Helmut Thielicke (1908 – 1986)

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Inhaltsverzeichnis
Das Geheimnis der Wehrlosigkeit Jesu
Gnade und Gericht in Jesu Wehrlosigkeit

Das Geheimnis der Wehrlosigkeit Jesu
Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, ist an unserer Stelle und mit uns zusammen als unser Bruder und Gefährte vom Argen bedrängt. Das ist, in den dürren Worten des Dogmas gesprochen, zunächst das Geheimnis dessen, warum Gott so wehrlos scheint auf dieser Welt, warum er am Kreuz so wehr- und klagelos sich seinen Feinden preisgibt und anspeien und töten lässt. Das ist das Geheimnis dessen, dass Jesus hier die Mächte und Königreiche verschmähen muss, warum er arm bleibt und ohne Waffen und den Menschen dargeboten. Seine Wehrlosigkeit gehört zum innersten Wesen seines Berufs:

Sein Beruf besteht darin, dass er die Liebe Gottes verkündet, nein, dass er diese Liebe bringt, dass sie leibhaftig in ihm selber da ist
: »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab . . . « (1. Joh 3, 16) Und diese Liebe ist darum so unbegreiflich in ihrem Wunder, weil sie besagt:

Siehe, da ist Gott an deiner Seite als dein Bruder, ein Mensch geworden gleich wie du. Und der da zu deiner Rechten geht, Mensch, das ist der Gott, den du verleugnest in allen deinen Werken, Worten und Gedanken, ohne den du leben und vor dem du Ruhe haben und sicher sein willst, vor allem, weil du ihn fürchtest. Du gleichst jenen, die rufen: »Haltet den Dieb!«, denn du sagst: »Gott ist tot!«, und siehe: Du selbst bist tot, bist schon längst an Gott und von ihm weg gestorben und vegetierst dahin, wie deine Götter vegetieren (trotz aller Aktivität deines Lebens!).

Du berufst dich auf deine Größe und Imposantheit und Tatkraft, Mensch? Ach, sind nicht auch deine Götter und Ideologien groß und imposant, voll Goldes und vieler Kunst und hoher Gedanken, und sind dennoch tot, sowie du auf den Lebendigen blickst, und sind Nichtse, wenn du auf den schaust, der alles ist, und sind versunken, wenn dir der kund wird, der das Nichts rief, dass es »sei« (Röm. 4, 17; Offenbar. 1, 8)? — So bist du selber tot, Mensch, vor dem lebendigen Gott, mitsamt deinen Göttern. Du bist tot vor dem lebendigen Gott.

Und weißt du, worin dieser dein Tod besteht? Er besteht darin, dass du keine Gemeinschaft mit Gott hast, und dass der Lebendige dir zürnt (Psalm 90, 7), dass er dich erkannt hat. Und darum muss alles, was von Gott kommt, dir nun zu neuem Tode werden (Röm. 7, 10 und 13). Du musst immer wieder an Gott sterben, so wie Menschen und Kreaturen sterben müssen, die in den Umkreis seiner Majestät kommen und den heiligen Berg berühren (2. Mose 19, 12): das ist deine Krankheit zum Tode. Und tot sein, das heißt hier: dass Gott dir unendlich ferne rückt (und dass es dir recht geschieht, dass er so ferne rückt), ja, dass er über den Horizont deines Lebens hinaus flieht und du keine Gemeinschaft mehr mit ihm hast und nun umherirrst. Deinen Religionen, Mensch, nachgehen und die Tröstungen deiner Weitweisheit studieren, heißt nichts anderes, als den Spuren dieser Irrsal nachgehen.

Und siehe: Nun ist dieser ferne Gott dir in unbegreiflicher Liebe nahegekommen. Wo du ihn nicht greifen konntest, hat er dich ergriffen. Wo du ihn nicht suchen konntest, hat er dich gefunden. Wo du ihn verfolgtest, hat er dich geliebt.

