, man wisse ja längst, dass Gott allgegenwärtig, eines besonderen Sitzes nicht bedürfe. Das weiß man allerdings, aber man vergisst es auch wieder. Der Verstand denkt sich Gott wohl allgegenwärtig, aber die Einbildungskraft kann sich darum doch des Bestrebens nicht entschlagen, sich ihn räumlich vorzustellen. Das konnte sie früher ungehindert, als sie noch über einen geeigneten Raum verfügte; jetzt ist es ihr erschwert durch die Einsicht, dass ein solcher Raum nirgends vorhanden ist. Denn diese Einsicht dringt aus dem Verstande unabwendbar auch in die Einbildungskraft hinüber. Wer das Weltsystem nach dem jetzigen Stande der Astronomie in der Vorstellung trägt, kann sich einen thronenden von Engeln umgebenen Gott nicht mehr vorstellen.

Die Engelumgebung gehört aber mit dazu, wenn man sich Gott persönlich denken will. Eine Person muss auch ihre Gesellschaft, ein Herrscher seine Dienerschaft haben. Die Engel aber fallen bei unserer jetzigen Weltvorstellung gleichfalls weg, die nur noch Bewohner von Weltkörpern, keinen göttlichen Hofstaat mehr kennt. Also kein Himmel als Palast mehr, keine Engel, die um seinen Thron versammelt sind, ferner auch Donner und Blitz nicht mehr seine Geschosse, Krieg, Hunger und Pest nicht mehr seine Geißeln, sondern Wirkungen natürlicher Ursachen: seit er so alle Attribute persönlichen Seins und Waltens verloren hat, wie könnten wir uns Gott noch persönlich denken?
S.29-30
Kröner Stuttgart 1904, David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube

Die spekulative Christologie.
Schon Kant hatte gesagt, das gute Prinzip sei nicht bloß zu einer gewissen Zeit, sondern vom Ursprung des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vorn Himmel in die Menschheit herabgekommen und Schelling stellte den Satz auf: die Menschwerdung Gottes ist eine Menschwerdung von Ewigkeit. Aber während der erstere unter jenem Ausdruck nur die moralische Anlage verstanden hatte, welche mit ihrem Ideal und ihrem Sollen von jeher dem Menschen eingepflanzt gewesen sei: verstand der letztere unter dem menschgewordenen Sohn Gottes das Endliche selbst, wie es im Menschen zum Bewusstsein kommt, und in seinem Unterschied von dem Unendlichen, mit dem es doch Eins ist, als ein leidender und den Verhältnissen der Zeit unterworfener Gott erscheint.

In der neuesten Philosophie ist dies weiter so ausgeführt worden. Wenn Gott als Geist ausgesprochen wird, so liegt darin, da auch der Mensch Geist ist, bereits, dass beide an sich nicht verschieden sind. Näher ist in der Erkenntnis Gottes als Geistes, da der Geist wesentlich dies ist, in der Unterscheidung seiner von sich identisch mit sich zu bleiben, im Andern seiner sich selbst zu haben, dies enthalten, dass Gott nicht als sprödes Unendliche außer und aber dem Endlichen verharrt, sondern in dasselbe eingeht, die Endlichkeit, die Natur und den menschlichen Geist, nur als seine Entäußerung setzt, aus der er ebenso ewig wieder in die Einheit mit sich selbst zurückkehrt.

So wenig der Mensch als bloß endlicher und an seiner Endlichkeit festhaltender Geist Wahrheit hat: so wenig hat Gott als bloß unendlicher, in seiner Unendlichkeit sich abschließender Geist Wirklichkeit; sondern wirklicher Geist ist der unendliche nur , wenn er zu endlichen Geistern sich erschließt: wie der endliche Geist nur dann wahrer ist, wenn er in den unendlichen sich vertieft. Das wahre und wirkliche Dasein des Geistes also ist weder Gott für sich, noch der Mensch für sich, sondern der Gottmensch; weder allein seine Unendlichkeit, noch allein seine Endlichkeit, sondern die Bewegung des Sichhingebens und Zurücknehmens zwischen beiden, welche von göttlicher Seite Offenbarung, von menschlicher Religion ist.

