Helmut Thielicke (1908 – 1986)

Deutscher evangelischer Theologe, der 1936-40 Professor in Heidelberg, 1945-54 in Tübingen, und danach in Hamburg war.Thielicke ist hervorgetreten als Interpret der lutherischen Überlieferung der Ethik, sowie als Kulturethiker.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Der alte Gott lebt
Wir sollen Gott fürchten und lieben
Der Wunsch als Vater der Gedanken über Gott
Das Wort Gottes im Zwielicht

>>>Christus
Das Geheimnis der Wehrlosigkeit Jesu
Gnade und Gericht in Jesu Wehrlosigkeit


Der alte Gott lebt
Nicht selten geschah es, dass in den Großstädten nach einem Bombenangriff die Kirchen leerer wurden; offenbar deshalb, weil dieses drastische Geschehen menschlicher Sinnlosigkeit in einem nicht mehr auflösbaren Widerspruch zu der Tatsache Gott und erst recht zu der Tatsache eines lieben Gottes zu stehen scheint.

Hier dürften wir wohl auf der richtigen Fährte sein, wenn wir den Unterschied der mittelalterlichen und der modernen religiösen Frage feststellen wollen.

Das wird noch deutlicher, wenn wir uns klar machen, dass Luthers Frage: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« selber schon wieder eine heimliche Antwort, oder besser, selbst schon wieder ein heimliches Echo ist auf eine andere Frage: auf die Frage Gottes nämlich an den Menschen:
»Adam, Mensch, wo bist du?« Diese Frage steht bekanntlich in der Sündenfallgeschichte, als Gott den aus der Ordnung gebrochenen, den abgefallenen Adam verhaftet. Derjenige also, der fragt: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?«, ist dem verhaftenden Richtergott begegnet. Er hat der leibhaftigen Majestät Gottes standhalten müssen.

Zweifellos stimmt es also, dass die Frage nach dem gnädigen Gott nicht mehr unsere Zeitfrage ist. Jedenfalls ist sie nicht mehr in der Öffentlichkeit zu hören. Auf keiner Straße, in keinem Kaffee, in keinem Kino kann man ihr begegnen. Und man wird zweifellos auch sagen dürfen, dass unser Lebensgefühl im allgemeinen anders geworden ist. Aber nun frage ich: Ist damit irgend etwas über die Richtigkeit dieser Frage ausgesagt? Kann die Tatsache, dass sie verstummt ist, wirklich bedeuten, dass der »alte Gott« tot ist, auf den sie sich einmal bezog, und dass eine Götterdämmerung des christlichen Abendlandes eingesetzt hat, in der man nicht mehr so fragen kann?

Oder ist die Sache nicht vielleicht umgekehrt? Ist nicht an uns selbst etwas gestorben oder betäubt? Gewiss: Das Lebensschifflein des heutigen Durchschnittsmenschen stößt nur noch selten auf das scharfe Riff, das man Gott nennt. Im allgemeinen scheitert ein Lebensschiff nicht mehr an Gott dem Richter. Ganz andere Rufe beunruhigen unseren Kurs. Liegt das daran, dass das »alte Riff« nicht mehr da ist, oder besser, dass es überhaupt nie dagewesen ist — oder ist unser Kiel vielleicht flacher geworden, dass er das Riff nicht mehr berührt?

Der heutige Mensch fragt nur zu einem kleinen Prozentsatz nach der Wahrheit, die sein Leben bestimmt, nach dem Sinn seines Lebens und nach Gott. Er hat das Fragen aufgegeben, weil es keinen Sinn zu haben scheint. Ohne Warum und Wozu steht er in einem großen Dunkel, in das hinein man nicht mehr fragen kann. So lebt er nur noch dem Augenblick, der von ihm den ganzen Einsatz verlangt. Alles, was über den Augenblick nach vorwärts oder rückwärts hinausliegt, ist dunkel und nicht zu erforschen. Resigniert macht er vor dem Dunkel halt, ausgerechnet er, der nach außen so heroisch und aktivistisch wirken möchte
. S.8-9 [...]

