Gerhard Tersteegen (1697 – 1769)

  Deutscher Mystiker, der dem evangelischen Frühpietismus nahestand. Tersteegen war der Gründer einer geistlichen Bruderschaft, die aber bald nach seinem Tod zerfiel. Er beschäftigte sich intensiv mit der französich-katholischen Mystik seiner Zeit und hatte Kontakte zum radikalen Pietismus. Als ihm nach fünfjähriger Abgeschiedenheit (1799 - 1724) die Gewissheit zu Teil wurde, dass die Gnade Jesu Christi seine Sünden versöhnt habe, verschrieb er sich nach dem Vorbilde des französischen Mystikers Gaston Jean-Baptist de Renty (1611 - 1649) am Gründonnerstag 1724 mit seinem eigenen Blut seinem Heiland.

Siehe auch Wikipedia , Heiligenlexikon und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

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Kurzer Bericht von der Mystik

Sie verlangen zu wissen, was man eigentlich durch die Mystik oder mystische Theologie verstehe. Ich antworte: Das kann keiner recht sagen oder er muss selbst ein Mystikus sein, und keiner gebührend verstehen, wo er nicht selbst auf dem Wege ist, ein solcher zu werden.

Ich bin zu gering nur dasjenige zu unterschreiben, was jene (vor der Welt verhasste, vor Gott und allen Kennern aber) große Männer und teure Zeugen Gottes unter den Protestanten, ein Arnold und Poiret, von dieser Materie gründlich und reichlich bezeuget haben. Sie wollen aber doch auch meine Gedanken wissen.

Würde ich Ihnen nun sagen, mystisch sei dasjenige, was Davids Psalm 51 die Wahrheit im Verborgenen, die heimliche Weisheit nennet, und es sei die verborgene geheime Weisheit, von welcher Paulus nur zu den Vollkommenen reden konnte, dann würde Ihre Antwort sein: das lautet zwar mystisch genug, allein ich weiß doch nun noch nicht, worin die Mystik besteht.

Sagte ich (und so ist es ganz eigentlich die Wahrheit), die Mystik sei nichts anders, als die christliche Gottseligkeit in ihrer besten Kraft, Schönheit und Völligkeit, dann würden Sie sagen: Nun, das lautet schön, aber man erkläret mir darum noch nicht, worin die Sache bestehet.

Antworte ich endlich: Werden Sie dann selbst ein Mystikus, dann verstehen Sie erst, was es für eine Sache sei: so ist es eben das, was ich schon anfangs geantwortet und sage nur, was Sie tun sollen, um die Sache recht zu erkennen; Sie sind aber dabei nicht weiter als Sie bisher gewesen und verstehen nicht mehr als Sie bisher verstanden. Ich will dann sehen, ob ich mich näher erklären kann.

Die Mystiker machen keine besondere Sekte aus, sie haben keine von andern christlichen Parteien unterschiedene Lehrsätze: so wenig als die Kinder Levi ein eigenes Land und eine von den andern Stämmen Israels unterschiedene Religion hatten, sondern unter allen Stämmen zerstreut lebten.

Unter den Römisch-Katholischen, unter den Protestanten, in der griechischen Kirche usw. können Mystiker sein, ohne Präjudiz ihrer besonderen Lehrsätze und Religionsübungen. Ich will damit nicht sagen, daß uns alle Religionsparteien gleichgültig sein müssen. Keineswegs! Zuvörderst müssen alle zur Seligkeit erforderlichen Grundwahrheiten ihre Richtigkeit bei uns haben; in allem übrigen ist ein jeder im Gewissen verpflichtet, so zu glauben und so zu handeln, wie er es vor Gott und nach der Schrift am richtigsten zu tun urteilet. Dieses vorausgesetzt, braucht einer keineswegs von einer Religionpartei zur andern überzutreten, weil er etwa höret oder lieset, daß da oder dort so viele heilige oder innige Seelen gewesen. Das wäre gewiß eine große und gefährliche Torheit. Ein Separatist kann auch ein Mystiker sein oder werden obgleich ein wahrer Mystiker nicht so leicht ein Separatist wird: er hat wichtigere Sachen zu tun.

Mystiker sind keineswegs Enthusiasten zu schelten. Das unschuldige Wort Enthusiast wird heutigen Tages nur im bösen Verstande gebraucht. Menschen (Gelehrte oder Ungelehrte), die sich für Werkzeuge oder für Gesandte Gottes ausgeben und wollen, daß man ihre eigenen Einfälle, Meinungen, Triebe, Eifer und Reden als göttlich und für Gottes Wort halten und annehmen soll, zeigen aber mit der Tat, daß sie nicht vom Geiste Gottes, sondern vom Geist der Welt und von ihrem eigenen Geist regiert werden, das sind dergleichen schädliche Enthusiasten. In diese Zunft aber gehören die Leute keineswegs, welche Paulus Kinder Gottes nennet, von welchen er will, daß sie alle wahrlich und unumgänglich den Geist Gottes haben müssen: der müsse in ihnen wohnen, sie treiben, regieren und alles was gut, heilig und selig heißt, in ihnen wirken, wie solches die Früchte zeigen würden.