Sind Gott und Mensch an sich Eins, und ist die Religion die menschliche Seite, das werdende Bewusstsein dieser Einheit: so muss diese in der Religion auch für den Menschen werden, in ihm zum Bewusstsein und zur Wirklichkeit kommen. Freilich, so lange der Mensch sich selbst noch nicht als Geist weiß, kann er auch Gott noch nicht als Menschen wissen; ist er noch natürlicher Geist, so wird er die Natur vergöttern; als gesetzlicher Geist, der seine Natürlichkeit nur erst auf äußerliche Weise bemeistert, wird er Gott als Gesetzgeber sich gegenüberstellen; aber sind nur einmal im Gedränge der Weltgeschichte beide, jene Natürlichkeit ihres Verderbens, diese Gesetzlichkeit Ihres Unglücks, inne geworden: so wird sowohl jene das Bedürfnis empfinden, einen Gott zu haben, der sie aber sich erhebe, als diese einen, der sich zu ihr herunterlasse. Ist die Menschheit einmal reif dazu, die Wahrheit, dass Gott Mensch, der Mensch göttlichen Geschlechtes ist, als ihre Religion zu haben: so muss, da die Religion die Form ist, in welcher die Wahrheit für das gemeine Bewusstsein wird, jene Wahrheit auf eine gemeinverständliche Weise, als sinnliche Gewissheit, erscheinen, d. h. es muss ein menschliches Individuum auftreten, welches als der gegenwärtige Gott gewusst wird.

Sofern dieser Gottmensch das jenseitige göttliche Wesen und das diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschließt, kann von ihm gesagt werden, dass er den göttlichen Geist zum Vater, und eine menschliche Mutter habe; sofern sein Selbst sich nicht in sich, sondern in die absolute Substanz reflektiert, nichts für sich, sondern nur für Gott sein will, ist er der Sündlose und Vollkommene; als Mensch von göttlichem Wesen ist er die Macht über die Natur und Wundertäter; aber als Gott in menschlicher Erscheinung ist er von der Natur abhängig, ihren Bedürfnissen und Leiden unterworfen, befindet sich im Stand der Erniedrigung. Wird er der Natur auch den letzten Tribut bezahlen müssen?

Hebt die Tatsache, dass die menschliche Natur dem Tod verfällt, nicht die Meinung wieder auf, dass sie an sich Eins mit der göttlichen sei? Nein: der Gottmensch stirbt, und zeigt dadurch, dass es Gott mit seiner Menschwerdung Ernst ist; dass er zu den untersten Tiefen der Endlichkeit herabzusteigen nicht verschmäht, weil er auch aus diesen den Rückweg zu sich zu finden weiß, auch in der völligsten Entäußerung mit sich identisch zu bleiben vermag. Näher, sofern der Gottmensch als der in seine Unendlichkeit reflektierte Geist den Menschen als an ihrer Endlichkeit festhaltenden gegenübersteht: ist hiermit ein Gegensatz und Kampf gesetzt, und der Tod des Gottmenschen als gewaltsamer, durch der Sünder Hände, bestimmt, wodurch zu der physischen Not noch die moralische der Schmach und Beschuldigung des Verbrechens kommt.

Findet so Gott den Weg vom Himmel bis zum Grabe: so muss für den Menschen auch aus dem Grabe der Weg zum Himmel zu finden sein; das Sterben des Lebensfürsten ist das Leben des Sterblichen. Schon durch sein Eingehen in die Welt als Gottmensch zeigte sich Gott mit der Welt versöhnt: näher aber, indem er sterbend seine Natürlichkeit abstreifte, zeigte er den Weg, wie er die Versöhnung ewig zu Stande bringt, nämlich durch Entäußerung zur Natürlichkeit und Wiederaufhebung derselben identisch mit sich zu bleiben. Insofern der Tod des Gottmenschen nur Aufhebung seiner Entäußerung und Niedrigkeit ist, ist er in der Tat Erhöhung und Rückkehr zu Gott, und so folgt auf den Tod wesentlich die Auferstehung und Himmelfahrt.