Wir sollen Gott fürchten und lieben
Wenn wir nun die Zehn Gebote mit Luthers Erklärungen lesen, dann wollen wir die beiden uralten Tafeln nicht so anschauen, wie man ein Museumsstück ansieht, und so anhören, wie man einen Klang aus Urvätertagen anhört, sondern wir wollen uns darüber klar sein, daß hier die Exposition unseres eigenen Lebens vor uns abrollt.

Das erste Gebot: Ich bin der Herr, dein Gott, du keine anderen Götter neben mir haben.
Was ist das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und ihm vertrauen.

Das zweite Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht vergeblich führen.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir bei seinem Namen nicht fluchen, schwören, zaubern, lügen oder trügen, sondern ihn in allen Nöten anrufen, beten, loben und danken.

Das dritte Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern dasselbe heilig halten, gerne hören und lernen.

Das vierte Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebst im Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert halten.

Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserem Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten.

Das sechste Gebot: Du sollst nicht ehebrechen.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir keusch und züchtig leben in Worten und Werken und ein jeglicher sein Gemahl liebe und ehre.

Das siebente Gebot: Du sollst nicht stehlen.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserem Nächsten sein Geld oder Gut nicht nehmen noch mit falscher Ware oder Handel an uns bringen, sondern ihm sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten.

Das achte Gebot: Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unseren Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.

Das neunte Gebot: Du sollst dich nicht lassen gelüsten deines Nächsten Haus.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserem Nächsten nicht mit List nach seinem Erbe oder Hause stehen noch es mit einem Schein des Rechtes an uns bringen, sondern ihm dasselbe zu behalten förderlich und dienstlich sein.

Das zehnte Gebot: Du sollst dich nicht lassen gelüsten deines Nächsten Weib, noch seines Knechtes, noch seiner Magd, noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles, was dein Nächster hat.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserem Nächsten nicht sein Weib, Gesinde oder Vieh abspannen, abdringen oder abwendig machen, sondern dieselben anhalten, daß sie bleiben und tun, was sie schuldig sind.

Es wird kaum jemanden unter uns geben, der sich der Erschütterung entziehen kann, die dieses zehnfache ,,Du sollst“ auf ihn ausübt.
Sind das wirklich nur praktische Lebensregeln, die das reibungslose Zusammenleben der Menschen garantieren möchten, vergleichbar etwa der Verkehrsregel: ,,Du sollst rechts fahren, damit es keine Zusammenstöße gibt!“?

Ja, ich frage noch weiter: Sind das wirklich nur Normen des sittlichen Lebens, in Worten eingepökeltes Moralin, etwa dem Satz vergleichbar: ,,Tue recht und scheue niemand!“? Oder: ,,Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab!“? Es gehört nur wenig Instinkt, allerdings unverdorbener Instinkt dazu, um zu erkennen, daß es hier um etwas grundsätzlich anderes geht.

Luther hat dieses Andere herausgearbeitet durch sein in feierlicher Monotonie wiederkehrendes: ,,Wir sollen Gott fürchten und lieben;“ Das heißt: Wir haben es ganz einfach und ausschließlich mit Gott zu tun. Schon das erste Gebot wirkt deshalb wie ein Warnungsschild: Achtung, bitte anhalten, ihr habt es jetzt nicht mit eurem ,,gesunden Menschenverstand“ oder der Stimme eures ,,Gewissens“ zu tun, nein, hier spricht die lebendige und verzehrende Majestät selbst. Das ist der entscheidende strategische Punkt, den wir gewinnen müssen, um das ganze Gelände der Gebote überschauen und verstehen zu können.

Wir wollen versuchen, diesen strategischen Punkt noch genauer zu erfassen. Wir gehen von der Frage aus, wie wir etwa die Gottesfrage behandeln würden oder welche Behandlung wir erwarten:
Wenn die Gottesfrage angeschnitten wird, dann erwarten wir wohl zunächst, daß uns die Eigenschaften Gottes genannt werden: daß er z. B. allmächtig ist, daß er das Schicksal ist, und daß von ihm alles kommt, daß er gerecht ist, daß er allwissend und allgegenwärtig ist. Wir erwarten zunächst und als erstes einmal eine Art Personalausweis Gottes. Unter der Rubrik ,,besondere Merkmale“ ganz am Ende könnte dann vielleicht noch stehen: Er fordert Gehorsam und liebt die Menschen.

