Thomas a Kempis, eigentl. Thomas Hermeken (1379 – 1471)

  Deutscher Klosterpriester und Augustinerchorherr, dem wohl fälschlicherweise die »Nachfolge Christi« zugeschrieben wird, eines der verbreitesten Bücher. Nach dem heutigen Stand der Forschung dürfte das Buch von der Nachfolge Christi auf das geistliche Tagebuch des Gerrit Groote zurückgehen, dessen Urfassung als verloren angesehen wird. Thomas von Kempen gilt als der Bearbeiter der endgültigen Fassung des Buches von der Nachfolge Christi, von dem der heilige Franz von Sales sagte, dass es mehr Menschen geheiligt als es Buchstaben habe.

Siehe auch Wikipedia , Heiligenlexikon und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis

Gott
Wandle vor Gott in Wahrheit und Demut!

Die Gottesliebe in ihrer Macht und Herrlichkeit.
Gott, das letzte Ziel des Menschen: bezieh alles auf ihn!
Forsche nicht in den unerforschlichen Tiefen der göttlichen Entschlüsse!

  >>>Christus
Folge Christus nach und lerne verschmähen, was vergänglich ist.

Was es heißt: Jesus über alles lieb haben.
Von dem vertrauten Umgange mit unserem Herrn Jesus Christus.
Laßt uns ruhen in Gott, unserem höchsten Gut.
Wir sollen uns selbst verleugnen und Christus durch das Kreuz nachfolgen.
 

Wandle vor Gott in Wahrheit und Demut!
1. Der Herr: Mein Sohn, wandle in der Wahrheit vor mir und suche mich immer in der Einfalt des Herzens. Wer in der Wahrheit vor mir wandelt, den wird die Allmacht vor bösen Anfällen schützen, und die Wahrheit wird ihn von den Verführern und den Lästerungen der Gottlosen frei machen. Und hat dich die Wahrheit· einmal frei gemacht, dann hast du die wahre Freiheit und brauchst dich nicht um die leidige Wortmacherei der Menschen zu kümmern.

Der Mensch: Wahr ist, o Herr, was du lehrst, und es soll auch in mir wahr werden. Deine Wahrheit soll mich lehren, sie soll mich behüten, mich bis zum seligen Ende bewahren. Deine Wahrheit mache mich los von aller bösen Neigung, von aller ungeordneten Liebe, und ich werde mit dir wandeln in großer Freiheit des Herzens.

2.
Der Herr: So will ich denn, spricht die Wahrheit, dich lehren, was recht ist und mir wohlgefällt. Denke mit großem Abscheu und inniger Traurigkeit an deine Sünden, und laß dir deine guten Werke nicht zu Kopfe steigen, als wenn du deshalb etwas wärest. Wahrhaftig, du bist Sünder, bist vielen Leidenschaften unterworfen und in dies dein Elend tief verwickelt. Von dir aus gehst du immer auf das Nichts los; du kommst leicht zu Falle, wirst leicht überwunden, leicht verwirrt, leicht vernichtet. Nichts hast du, dessen du dich selber rühmen könntest; aber Vieles, das dich in deinen Augen gering und schlecht machen muss; denn du bist viel schwächer, als du begreifen kannst.

3.
Von allem also, was du tust, soll in deinem Auge nichts groß, nichts köstlich, nichts wunderbar, nichts achtungswert erscheinen. Denn wahrhaft groß, wahrhaft lobens- und wünschenswert ist nur das, was ewig ist.

Gefallen soll dir über alles die ewige Wahrheit; missfallen soll dir stets dein Geringsein, in dem du dich für übergroß halten darfst. Nichts sollst du so sehr fürchten, so sehr verachten, so sehr fliehen, als deine Sünden und Laster; sie sollten dir mehr missfallen, tiefer zu Herzen gehen als jeder zeitliche Verlust.

Einige wandeln nicht aufrichtig vor mir. Von Fürwitz und Anmaßung geführt, wollen sie nur meiner Geheimnisse innewerden, wollen die Tiefen der Gottheit durchforschen, und dabei vernachlässigen sie sich selbst und ihr eigenes Heil. Menschen dieser Art fallen oft aus Stolz und Fürwitz in große Versuchungen und Sünden, denn ich bin wider sie.