Indem der Gottmensch, welcher während seines Lebens den mit ihm Lebenden sinnlich als ein Andrer gegenüberstand , durch den Tod ihren Sinnen entnommen wird, geht er in ihre Vorstellung und Erinnerung ein , wird somit die in ihm gesetzte Einheit des Göttlichen und Menschlichen allgemeines Bewusstsein, und die Gemeinde muss die Momente seines Lebens, welche er äußerlich durchlief, in sich auf geistige Weise wiederholen. Im Natürlichen sich schon vorfindend, muss der Gläubige, wie Christus, dem Natürlichen — aber nur innerlich, wie er äußerlich — sterben, geistig, wie Christus leiblich, sich kreuzigen und begraben lassen, um durch Aufhebung der Natürlichkeit mit sich als Geist identisch zu sein, und zu Christi Seligkeit und Herrlichkeit Anteil zu bekommen. S.729ff.
Aus: David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet. In Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Werner Zager Theologische Studientexte Band 15. Verlag Hartmut Spenner


Wahrheit und Unwahrheit der Religion
Aus »Der alte und der neue Glaube«, Kap. II, Abschnitt 43 u. 44. Erstmalig gedruckt 1872.
Der Natur gegenüber, von der er sich zunächst abhängig findet, ist dem Menschen als normaler Weg der Befreiung der der Arbeit, der Kultur, der Erfindung vorgezeichnet. Hier winkt seinen Wünschen die gründliche, reale Befriedigung; manches von den Wunschattributen, die der Mensch früherer Zeitalter seinen Göttern beilegte, - ich will nur das Vermögen schnellster Raumdurchmessung als Beispiel anführen - hat er jetzt, infolge rationeller Naturbeherrschung, selbst an sich genommen. Doch das war ein langer, mühseliger Weg, dessen Ziele der Mensch früherer Jahrtausende nicht einmal ahnen konnte. Ehe er lernte, der Krankheit durch natürliche Mittel Meister zu werden, mußte er sich ihr entweder selbstlos ergeben, oder ihrer mittelst eines Fetischs, eines Dämons, eines Gottes, Meister zu werden suchen. Und ein Rest bleibt doch immer; selbst am Ziele jenes rationellen Weges geht die Rechnung nicht auf.

Mag die Medizin noch so viele Krankheiten heilen gelernt haben: manche widerstehen ihr doch, und für den Tod ist kein Kraut gewachsen. Mag die Landwirtschaft von heute noch so viele Vorteile über die Natur gewonnen haben: gegen Frost und Hagel, gegen übermäßige Nässe oder Dürre muß sie sich immer noch wehrlos bekennen. Da bleibt fort und fort Raum für Wünsche, für Bittgänge und für Messen. Oder höher hinauf in der Religion: bei aller Arbeit an sich selbst, allem Kampfe mit seiner Sinnlichkeit und Selbstsucht, genügt der Mensch seinem eigenen sittlichen Verlangen doch immer nicht; er wünscht sich eine Reinheit, eine Vollkommenheit, die er sich selbst nicht zu schaffen weiß, die er nur im Blute des Erlösers, durch Übertragung seiner Gerechtigkeit auf ihn mittelst des Glaubens, zu erreichen hoffen darf.

Freilich, verkennen läßt sich nicht: die Sache so angesehen, erscheint nur der rationelle, weltliche, oder, was die Arbeit des Menschen an sich selbst betrifft, der moralische Weg, zum Ziele seiner Wünsche zu gelangen, als der wahre und rechte, der religiöse als der eines angenehmen Selbstbetruges. Darin liegt, bei gleichem Ausgangspunkte, der Gegensatz zwischen Feuerbachs und Schleiermachers Ansicht von der Religion. Bei dem letzteren ist die Religion das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, und da dieses ein unleugbar richtiges Gefühl von der Stellung des Menschen in der Welt ist, so ist auch die Religion eine Wahrheit.

Auch Feuerbach erkennt in dem Abhängigkeitsgefühl des Menschen den letzten Grund der Religion; aber um sie wirklich hervorzurufen, muß der Wunsch hinzutreten, dieser Abhängigkeit auf dem kürzesten Wege eine für den Menschen vorteilhafte Wendung zu geben. Dieser Wunsch, dieses Streben ist an sich gleichfalls in der Ordnung; aber der kürzeste Weg, worauf es zum Ziele kommen will, durch Beten, Opfern, Glauben u. s. f., darin liegt der Wahn; und weil eben dieser kürzeste Weg das Unterscheidende aller bisherigen Religion ist, so erscheint auch sie selbst auf diesem Standpunkt als ein Wahn, den sich und der Menschheit abzutun, das Bestreben jedes zur Einsicht Gekommenen sein müßte.