Wäre es nicht das einzig Richtige, so zu beginnen?

Aber ich glaube, wir ahnen schon, warum der Katechismus nicht so allgemein beginnt. Wenn man nämlich so allgemein von der Vorsehung, vom Allmächtigen, vom Schicksal spricht, dann klingt das sehr fromm, aber es verpflichtet nicht. Sage mir, wie allgemein du von Gott sprichst, und ich will dir sagen, wie gleichgültig er dir ist. Sage mir, wie hoch du dir Gott über dem Sternenzelt vorstellst, und ich will dir sagen, wieviel Schindluder du mit ihm treibst und wie sehr du deinen Kram allein zu machen wünschst. Ich habe einen unausrottbaren Verdacht gegen alle Leute. die soviel vom ,,erhabenen Gott“ sprechen und schwärmen, der sich nicht um uns Erdenwürmer bekümmern könne. Diese Demut ist mir deshalb verdächtig, weil ihre Inhaber meistens der Ansicht zu sein pflegen, daß Gott auch erhaben über ihr Privatleben sei und über den Umkreis jener Dinge, die sie vor Gott und Menschen geheimhalten müssen.

Aber das Gesetz sagt mir: ,,Es geht um dich.“ Hören wir dieses ,,Es geht um dich“ nicht heraus, so verlieren wir den Kompaß, mit dem wir uns allein in diesem Gelände zurechtfinden können. Gott will eine Tatsache meines Lebens sein. Das gibt er damit zu verstehen, daß er mit dem ,,Du sollst“ beginnt. Damit rückt er mir gleichsam auf den Leib, denn nichts regt mich so auf und geht mich so an, wie wenn ich eine Aufgabe habe, wie wenn ich vor einem ,,Du sollst“ stehe.

Darum fängt der Katechismus mit einer Aufgabe an, die Gott mir stellt. Das ist eine höchst praktische und nüchterne und ,,unreligiöse“ Sache. Aber die hat‘s in sich! Jetzt muß ich Gott stillhalten mit meinem Leben; oder vielmehr: mein Leben muß jetzt in besonderer Weise in Bewegung geraten.
Aus: Helmut Thielicke: Unser Leben mit Gott, (S.8-9, 23-27)
Auf dem Weg, Schriften zu Fragen unserer Zeit, Johann Kiefel-Verlag
@ Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Gütersloher Verlagshauses

Der Wunsch als Vater der Gedanken über Gott

Und doch wären alle jene Gründe, die so zahlreich wie billige Marktware zur Verfügung stehen, nicht der eigentliche Grund für die Anfechtung der Heiden und für den Fall des natürlichen Menschen in seine Götter- und Götzenreligion: Dieser wahre und eigentliche Grund liegt auf keinen Fall in den Gründen und Erwägungen des Verstandes (der etwa zu kurzsichtig, intellektuell zu schwach wäre für die Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung). Sondern dieser Grund für die Anfechtung liegt in der ganzen Haltung des Menschen Gott gegenüber, liegt darin, daß sie mit konstanter Bosheit und konsequent es ablehnen, Gott zu preisen und ihm zu danken und also in alledem die schuldige Ehre zu erweisen.

Der wahre Grund für die Anfechtung der Heiden ist also eine ungeheuer reale Tatsache: ihr gestörtes Verhältnis zu Gott. Diese ungeheuer reale Tatsache formt nun (aber erst nachträglich!) ihre Gründe, formt ihre rasche Erkenntnis Gottes, formt ihre Bilder und Religionen, formt die Wolken ihres Weihrauchs. Die ungeheuer reale Tatsache, daß sie Gott nicht anerkennen, bestimmt ihre Erkenntnis Gottes. Und daß sie ihn so nicht wahrhaben wollen (wollen!), spielt ihnen nun nachträglich Gründe genug in die Hand, mit denen sie ihren Willen legitimieren. Wenn irgendwo, so gilt es hier prägnant und genau, daß der Wunsch der Vater der Gedanken ist, ja daß er besonders und erschreckenderweise der Vater unserer Gedanken über Gott ist. Wie billig sind Gedanken und Gründe zu haben, und wieviel realer und mächtiger ist das Leben und sind unsere Wunsche, welche die Gedanken und Gründe erst hervorzaubern — soviele und so zeit- und wunschgemäße, wie wir nur wollen! Es wäre eine wertvolle Aufgabe, die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte der Wünsche und die Geschichte der Geschichtsschreibung alleine Geschichte der Wunschbilder und endlich die Geschichte der Religionen als eine Geschichte der frommen Wünsche zu schreiben.