Du fragst, wie das geschah? Es geschah so, dass Gott zu dir niederfuhr, dass er dich aufsuchte. Es geschah so, dass er dein Bruder wurde. Es geschah so, dass er sich selbst in den Abgrund stellte, der zwischen dir und ihm gähnt, und den du ihm zum Trotze aufgerissen hattest. Es geschah so, dass er mit dir in eine Reihe rückte, dass er an Gebärden als ein Mensch erfunden ward (Phil. 2, 7), dass er versucht ist gleich wie du und ich (Hebr. 4, 15) und mit dir und an deiner Seite den Argen erträgt. Es geschah so, dass er deine Einsamkeit auf seine Schultern nimmt (Markus 15, 34), deinen Tod stirbt, deine Angst kostet (Markus 14, 33), dein Gefängnis ertragen (Lukas 22, 47ff) und selber gefangengenommen hat (Eph. 4, 8).

Begreifst du nun, was Gottes Wehrlosigkeit auf dieser Welt bedeutet? Begreifst du, dass sie das Zeichen seiner Liebe, seiner Bruderschaft mit dir, das Zeichen seiner — Menschwerdung ist? Ahnst du, dass es ein Opfer Gottes ist, das Opfer, das hier kund wird? Er gibt sich dir hin, und was du aus ihm gemacht hast, das zeigt das Kreuz. Aber ist das Kreuz nicht darum — trotz allem! — sein größtes Liebeszeichen? Steht es nicht eben am Ende seines Liebesweges zu und mit dir—? Und ist nicht auch das noch Liebe — wehrlose Liebe —, daß er im Kreuze enthüllt, wie du im tiefsten Herzen zu ihm stehst: nämlich ablehnend, unbegreifend, ohne Gegenliebe, und wie er in einer letzten Demonstration seiner wandellosen Liebe und deines wandellosen Hasses — an dir stirbt? Gott muss am Menschen sterben, damit dieser Mensch sein Herz erfährt und damit er geprüft und enthüllt sieht, was er selber nicht von sich weiß oder nur dunkel ahnt (Psalm 119, 23f; 1. Kor. 13, 13). Gott muss für den Menschen sterben, damit dieser Mensch zugleich und über all dies hinaus das Herz Gottes erfährt und erkennen darf, dass es ihm ganz geöffnet und voller Evangelium ist. Das ist das Geheimnis von Gottes Wehrlosigkeit.

Gnade und Gericht in Jesu Wehrlosigkeit
Wenn dies Geheimnis umschrieben werden soll, dann ist es nur möglich mit einem neuen Geheimnis: mit dem geheimen Wort »Gnade«. Es ist Gnade, dass Gott, der ferne Gott, zum Menschen kommt, sich ihm hingibt und damit das Preisgegebensein an ihn erträgt. Es ist Gnade, wenn er aus dieser Verhüllung und Maske — und wahrlich: mehr als Maske! —, aus dieser Maske des Bruders, des Knechtes, des Gekreuzigten, des Versuchten, des Wehrlosen je und je hervorstößt und mitten im Bettlergewand und unter »der Decke des Kreuzes« als der Herr aller Herren und König aller Könige sichtbar wird (Mtth. 16, 16).

Gott ist im menschgewordenen Wort, ist in Christus offenbar, leibhaftig da. Das ist Gnade. Aber dass er uns in dieser Verhüllung — dir und mir — offenbar und nicht mit Bettlern und Religionsstiftern verwechselt wird, wie unsere blöden, gehaltenen Augen es möchten, das ist wiederum Gnade. Es ist alles Gnade: dass Christus da ist und dass er für uns da ist; dass das Licht in die Finsternis kam und dass er zu uns und zu mir kam (wie hätten wir es sonst erkennen können?). So hat es Luther gewusst und wieder und wieder bezeugt: Gottes Gnade ist Wehrlosigkeit und nicht Macht; sie ist Kreuz und nicht Glorie; sie ist leiser Wind und nicht Erdbeben oder Feuer (1. Kön. 19, 11f), sie ist zu »glauben« und nicht zu »schauen«, sie ist Geschenk des Geistes und nicht offene Demonstration (Joh. 20, 24-27).