Ist es nicht eine beklagenswerte Torheit zu nennen, wie manche Theologen, wenn sie im leeren Felde mit Gegnern sich in Streit einlassen, die Notwendigkeit der innern Wirkungen des Geistes und der Gnade tapfer genug verfechten können; denn so bringt es die Lehre mit sich: wenn sie aber mit Menschen zu tun bekommen, die wirklich solche heilsame Wirkungen in sich erfahren, alsobald mit Enthusiasten und Phantasten um sich werfen, ungeachtet man wohl alle Sonntage singet: Gutes denken, Gutes dichten, muß dein Geist in uns verrichten.

Gesichte, Offenbarungen, Einsprachen, Weissagungen und manche andere außerordentliche Dinge können zwar einem Mystiker auch ungesucht begegnen, gehören aber so gar nicht zum Wesentlichen der Mystik, daß vielmehr alle erfahrenen Mystiker in Ansehung solcher außerordentlichen Sachen die wichtigsten Erinnerungen geben.

Mystiker sind auch nicht Schwätzer von großer Geistlichkeit, sie affektieren keine dunkle, hochtrabende, verblümte Redensarten, sondern sprechen das, was sie erfahren, so aus, wie sie es mit Worten, die der heilige Geist lehret, deutlich machen können. Sie reden wenig, sie tun und sie leiden vieles, sie verleugnen alles, sie beten ohne Unterlaß, der geheime Umgang mit Gott in Christo ist ihr ganzes Geheimnis.

Theosophie
und Mystik sind auch unterschieden. Die wahren und Original-Theosophen, deren uns von der Apostel Zeit an sehr wenige bekannt geworden, waren alle Mystiker, aber weit gefehlt, dass alle Mystiker auch Theosophen sein sollten. Unter Tausenden nicht einer. Theosophen sind solche, deren Geist (nicht Vernunft, esprit), die Tiefen der Gottheit nach göttlicher Führung erforschet und aus unzweifelbarer Schauung solche Wunder erkannt hat. Es könnte dieses genug sein, die Sache zu begreifen, ich komme aber näher.

Das Wort mystisch wird bisweilen im weitläufigeren, bisweilen im engeren Verstande genommen. Im ersteren Verstande ist es nichts anderes, als die praktische Theologie oder die Ausübung der Gottseligkeit, insofern sie Gnade und Herzensveränderung zum Grunde hat: demnach nicht eine bloß natürliche Moral.

Im engern und eigentlichen Verstande bedeutet es denjenigen Grad der Erfahrungserkenntnis Gottes, welchen Paulus und alle Mystiker nach ihm genannt haben die Erleuchtung, welche der Apostel den Gläubigen noch erbittet (weit unterschieden von der anfänglichen Erleuchtung).

Es gehöret demnach und ferner dahin, das Bleiben in Jesu; das Anhangen an Gott, um Ein Geist mit ihm zu werden; das Wandeln in der Gegenwart Gottes; das Anbeten im Geist und in der Wahrheit; die wirksame und leidentliche Reinigung von allen Befleckungen des Fleisches und des Geistes (welche etwas anderes ist als die anfängliche Reinigung von den toten Werken); die Ausgießung der Liebe Gottes ins Herz, einer Liebe, welche endlich alle Furcht austreibet; die Salbung, welche in allen Dingen lehret; das Beschauen der Herrlichkeit Gottes mit aufgedecktem Angesicht; die Offenbarung und Inwohnung Gottes in der Seele (welche auch den gläubigen Korinthern noch eine Verheißung war); das Leben Gottes, da der Mensch oder das Ich nicht mehr lebet, sondern Christus in ihm; das Wandeln im Himmel; der Friede Gottes, welcher über allen Verstand ist; das Vollkommensein in Eins.

Dieses und unzählig anderes, welches wir wörtlich in der Schrift ausgedrückt finden, heißt und ist mystische Theologie, wovon sich die Leute so fürchterliche Vorstellungen machen.

Nicht aber bei allen (auch geförderten) Frommen finden sich diese Sachen so auf einmal, auf einerlei Weise, in einerlei Masse und Völligkeit, sondern nach der Ausleerung, Stärke und Fähigkeit eines Gefäßes gießet Gott das Übernatürliche hinein (übernatürlich und mystisch ist ein und eben dasselbe). Das höchste Gut ist reich und bereit zu geben: Tue deinen Mund weit auf, so will ich ihn füllen. Aber ach! der dürftige Mensch will nicht nehmen.

Die Patriarchen, die ausleuchtenden Heiligen des Alten Testamentes, die ersten brünstigen Christen überhaupt leerten sich ganz aus, kehrten sich völlig zu Gott, übergaben sich unbedingt seiner Führung hin. Diese waren demnach alle wahre Mystiker und haben, ein jeder in seinem Teil, die oben erwähnten und andere Wunder göttlicher Gemeinschaft erfahren.