Das Entscheidende, was hier gesehen werden muss, ist dies: Zweifel und Anfechtung ergeben sich nie aus Gründen, aus intellektuellen Zweifeln; sondern genau umgekehrt ergeben sich der Zweifel und die Gründe für den Zweifel aus der immer schon vorangegangenen Versuchung, aus der immer schon empfangenen Wunde. Und deshalb müssen wir Gott bitten, daß er uns erforsche und uns erfahren lasse, wie wir es meinen. Denn wir wissen es nicht. Wir kennen unser Herz eben gerade nicht. Wir kennen und wissen nur unsere Gründe, und die sind nur ein Schatten der wirklichen Gründe, sie sind gleichsam nur ihr ideologischer Überbau. »Die Überzeugung ist eigentlich das, was die Gründe trägt, nicht die Gründe das, was die Überzeugung trägt«, sagt Kierkegaard. Es ist nicht nur beim Diplomaten, sondern es ist wohl bei jedem Menschen so, dass er sich in seinem Reden und Begründen mehr verhüllt als offenbart.

Die Kunst der politischen und der taktischen Rede überhaupt — sowohl beim kleinen Moritz wie bei der offiziellen Persönlichkeit — besteht deshalb immer darin, da
ss man Gründe für sein Handeln sucht und »vorgibt« und dies Handeln eben damit in seinen wahren Zielen — für sich behält.

Und die Kunst der Diplomatie oder, in anderer Weise, auch der Seelsorge und der Psychiatrie besteht allemal darin, die Gründe zu durchschauen, das Herz anzusehen und also das eigentliche Leben zu erkennen, das jene Gründe vorschickte. Hinter den Gründen zeigt sich erst das wahre Leben, und dies Leben ist dann die eigentliche Realität, die die Gründe erst emportreibt. Wie wir sind (real sind!), so ist auch unser Gott und deshalb: Wie wir sind, so sind auch die Gründe, mit denen wir unsere Götter verteidigen und mit denen wir an Gott, dem Herrn zweifeln — sind die Gründe, mit denen der Versucher arbeitet
.
S.44-46 [...]

Das Wort Gottes im Zwielicht

Da stehen die einen und sagen: Es liegt alles daran, daß wir schaffen mit Furcht und Zittern. Auf, lasst uns »gute Werke« tun, wir wollen die Hälfte unserer Güter den Armen geben (Luk. 19,8), wir wollen die Gebote halten: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst niemand täuschen, ehre Vater und Mutter (Mrk. 10, 19); wir wollen dies alles halten von unserer Jugend auf (Mrk. 10, 20) ; mit Furcht und Zittern wollen wir‘s tun, damit wir selig werden. Und noch mehr: Wir wollen mit Furcht und Zittern Gott suchen gehn; er soll der Kampf unserer Tage und die Sehnsucht unserer Nächte sein. Wir wollen unsere Seele auf die Streife nach dem Ewigen senden und wollen nicht rasten und ruhn bis sich Gott unserm Kampfe ergibt, bis er unsere Beute wird . . . , auf dass wir selig werden.

Aber spüren wir nicht — wenn wir so reden —, wie hier Gott gelästert wird und wie diese Lästerung doppelt schrecklich ist, weil sie in seinem Namen geschieht? Ist Gott wirklich ein Gegenstand unseres Erringens und Strebens, und können wir ihn wirklich in die Abhängigkeit von unserer Leistung zwingen und also wiederum heimlich und klug über ihn verfügen?

