Friedrich August Gottreu Tholuck (1799 – 1877)

 

Deutscher evangelischer Theologe, bei dem u. a. auch Joh. Wilh. Herrmann und Martin Kähler studierten. Tholuck war zutiefst überzeugt davon, dass Recht und Wahrheit des christlichen Gottesglaubens nur vor der Überzeugung eines radikalen Sündenbewusstseins bestehen können. Die »Lehre von der Sünde« oder »Die wahre Weihe des Zweiflers« wurde ein Standardwerk.

Siehe auch Wikipedia, Heiligenlexikon und Kirchenlexikon

Die wahre Weihe des Zweiflers
Der Himmelsfreund , Das Skelett der Religion , Der Sinn des Lebens , Bildungshochmut , Lebensangst ,
Theologische Zersetzung , Barbarische Theologie , Philosophischer Nihilismus , Sünde und Versöhnung ,
Der rettende Brief


Die wahre Weihe des Zweiflers

Der Himmelsfreund
Solche Seelen nun, die, umhergetrieben von den Zweifeln eines unbefriedigten Herzens, einen Freund im Himmel suchen und brauchen, der ihnen die Genüge gibt, die, wenn sie wehmütig und verlangend die Arme ausstrecken, um zu umfangen, sie nicht zusammenfallen lassen wollen an der eigenen einsamen Brust, denen an dem Busen der ganzen geschaffenen Natur nie wohl wird und die anfangen zu fühlen, dass, was das unendliche Sehnen des Herzens fordert, der Mensch sich nicht selber geben kann, die aber ihren Erlöser und himmlischen Freund nicht bloß durch die Wärme genießen, sondern zugleich im Lichte sehen wollen, ist diese kleine Schrift gewidmet. Wer nun noch nicht fühlt, dass ihm etwas fehlt, was weder der rationalistische Menschensohn noch der idealistische Gottessohn, sondern der ganze ungeteilte, geschichtliche Christus allein zu geben vermag, der spotte nicht über den, der das fühlt; es ist auch hier nicht über ihn gespottet worden; er bleibe sinnend am Wege stehen und - sehe tiefer in sein Herz.

Das Skelett der Religion
Guido und Julius waren durch die Einheit des Gemüts früh sich nah befreundet worden. Während die übrigen Knaben ihrer Bekanntschaft sich begnügten, die aufgetragenen Schularbeiten zu vollenden und dann den Belustigungen der Jugend sich hinzugeben, zog jene beiden auf gleiche Weise ein unwiderstehlicher Drang in die höheren Gebiete des geistigen Lebens. Fühlten sie sich beschwert unter dem Drucke der Schranken der Endlichkeit, so suchten sie sehnsuchtsvoll auf dem Fittich religiöser Ahnung sich darüber zu erheben oder wohl auch einen Einblick in die Geheimnisse der Weltweisheit zu erringen. Nicht selten auch war es die Kunst, deren das nüchterne Leben vergoldendem fliegendem Schimmer sie nacheilten bis zur Ermattung des Atems. Sie hassten nur eines, das Gemeine.

Funkenschwanger waren ihre edlen Geister, gleichsam einladend den elektrischen Stab, der sie ihrer Ladung entbinde. Doch es kam kein solcher. In dem Rahmen ihrer Lehrschule war kein Emmaus, ja nicht einmal Maienfeld oder die Gärten des Akademos. Auf verwitterten Ruinen der alten Stoa und abgestorbenen Feldern der Gärten Epikurs hatte die neue Weisheit, der sie oblagen, sich angebaut. Der Direktor des Gymnasiums, ein alter Mann, verehrte als Sitz des Geistes die Zirbeldrüse und hatte oft schon erwogen, ob nicht der Schöpfer statt des Herzens dem Menschen eine dritte Hand oder einen dritten Fuß hätte anerschaffen sollen. Er hatte Religion zu lehren. Unverdrossen schleppte er das Skelett derselben, das er ausgebaut hatte, tagtäglich in die Klasse und schüttelte den Knochenmann oft, dass es die Schüler kalt überlief.

Der Sinn des Lebens
Wozu bin ich geboren? Diese Frage war es, die schon so früh sie zu ernsteren Schriften und Betrachtungen führte, denn es dünkte den edlen Jünglingen Frevel, sie sich unbeantwortet zurückzuschieben.

Ist Heiligung Entsagung und Verleugnung, so ist sie die Linie, die, von innerer Schwungkraft je länger desto eilender fortgetrieben, ins Unendliche läuft.