4. Fürchte Gottes Gericht; erzittere vor dem Zorn des Allmächtigen; lass dich‘s aber nicht gelüsten, die Werke des Allerhöchsten zu erforschen; forsche lieber im Abgrunde deiner Verderbnis, und zähle, wieviel Böses du getan, wieviel Gutes du unterlassen hast.

Manche haben ihre Frömmigkeit bloß in Büchern, andere in Bildern, wieder andere in äußerlichen Zeichen und Vorstellungen. Einige haben mich im Munde, aber in ihrem Herzen ist wenig von mir.

Es gibt aber auch einige, die himmlisches Licht im Verstand und himmlische Reinheit im Herzen haben, immer nach dem Ewigen die Hände ausstrecken. Ungern hören sie von Irdischem, den Naturerfordernissen dienen sie mit Schmerz. Diese nehmen fleißig wahr, was der Geist der Wahrheit in ihnen spricht. Denn er lehrt sie das Irdische verachten und das Himmlische lieben, das Vergängliche außer Acht lassen und dem Himmlischen Tag und Nacht mit ungeteiltem Herzen nachhangen.
S.88-89

Die Gottesliebe in ihrer Macht und Herrlichkeit.
1. Der Mensch: Vater im Himmel, Vater meines Herrn Jesus Christus, ich preise dich, daß du meiner Dürftigkeit nicht vergessen konntest! O Vater aller Erbarmungen und alles Trostes, Gott, ich danke dir, daß du mich, obgleich alles Trostes unwert, dennoch deines erquickenden Trostes zuweilen froh werden läßt! Preisen, verherrlichen, anbeten möcht ich dich immer und immer, dich und deinen eingebornen Sohn und den Heiligen Geist, den Geist des Trostes, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. O du, mein heiliger Freund! mein Gott und mein Herr, o daß du kämest in mein Herz! All mein Inneres frohlockte dir im festlichen Jubel entgegen. Du bist mein Ruhm, du die Freude meines Herzens, du meine Hoffnung, du meine Zufluchtsstätte in den Tagen der Trübsal!

2. Aber, weil meine Liebe noch so schwach und meine Tugend noch so dürftig ist, so hat mein Herz deine Tröstung und deine Stärkung so nötig. So suche mich denn öfter heim und unterweise mich in deiner heiligen Zucht. Erlöse mein Herz von allen bösen Leidenschaften und heile es von allen ungeordneten Neigungen, damit ich im Inwendigen von allen Banden erlöst und von allen Krankheiten geheilt, endlich ganz rein und tüchtig werde zum Lieben, und stark zum Leiden, und mutvoll zum Ausdauern.

3. Der Herr: Ein großes Ding ist die Liebe. Die Liebe ist in Wahrheit ein großes Gut. Sie allein macht alle Bürden leicht und duldet alles Leid mit Gleichmut. Sie trägt die schwersten Lasten und fühlt sie nicht. Sie macht alles Bittere süß und schmackhaft. Die edle Liebe Jesu treibt zu großen Taten und weckt das Verlangen, immer noch größere zu tun. Rechte Liebe dringt aufwärts und will nicht unten auf der Erde kriechen. Die Liebe will frei sein, frei von allem Weltsinn, damit ihr innerer Blick unbefangen bleibt, von keinem irdischen Gut geblendet, von keinem zeitlichen Ungemach niedergeschlagen wird. Lieblicher, mächtiger, erhabener, umfassender, seliger, vollkommener, edler als die Liebe ist nichts im Himmel und auf Erden. Denn sie ist aus Gott geboren und kann eben deswegen in keinem Geschöpfe, kann in Gott allein Ruhe finden.

4. Schnell ist der Lauf der Liebe, hoch ihr Flug, lauter ihre Freude, frei und unaufhaltsam ihr Sinn. Die Liebe gibt alles für alles und hat alles in allem. Denn sie findet ihre Ruhe nur in dem Einen höchsten Gut, das die Quelle alles Guten ist. Die Liebe sieht nicht auf die Gabe, sie schwingt sich hoch über alle Gaben zum Geber hinauf. Sie kennt oft kein Maß, und über alles Maß flammt ihr Eifer empor. Die Liebe fühlt keine Last, findet in der Arbeit keine Arbeit, fragt in ihrem Streben nie: wo nehm ich Kräfte her?, klagt nicht über Unmöglichkeit, denn sie glaubt: ich kann alles und darf es auch. Eben darum taugt sie zu allem, vollendet vieles und bringt zustande, was jeder, der nicht liebt, ohnmächtig liegen läßt.