Es ist die uralte Geschichte: Wenn wir nicht gehorsame Knechte dieses Wortes sind und demütig darunterstehen, sondern umgekehrt nach teuflischer Manier dieses Wort zum Knecht unserer Lust machen (so dass wir etwa meinen, unser mit Furcht und Zittern getanes Werk oder unser faustischer Drang könnte Gott aus den Angeln heben), dann wird dieses göttliche Wort mitten in unserer argen Hand zu einem reissenden und zerrenden Dämon, der diese Hände emporreisst, bis sie zur geballten Faust wider Gott werden. Und wir können noch meinen — wir Werkgerechten, wir prometheisch Erraffenden, wir teuflisch Verführten —, wir können noch meinen, wir grüßten Gott mit jener erhobenen Faust und täten ihm einen »Gottes«-Dienst.

Und da stehen die andern und sagen: »Nein, Gott ist‘s, der in uns wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen. Hinweg mit eurem Streben und Gottsuchen, hinweg mit eurer Werkerei! Wir treiben den wahren Gottesdienst: Wir legen, voller Ergebung in jenen schaffenden Willen Gottes, die Hände in den Schoß und warten auf das große Wunder, dass Gott kommt, dass er zu uns spricht. Und wenn er kommt, nun — dann werden wir schon sein heimliches Wirken an unserer Seele spüren. Was sollen wir auch schon tun?«

Und so verfälschen sie ebenfalls dieses Gottes Wort und schlagen ihn mit dieser seiner eigenen Rede. Sie spielen Gott wider Gott aus. Und die Zaungäste des Reiches Gottes sagen achselzuckend: »Mit Bibelworten kann man alles beweisen.« Und tatsächlich ist ja durch diese populäre Devise jene abgründige Wahrheit bekanntgeworden, die Wahrheit: dass wir Gott gegen Gott ausspielen können.

So geht der Teufel wieder vor nach seinem Zuschauer- und Rechnerprinzip: »Aus Gott folgt.« Und hier also folgt aus Gott oder soll aus Gott folgen entweder das, was die Bibel als Gesetzes- und Werk-Gerechtigkeit und frevlerisches Gott-Erraffen brandmarkt, oder das, was jener quietistische Standpunkt ausdrücken sollte, der die Hände in den Schoß zu legen befahl und aus eingebildeter »Ruhe in Gott« alles seinen Gang gehen lassen wollte.

Es sind immer die gleichen Schliche des großen Verführers: Er scheint Gott bei seinem Wort zu nehmen, und doch dreht er ihm dies Wort im Munde herum. Denn man kann Gott nur bei seinem Worte nehmen, wenn man sich unter und nicht über dieses Wort stellt. Nur so erfahren wir, wie beides zusammengehört: der Imperativ, der Befehl des heiligen Gottes: »Schaffet, schaffet ihr!« und der Indikativ, die Aussage: »Ich bin‘s, der in euch wirkt, beides: das Wollen und das Vollbringen. Ich bin das A und O, und ich bin der Ozean, der von allen Seiten an das Gestade eurer Zeit schlägt.«

Wer wagte angesichts dieses lebendigen Gottes zu sagen: »Du wirkst alles, damit bin ich entlastet? Denn du bist‘s ja allemal, der mich hat schuldig werden lassen.« — Oder wer wagte angesichts des lebendigen Gottes zu sagen: »Du sagst ja selbst: Schaffet!? So lass mich nur alleine machen. Ich werde ohne dich selig, ich komme ohne dich in Ordnung.« — Nein: keiner kann dies wagen, der vor ihm steht und unter das hauende, zweischneidige Schwert seines Wortes gedemütigt wird.

Nur hier — unter dem Wort und gedemütigt unter seine unaussprechliche Autorität — erfahren wir, wie die Wahrheit Gottes immer auf zwei Füßen steht. Auf der Verheißung: Ihr seid dem Gesetz abgetötet durch meine Gnade (Gal. 2, 19) und zugleich auf dem Befehl: Darum seid nun von euch aus und seid faktisch Knechte der Gerechtigkeit (Röm. 6, 4ff). Oder: Ihr seid teuer erkauft, darum führt euch in eurem Leben so auf, wie es dem Eigentum Gottes geziemt, das heißt: Preiset Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes (1. Kor. 6, 20)!

Aus: Helmut Thielicke: Zwischen Gott und Satan - Die Versuchung Jesu und die Versuchlichkeit des Menschen
Bockhaus-Taschenbuch Band 267 (S.44-46, 86-89)
© R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1978
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Brockhaus Verlages


Fortsetzung