Möchte ich nicht das kühne Wort wagen, dass die gepriesene Heiligung die Ätzung ist, welche, wenn der Schaden verzehrt worden, durchdringt durch die lebendigen Gebeine und keinen andern Feind kennt als Frische und Leben?

Bildungshochmut
Viele kamen, welche den Jünglingen die Höhen der Erkenntnis als des Lebens Ziel bezeichnen wollten, ein fröhliches Schauen und ein großartiges Ordnen und Erfassen eines vielfarbigen Handelns; doch bald wiesen sie diese Ratgeber zurück, welche, zerteilend der verbrüderten Menschheit Strom, nur den einen schmalen Arm hinaufleiten wollten über die Wolken, aber den andern unermeßlichen fortwälzen lassen seine langsamen Wellen an öden Gestaden unter den Nebeln der Zeit. Zu klar war es den Freunden, dass, was Ziel des Lebens ist, es für alle sein müsse. Oder muss nicht der Urgrund aller Geister auch ihr Ziel sein? - So waren beide Jünglinge für die Akademie reif geworden.

Lebensangst
Es schieden denn nun beide. Guido, um Theologie zu studieren, bezog die Hochschule zu X, Julius, um Philologie und Geschichte zu studieren, ging nach Z. Rührend war der Morgen ihres Abschiedes.

» Nun«, sagte Julius, »wer weiß, ob wir nicht einst auf derselben Wiese die Erhörung unsers kindischen Gebetes feiern!« - »Wer weiß!« erwiderte Guido, indem er an seinem Halse schluchzte; »ich blicke mit trüben Augen in die Zukunft. Ach, Julius! wenn schon die niedere Region unsers Lebens-Ätnas, das Jünglings- und Knabenalter, uns so viel Schmerzen brachte, wie sollte uns die kalte Region des Mannes- und Greisenalters wohler machen?«

Theologische Zersetzung
Guido begann seine theologischen Studien mit großem Eifer. Er hörte teils bei neologischen, teils bei supranaturalistischen Lehrern. Erst in diesen Vorlesungen lernte er die Zweifel alle kennen, welche die neuere Zeit gegen das Christentum angeregt hat.

Seine Lehrer befriedigten ihn insgesamt nicht. Einige sprachen so flach und profan von den Personen des Neuen Testaments, dass er, wiewohl gänzlich ungläubig an die Göttlichkeit desselben, dennoch etwas Größeres und Edleres in ihnen fand als jene Männer; überhaupt war es ihm empörend, wenn das, was allein den Menschen über das Irdische erheben soll, selbst ins Irdische herabgezogen wird. Er war der Meinung, wenn auch das Christentum nicht Wahrheit sei, so müsse man ihm doch einen geheimnisvollen Heiligenschein lassen, damit es dadurch auf die Gemüter wirke - gleichsam einen künstlichen Blumenstaub auf ungestalten Blättern. Andere Lehrer wollten die Lehren des Christentums aufrecht erhalten durch eine Reihe von historischen Beweisen, deren jeder für sich, wie sie selbst gestanden, wenig Gewicht habe, alle indes zusammengenommen hinlängliche Beweiskraft hätten.

Noch ein anderer Lehrer war an der Akademie, welcher sein ganzes System auf die symbolischen Bücher gründete und jeden Widerspruch und jede Schwierigkeit, welche dem forschenden Jünglinge sich darbot, durch die Forderung starrer Buchstäblichkeit bei unbedingter Glaubensunterwerfung niederzuschlagen suchte.


Barbarische Theologie
Nicht länger konnte die Theologie ihn fesseln. Ein roher Barbar dünkte sie ihm, wenn sie, an die Speise einer dürftigen Natur gewöhnt, von dem klassischen Boden des schönen Hellas sich Gäste entbot, die sie nicht zu bewirten vermochte, trotzend aber ihre Keule schwang gegen jeden, der ihr den Preis nicht zugestehen wollte.

Philosophischer Nihilismus
Er wandte sich daher zu der, welche er als Königin des menschlichen Wissens erkannte, zu der Philosophie. Doch wie wunderbar wurde der Geist von verschiedenen Polen angezogen, als er in diesen Kreis des Wissens eintrat!