Auf diesem Punkte sehen wir die Schätzung der Religion, von der wir am Anfang dieses Abschnittes ausgegangen sind, in ihr gerades Gegenteil sich verkehren. Statt eines Vorzuges der menschlichen Natur erscheint sie als eine Schwachheit, die der Menschheit vorzüglich während der Zeiten ihrer Kindheit anklebte, der sie aber mit dem Eintritt der Reife entwachsen soll. Das Mittelalter war um ebensoviel religiöser als unsere Zeit, als es unwissender und ungebildeter war; und dasselbe Verhältnis findet in der Gegenwart z. B. zwischen Spanien und Deutschland, oder in Deutschland zwischen Tirol und Sachsen statt. Religion und Bildung stünden hienach nicht in gleichem, sondern in dem umgekehrten Verhältnis, daß mit dem Fortschreiten der letzteren die erstere zurücktritt.

Zwar läßt sich zweierlei hiegegen einwenden. Einmal unterscheidet man wahre und falsche Religion, Aberglauben und echte Frömmigkeit; und ebenso kann man zwischen wahrer und falscher Kultur oder Aufklärung unterscheiden. Das Mittelalter, kann man hiernach sagen, war abergläubiger, nicht wirklich frömmer als unsere Zeit; und wenn in unserer Zeit die Kultur wirklich der Frömmigkeit Eintrag getan hat, so ist dies eine falsche, oberflächliche Bildung gewesen.

Allein mit dieser Auskunft ist es nicht getan. Wir wollen, um die Sache bestimmter zu fassen, Religion und Religiosität, oder die Religion in extensivem und intensivem Sinne unterscheiden. Da mag man etwa sagen: das Mittelalter glaubte mehr, hatte einen reicheren Glaubensstoff als unsere Zeit; aber es war darum keineswegs intensiv frömmer. Dies einen Augenblick zugegeben, so waren aber im Mittelalter nicht bloß der Glaubensartikel, sondern auch der religiösen Momente im Leben der Menschen, der Gesellschaft und des einzelnen, mehrere; im täglichen Treiben des mittelalterlichen Christen kam das religiöse Element, als Gebet, Kreuzschlagen, Messehören u. s. f., viel häufiger und ununterbrochener zur Ansprache als bei einem heutigen. Und damit geht doch auch das andere, das Intensive der Frömmigkeit, Hand in Hand. Weder so zahlreiche Virtuosen der Frömmigkeit, wie sie damals besonders in den Klöstern lebten, noch so hohe einzelne Meister darin, wie ein heil.

Bernhard, ein heil. Franziskus, und selbst später noch ein Luther, sind jetzt noch zu finden; unsere Schleiermacher, unsere Neander, machen neben jenen alten Meistern eine sehr weltliche Figur. Zunächst kommt dies daher, daß, wie wir gesehen haben, eine Menge von Dingen, die auf früheren Kulturstufen den Menschen religiös erregten, jetzt als begriffen im gesetzmäßigen Naturzusammenhang erkannt sind, mithin das fromme Gefühl nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch sehr mittelbar und schwach erregen. Auch den anderen und Hauptgrund des Rückgangs der Religion in unserer Zeit haben wir in der bisherigen Betrachtung bereits gefunden. Es ist der Umstand, daß wir das absolute Wesen nicht mehr so herzhaft wie unsere Vorfahren als ein persönliches fassen können. Es ist nicht anders: so sehr bis auf einen gewissen Punkt Religion und Geistesbildung Hand in Hand gehen, so ist dies doch nur so lange der Fall, als die Bildung der Völker sich vorzugsweise in der Form der Einbildungskraft hält; sobald sie Verstandesbildung wird, und besonders sobald sie durch Beobachtung der Natur und ihrer Gesetze sich vermittelt, fängt ein Gegensatz sich zu entwickeln an, der die Religion immer mehr beschränkt. Das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleicht dem Gebiete der Rothäute in Amerika, das, man mag es beklagen oder mißbilligen so viel man will, von deren weißhäutigen Nachbarn von Jahr zu Jahr mehr eingeengt wird....