5. Die Liebe wacht, und schläft im Schlafe nicht. Keine Mühe ermüdet sie, keine Beklemmung beklemmt sie, kein Schrecken erschreckt sie; wie eine lebendige Flamme, wie eine hochbrennende Fackel dringt sie mächtig in die Höhe und bricht überall sicher durch. Wer liebt, versteht die Sprache der Liebe. Ein lauter Ruf in Gottes Ohr ist die glühende Empfindung einer Seele, die da spricht: Mein Gott, meine Liebe! Du ganz mein, ich ganz dein!

Gebet um Liebe.

6. Der Mensch: Herr! Mache mein Herz weiter und fülle es aus mit Liebe, daß mein Innerstes kosten möge, wie süß es ist: lieben, und in Liebe zerfließen, und ganz im Meere der Liebe schwimmen. Die Liebe halte mich fest, wenn ihre Flamme Maß und Grenze überschreitet und in heiligen Entrückungen mich über mich erhebt. Das Lied der Liebe möchte ich singen lernen, und dir, du Geliebter, in der Höhe nachwandeln und im Lobsingen deines Namens, im Jubel der Liebe aufgelöst werden. Lieben möchte ich dich mehr als mich, und mich nur um deinetwillen, und alle, die dich lieben, möchte ich in dir lieben können, wie es das Gesetz der Liebe gebietet, das du lichthell in unsere Seelen geschrieben hast.

7. Der Herr: Die Liebe ist schnelltätig, aufrichtig, gütig, lieblich, froh, mild, stark, geduldig, treu, klug, langmütig, mannhaft und sucht niemals sich selbst. Denn wo einer sich selbst sucht, da hat er die Liebe schon verloren. Die Liebe ist vorsichtig, demütig, offen, gerade, nicht weichlich, nicht leichtsinnig, nicht auf Eitelkeiten bedacht, nüchtern, keusch, standhaft, ruhig, und in allen Sinnen wohlbewahrt. Die Liebe ist untertänig und gehorsam den Oberen, ist in ihrem eigenen Auge gering und schlecht, ist Gott ganz ergeben, voll Dank und Zuversicht, und harrt auch dann auf ihn, wenn sie Gott nicht mehr spürt; denn ohne Schmerz lebt sich‘s in der Liebe nicht.

8. Wer nicht entschlossen ist, alles zu leiden und zum Willen des Geliebten zu stehen, der ist nicht wert, den schönen Namen eines Liebenden zu tragen. Wer liebt, muß um seines Geliebten willen alles Bittere und alles Schwere gern auf sich nehmen. Kein Ungemach darf ihn von seinem Geliebten losreißen. S.89-90 [...]

Gott, das letzte Ziel des Menschen: bezieh alles auf ihn!.
1. Der Herr: Mein Sohn, wenn du die wahre Seligkeit finden willst, so muß ich dein höchstes und letztes Ziel sein. Wenn ich dein höchstes und letztes Ziel bin, dann reinigt sich alles Dichten und Trachten deines Herzens, das sich oft übel zu dir selbst und zu andern Geschöpfen abwärts neigt.

Denn sobald du dich selbst in irgend einem Dinge suchst, so findest du auch lauter Dürre und Ohnmacht zum Guten in dir. So mußt du denn alle Dinge zu mir als der Urquelle zurückführen, denn ich bin ja der Geber aller Dinge. Lerne alle Dinge so anzusehen, wie sie als viele Bächlein aus dem höchsten Gut ausfließen, und leite eben darum alle Dinge zu mir als ihrem Ursprung wieder zurück.

2. Groß und klein, arm und reich, alle schöpfen aus mir als ihrer lebendigen Brunnquelle lebendiges Wasser. Und die mir aus freier Liebe dienen, die nehmen Gnade um Gnade von mir. Wer aber anderswo als in mir Ehre sucht in einem ihm selbst eigenen Gute, der sucht umsonst; nirgends wird er dauerhafte Freude finden; überall wird es seinem Herzen zu enge sein, und auf allen seinen Wegen wird ihm Hindernis und Herzeleid begegnen. Du mußt also das Gute, das etwa in dir sein mag, nicht dir, und die Tugend, die du in irgend einem Menschen findest, nicht dem Menschen, du mußt alles Gute Gott zuschreiben; denn ohne Gott hat der Mensch nichts. Ich habe alles gegeben; und ich will dich ganz haben, und ich fordere den Dank mit großer Strenge.