Und nachdem nun Guido den ernsten, ununterbrochenen Gang durch diese geistigen Welten vollendet, da stand er sinnend wie in unbekannter, nächtiger Gegend, und bald gewahrte er mit Entsetzen, was er oft im Traume empfunden, wie sein Geist in der Tat dem ewigen Fallen preisgegeben sei. Denn er erkannte es nur zu klar, dass das
Ende aller Spekulation sei Leugnung alles bestimmten Seins. Er hatte sich die Frage aufgeworfen:

Was bin ich?
und hatte Kunde erhalten von der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner Bestimmungen.

Er war weiter gegangen und hatte sich gefragt:

Wer bin ich? und hatte mit dieser Frage - sich selbst verloren. Er hatte nach dem Ursprunge der Welt gefragt, und das Scheinleben ihrer Endlichkeit hatte ihn an Gott verwiesen.

Er hatte nach Gott gefragt, die Unendlichkeit seines Seins hatte ihn an die Welt verwiesen
. So war alles bestimmte Sein ein Schatten, den niemand wirft, ein Echo, das niemand ruft. Guido fühlte das ewige Fallen!

Sünde und Versöhnung
Israel, das mit seinem harten Nacken unaufhörlich dem liebenden Gott widerstrebt, das immer wieder von dem zürnenden gedemütigt wird, ist es nicht ein Bild der hochmütigen Menschen in ihrem beständigen Kampfe gegen Gott, der sie durch Zorn und Liebe zu überwältigen sucht?

So war denn, als der Versöhner auf Erden erschien, das Sünden- und Schuldgefühl schon rege in den Herzen, sie suchten selbst tausend verschiedene Mittel, um ihre Schuld zu sühnen, es kam nur darauf an, ihnen das eine zu wiederholen:
Dies ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt! Vorausgesetzt wird also allenthalben im neuen Bunde der alte, bei der Gnadenverkündigung vorausgesetzt das Gefühl der untilgbaren Sündenschuld.

Der rettende Brief
Mein Guido!
Mögen diese Worte, die ich in Schwachheit stammele, durch des
Heiligen Geistes Kraft geschleudert, Blitzesstrahlen werden, welche die Nacht Deines Busens durchzucken! Man legt die Hand an Kieselgestein und gräbet Berge aus der Wurzel um. Man reisset Ströme aus den Felsen, und alles, was köstlich ist, siehet das Auge. Man bindet die Tränen der Bäche und bringt das Verborgene ans Licht. Wo will man aber Weisheit finden, und wo ist die Stätte des Verstandes?

Niemand weiß, wo sie lieget, und wird nicht gefunden im Lande der Lebendigen. Der Abgrund spricht: Sie ist nicht in mir, und das Meer spricht: Sie ist nicht bei mir. Sie ist verhohlen vor den Augen aller Lebendigen, auch verborgen den Vögeln unter dem Himmel. Die Verdammnis und der Tod sprechen: Wir haben mit unsern Ohren nur ihr Gerücht gehört. Aber
Gott weiß den Weg zu ihr und kennet ihre Stätte, denn er siehet die Enden der Erde und schauet, was unter allen Himmeln ist.

- Zu diesem Unsichtbaren weise ich auch Dich als Deinem Lehrer. Glaube mir - ein einziger Zug vom Vater, und - Welten des Irrtums stürzen; ein einziger Liebesku
ss vom Sohne, und - Meere der Sünde versiegen. So nimm denn, Du unaussprechlich Geliebter, den ich liebe, wie ich mich selber liebe, nimm die Adlerschwingen des Gebetes und, über die Welt und die Vergänglichkeit Dich erhebend, schaue kühn dem Ewigen in sein Auge! -

»Wer nicht an Christus glauben will, der mu
ss sehen, wie er ohne ihn raten kann. Ich und Du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und halte, weil wir leben, und uns die Hand unter den Kopf lege, wenn wir sterben sollen; und das kann er überschwänglich nach dem, was von ihm geschrieben steht, und wir wissen keinen, von dem wir's lieber hätten. Keiner hat je so geliebt, und so etwas in sich Gutes und Großes, als die Bibel von ihm saget und setzet, ist nie in eines Menschen Herz gekommen und über all sein Verdienst und Würdigkeit. Es ist eine heilige Gestalt, die dem armen Pilger wie ein Stern in der Nacht aufgeht, und sein innerstes Bedürfnis, sein geheimstes Ahnen und Wünschen erfüllt«.

Ach, dass Du Ihn kenntest, mein Guido! Dein Julius
. S.100ff.
Enthalten in: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp, Band VIII der Reihe »Klassiker des Protestantismus«, Carl Schünemann Verlag Bremen