Aber Beschränkung, wohl auch Umwandlung, ist noch keine Vernichtung. Die Religion ist in uns nicht mehr was sie in unseren Vätern war; daraus folgt aber nicht, daß sie in uns erloschen ist.

Geblieben ist uns in jedem Falle der Grundbestandteil aller Religion, das Gefühl der unbedingten Abhängigkeit. Ob wir Gott oder Universum sagen: schlechthin abhängig fühlen wir uns von dem einen wie von dem anderen. Auch dem letzteren gegenüber wissen wir uns als »Teil des Teils«, unsere Kraft als ein Nichts im Verhältnis zu der Allmacht der Natur, unser Denken nur imstande, langsam und mühsam den geringsten Teil dessen zu fassen, was die Welt uns als Gegenstand des Erkennens bietet. Doch eben dieses Erkennen, so beschränkt es sein mag, führt uns noch zu einem anderen Ergebnis. Wir nehmen in der Welt einen rastlosen Wechsel wahr; bald aber entdecken wir in diesem Wechsel ein Bleibendes, Ordnung und Gesetz.

Wir nehmen in der Natur gewaltige Gegensätze, furchtbare Kämpfe wahr; aber wir finden, wie durch sie der Bestand und Einklang des Ganzen nicht gestört, im Gegenteil erhalten wird. Wir nehmen weiterhin einen Stufengang, eine Hervorbildung des Höheren aus dem Niedrigern, des Feinen aus dem Groben, des Milden aus dem Rohen wahr. Und uns selbst finden wir in unserem persönlichen wie in unserem geselligen Leben desto mehr gefördert, je mehr es uns gelingt, auch in und um uns das willkürlich Wechselnde der Regel zu unterwerfen, aus dem Niedrigen das Höhere, aus dem Rohen das Zarte zu entwickeln. Dergleichen nennen wir, wenn wir es im Kreise des menschlichen Lebens antreffen, vernünftig und gut. Das Entsprechende, das wir in der Welt um uns her wahrnehmen, können wir nicht umhin, ebenso zu nennen. Und da wir uns übrigens von dieser Welt schlechthin abhängig fühlen, unser Dasein wie die Einrichtung unseres Wesens nur aus ihr herleiten können, so werden wir sie, und zwar in ihrem Vollbegriff, oder als Universum, auch als die Urquelle alles Vernünftigen und Guten betrachten müssen.

Daß das Vernünftige und Gute in der Menschenwelt von Bewußtsein und Willen ausgeht, daraus hat die alte Religion geschlossen, daß auch das, was sich in der Welt im großen Entsprechendes findet, von einem bewußten und wollenden Urheber ausgehen müsse. Wir haben diese Schlußweise aufgegeben, wir betrachten die Welt nicht mehr als das Werk einer absolut vernünftigen und guten Persönlichkeit, wohl aber als die Werkstätte des Vernünftigen und Guten. Sie ist uns nicht mehr angelegt von einer höchsten Vernunft, aber angelegt auf die höchste Vernunft.

Da müssen wir freilich, was in der Wirkung liegt, auch in die Ursache legen; was herauskommt, muß auch drinnen gewesen sein. Das ist aber nur die Beschränktheit unseres menschlichen Vorstellens, daß wir so unterscheiden; das Universum ist ja Ursache und Wirkung, Äußeres und Inneres zugleich. Wir stehen hier an der Grenze unseres Erkennens, wir schauen in eine Tiefe, die wir nicht mehr durchdringen können. Das aber können wir wissen, daß das Persönliche, das uns daraus entgegenzublicken scheint, nur das Spiegelbild des Hineinschauenden ist. Blieben wir uns des letzteren Umstandes immer klar bewußt, so wäre gegen den Ausdruck: Gott, so wenig einzuwenden, als gegen das Reden von Auf- und Untergang der Sonne, neben dem wir uns des wahren Sachverhaltes vollkommen bewußt bleiben. Aber die Bedingung trifft nicht zu. Selbst der in unserer neueren Philosophie beliebt gewordene Begriff des Absoluten neigt sich leicht wieder zum Persönlichen hin. Darum ziehen wir die Bezeichnung: All oder Universum vor, ohne zu übersehen, daß diese hinwiederum die Gefahr mit sich bringt, an die Gesamtheit der Erscheinungen, statt an den Einen Inbegriff der sich äußernden Kräfte und sich vollziehenden Gesetze zu denken. Aber wir sagen lieber zu wenig als zu viel.