Bei dem hernach erfolgten Abfall von dem ersten Ernst und Lauterkeit gab es zwar noch immer gottsuchende fromme Menschen in der Christenheit, welchen sich auch Gott, der Heiland aller Menschen, nicht entzog, sondern ihnen Gutes tat und das wenige Gute in ihnen unterhielt. Da aber insgemein ihre Ausleerungen sehr gebrechlich, ihre Zukehr so unvollkommen und unterbrochen und die ganze Gemütsbeschaffenheit so matt und krank war und blieb: so nahm zwar der Herr das Wenige, so sie ihm gaben (wo sie anders aufrichtig zu Werk gingen), gütigst an, ließ ihnen auch nach eines jeden Fähigkeit Gutes widerfahren und förderte sie, so weit eines jeden Umstände, Temperament, Vorurteile, Mut und Treue es zuließen; fast alle aber blieben bei der Wahrnehmung der sogenannten Gnadenmittel, beim buchstäblichen Wissen, bei gutgemeinten Andachtsübungen, bei vorübergehenden sinnlichen Rührungen stehen. Ihre Führer selbst wußten oder wollten nichts Besseres. Da wurde demnach das innere Leben oder die Mystik immer rarer und unbekannter, endlich gar verdächtig; der Unvollkommenheit und allem Elend machte man ein feines Pflaster; aber die Wirkung des Geistes Gottes im Innern abwarten und derselben Raum geben, das hieß Ketzerei und enthusiastisch. Und so steht es noch in der Christenheit bis auf den heutigen Tag.

Ein Mystiker setzt zum voraus zum unbeweglichen Fundament alle Wahrheiten der heiligen Schrift, auch besonders die durch Christum geschehene Versöhnung; aber er läßt es nicht dabei bewenden, daß er nur allein und immerdar dieses Fundament besehe und davon rühme, sondern er siehet hauptsächlich zu, dass auch was Schönes, Gold, Perlen und Edelsteine auf dieses Fundament gebauet werden, kann sich darum mit Holz, Heu und Stoppeln von allerhand Nebensachen nicht viel aufhalten.

Dennoch aber kann ein wahrer Mystiker auch nach den Umständen mit unverstellter Andacht und Herzensveneration sogar von den ersten Anfängen christlicher Lehre, reden, lesen und hören. Nichts ist ihm klein und gering, was von seinem göttlichen Vorwurf kommt, was von demselben zeuget und dahin weiset. Das Große, so er in Gott und in allem Göttlichen siehet, macht ihm nur das Sichtbare klein und dass er auch selbst wahrlich klein wird ohne Kleinmütigkeit. Ein hochmütiger Mystiker ist eine Missgeburt, eine sich selbst widersprechende Redensart.

Schließlich bedaure und erinnere ich noch dieses, daß in diesen unsern Tagen bei anfänglich Bekehrten die Notwendigkeit des Fortganges in der Heiligung nicht gebührend beherziget noch darauf gedrungen wird, wovon doch die Schrift so deutlich und so reichlich zeuget.

So wird auch die Glückseligkeit dieser Sache nicht recht beherziget und angezeiget. Heilig sein und selig sein ist eins und eben dasselbe, nur dass in diesem Leben die Sache stufenweise unter Kreuz und Proben fortgesetzet, in jenem Leben aber in völligem und unwandelbarem Genuss und Glanz erscheinen wird. Selbst die anfängliche Seligkeit bei der Vergebung der Sünden setzet schon voraus den Anfang der Heiligung in wahrer Buße und Glauben.

Auch dieses müsste als wichtig und vorsichtig angezeiget werden, dass diese Heiligkeit nicht gesucht und gesetzt werden müsse in einiges bloß äußere Ding, Übung oder Werk als welches alles, aufs Beste genommen, nur Handleitungen oder auch Früchte der inneren Heiligkeit sind, woraus aber wenn man die Sache selbst darinsetzt und sein Vertrauen darauf stellet, anstatt Gnadenmittel wohl Verhinderungen der Gnade werden können.

Man setze vielmehr die Heiligung nach der Schrift in die wirkliche Reinigung von Unart und Verderben und in die Erneuerung des innern Menschen von einer Klarheit zur andern nach dem Bilde dessen, der uns geschaffen hat oder in die Gleichförmigkeit mit Jesu Christo. Und man suche sie, bei Verleugnung alles andern, durch Herzensgebet und Einkehr bloß in dem inwendigen Umgang und Gemeinschaft mit Gott, so wie er uns in Christo unaussprechlich nahe ist, um uns kraft dessen Auferstehung durch den Geist der Heiligkeit von Grund aus zu heiligen, zu bewirken und zu beleben.

Und eben dieses ist der sichere Weg zur wahren Mystik oder zum inwendigen Christenleben, es bestehet auch größtenteils darin.

Aus: Walter Nigg: Eine Auswahl aus seinen Schriften/Gerhard Tersteegen
Bockhaus-Taschenbuch Band 10 (S.92-97)
© R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1967
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Brockhaus Verlages