Dies alles ist Gottes Gnade mit ihrem Geheimnis. Und ihr tiefstes Geheimnis ist dies, dass sie immer zugleich Gericht ist, ja, dass sie stets auch diese andere, düstere Seite besitzt: Denn ist es nun nicht so, schrecklicherweise so, dass man sich vor dieser Gnade verstecken kann, dass man sie — gerade weil sie so wehrlos ist — verlästern und sich wider sie entscheiden darf, während dies alles vor der weltlichen Macht, vor den »Reichen und ihrer Herrlichkeit« nicht möglich ist. Darf man nicht ungestraft reden von dem »imaginären Herrn«? Darf man nicht ungestraft diese wehrlose Gnade und den wehrlosen Herrn zu allem und jedem mißbrauchen, zu falschem Schwören, zu kluger Religionspolitik, zu goldenen Schmuckstücken, zu frommem Nervenkitzel oder auch zum Sündenbock, dem man die angebliche Fehlentwicklung des Volkes oder gar der abendländischen Geschichte aufhalsen darf? Und kein Blitz fährt hernieder. Nein, das Lamm geht zur Schlachtbank (Jes. 53,7) — immer neu, immer neu -, und seinen Missetätern geschieht nichts, was man sehen könnte.

Die Gnade Gottes ist eine Anfrage an die Welt, und nun hat die Welt (und das sind doch wohl wir, die wir hier schreiben und lesen) die Antwort. Und dann kommt der Tag Gottes, da ist es mit dem Fragen vorbei, da ist Gott allein und nur noch - - der Antwortende. Und seine Antwort ist Wehr und Waffe, Feuer und Macht, Erdbeben und Sturm. Der Wehrlose wird aller Welt als der Allmächtige kund, als der, der dieser Allmächtige immer schon war. Der ohne Königreiche und ohne die Herrlichkeit dieser Welt unter uns weilte, trug doch diese Erde in seiner Hand. Der ärmer war und heimatloser als die Füchse, war doch aller Kreaturen Herr. »Ich (der Allmächtige!) bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich (der Allmächtige!) bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich (der Allmächtige!) bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich (der Allmächtige!) bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich (der Allmächtige!) bin krank und gefangen — bin wehrlos — gewesen, und ihr habt mich nicht besucht« (Mtth. 25, 42ff).

Dann werden sie fragen: Wo warst du denn? Wir sahen dich ja nicht! Wir sahen nur Kreuz und Niedrigkeit, wo wir Glorie erwartet hätten! Wo war deine Legitimation? Wer sagte es uns denn, daß du es warst? Es gibt so viele Lügenpropheten und Pseudokönige!

Dann wird der Herr auf die lange Reihe seiner Knechte deuten, auf die Verfolgten, die Nackten, die Bloßen, die Hungernden und Dürstenden, die Gekreuzigten und Verbrannten, die doch seinem Leib angehörten, in denen man seinen Augapfel antastete und ihn selber quälte und kreuzigte und verachtete.

Und nun kommt die Antwort: »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir nicht getan« (Mtth. 25, 45).

So ist alle Wehrlosigkeit des Gottessohnes und seiner Gnade eine Weissagung auf seinen Tag, auf die offene Gottesherrschaft, die hier erst angebrochen und heimlich da ist und als verachteter Lazarus an der Hintertür der Welt wartet, weil der reiche Herr im Hause nicht will, daß sie seine Portale durchschreite. Sie wartet und erbebt in heimlicher Macht, denn alles ist ihrer. Es rieselt schon im Gebälk des Hauses, und ein Zittern wie von abgründigen Mächten schüttelt wieder und wieder die Säulen und Fassaden. Aber der reiche Mann meint: das Stampfen seines gewaltigen Fußes täte dies alles. Und er legt kostbare Teppiche über den Stein, damit das Grollen der Tiefe ihn nicht mehr störe.

Aus: Helmut Thielicke: Zwischen Gott und Satan - Die Versuchung Jesu und die Versuchlichkeit des Menschen
Bockhaus-Taschenbuch Band 267 (S.109-114)
© R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1978
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Brockhaus Verlages