Immerhin indessen ist uns dasjenige, wovon wir uns schlechthin abhängig fühlen, mitnichten bloß eine rohe Übermacht, der wir mit stummer Resignation uns beugen, sondern zugleich Ordnung und Gesetz, Vernunft und Güte, der wir uns mit liebendem Vertrauen ergeben. Und noch mehr: da wir die Anlage zu dem Vernünftigen und Guten, das wir in der Welt zu erkennen glauben, in uns selbst wahrnehmen, uns als die Wesen finden, von denen es empfunden, erkannt, in denen es persönlich werden soll, so fühlen wir uns demjenigen, wovon wir uns abhängig finden, zugleich im Innersten verwandt, wir finden uns in der Abhängigkeit zugleich frei, in unserem Gefühl für das Universum mischt sich Stolz mit Demut, Freudigkeit mit Ergebung.

Freilich, einen Kultus wird dieses Gefühl schwerlich mehr hervortreiben, in einer Reihe von Festen sich schwerlich mehr zur Darstellung bringen. Aber ohne sittliche Wirkung wird es nicht sein, wie wir an seinem Orte finden werden. Und warum denn keinen Kultus mehr? Darum, weil wir des anderen, aber des unwahren und neben dem Abhängigkeitsgefühl unedleren Bestandteils der Religion, nämlich des Wunsches und der Meinung, durch unseren Kultus etwas bei unserem Gott auswirken zu können, uns entschlagen haben. Wir brauchen nur den Ausdruck: »Gottesdienst« zu nehmen und uns der niedrigen Vermenschlichung bewußt zu werden, die darin liegt, um einzusehen, daß und warum etwas der Art auf unserem Standpunkt nicht mehr möglich ist.

Nun wird man aber das, was uns hiernach geblieben ist, nicht mehr als Religion wollen gelten lassen. Wenn wir zu erfahren wünschen, ob in einem Organismus, der uns erstorben scheint, noch Leben sei, pflegen wir es durch einen starken, wohl auch schmerzlichen Reiz, etwa einen Stich zu versuchen. Machen wir diese Probe mit unserem Gefühle für das All. In Arthur Schopenhauers Schriften braucht man nur zu blättern (obwohl man übrigens gut tut, nicht bloß darin zu blättern, sondern sie zu studieren), um in den verschiedensten Wendungen auf den Satz zu stoßen, die Welt sei etwas, das besser nicht wäre ...

Wir wollten ja erproben, ob unser Standpunkt, dem das gesetzmäßige, lebens- und vernunftvolle All die höchste Idee ist, noch ein religiöser zu nennen sei, und schlugen darum Schopenhauer auf, der dieser unserer Idee bei jeder Gelegenheit in's Gesicht schlägt. Dergleichen Ausfälle wirken auf unseren Verstand wie gesagt, als Absurditäten; auf unser Gefühl aber als Blasphemien. Es erscheint uns vermessen und ruchlos von seiten eines einzelnen Menschenwesens, sich so keck dem All, aus dem es stammt, von dem es auch das bißchen Vernunft hat, das es mißbraucht, gegenüberzustellen. Wir sehen eine Vereugnung des Abhängigkeitsgefühls darin, das wir jedem Menschen zumuten. Wir fordern für unser Universum dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott. Unser Gefühl für das All reagiert, wenn es verletzt wird, geradezu religiös. Fragt man uns daher schließlich, ob wir noch Religion haben, so wird unsere Antwort nicht die rundweg verneinende sein, wie in einem früheren Falle [ob wir noch Christen sind], sondern wir werden sagen: ja oder nein, je nachdem man es verstehen will. S.173ff.
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925