3. Dies ist die rechte Wahrheit, die alle eitle Ruhmbegier verjagt. Und wenn in irgend einem Herzen die himmlische Gnade und die wahre Liebe Herberge nehmen, da finden Neid und Eigenliebe und alles, was dir die Freiheit des Herzens rauben könnte, keine Stelle mehr. Denn die göttliche Liebe überwindet alles und erweitert alle Kräfte der Seele. Hast du einmal die rechte Weisheit gefunden, dann findest du keine Freude mehr als in mir allein, dann ruht alle deine Hoffnung auf mir allein. Denn niemand ist gut, als Gott allein, und der Alleingute soll auch über alles gelobt und in allem verherrlicht werden. S.99-100 [...]

Forsche nicht in den unerforschlichen Tiefen der göttlichen Entschlüsse!
1. Der Herr: Mein Sohn, zerbrich dir den Kopf nicht mir eitlem Forschen und Wortwechseln über die geheimen Gerichte Gottes. Warum dieser so arm und verlassen, jener so selig und in Gnade aufgenommen, dieser so tief erniedrigt, jener hoch erhöht wird. Denn alles dieses liegt über dem Gesichtskreise der menschlichen Vernunft. Kein menschliches Nachforschen kann die Ratschlüsse Gottes erforschen; keine gelehrte Streitrede kann sie erörtern. Wenn dir also dein Feind solche Gedanken in die Seele legt oder neugierige Menschen darüber Aufschluß von dir haben möchten, so antworte du nur mit dem Propheten (Ps. 119, 137): Gerecht bist du, o Gott, und gerecht sind alle deine Ratschlüsse. Und: Die Urteile des Herrn sind Wahrheit und bewähren sich selbst als Wahrheit. Denn meine Gerichte sind da, um einen heiligen Schauer über die Menschen-Herzen zu verbreiten, und nicht, um von den Menschen-Köpfen untersucht und gerichtet zu werden.

2. Grüble und disputiere auch nicht über die Verdienste der Heiligen, wer etwa heiliger als andere, wer im Reiche Gottes der Größere sein mag. Das Dichten und Forschen dieser Art erzeugt oft unnützes Gezänk, nährt Eitelkeit und Stolz, weckt Neid und Zwietracht, da einer diesen, ein anderer jenen Heiligen über alle andere hochmütig erhebt. Dergleichen Dinge wissen und erforschen wollen, schafft keinen Nutzen und mißfällt den Heiligen sehr, weil ich kein Gott der Zwietracht, sondern ein Gott des Friedens bin, und dieser Friede mehr in wahrer Demut als eigener Erhöhung besteht.

3. Einige haben mehr Neigung zu diesem oder jenem Heiligen, aber bei dieser Neigung läuft mehr Menschliches als Göttliches mit unter. Ich bin‘s, der alle Heiligen geschaffen; ich habe ihnen Gnade geschenkt; ich habe ihnen Herrlichkeit zugeteilt, ich kenne ihre Verdienste; ich bin ihnen mit den Segnungen meiner Liebe zuvorgekommen; ich habe sie, die Geliebten, von Ewigkeit her gekannt; ich habe sie mir von der Welt ausgesucht, nicht sie mich. Ich habe sie durch meine Gnade gerufen, durch meine Erbarmungen zu mir gezogen, durch mancherlei Prüfungen hindurch geführt. Ich habe sie mit den süßesten Tröstungen heimgesucht; ich habe ihnen die Gabe der Beharrlichkeit geschenkt und ihrer Geduld die Krone aufgesetzt.

4. Ich kenne den ersten und letzten, ich liebe sie alle mit unvergleichbarer Liebe. Mich soll man in allen meinen Heiligen loben, mich über alles preisen, mich in jedem ehren; denn ich habe sie groß und herrlich gemacht und vorherbestimmt zur Herrlichkeit ohne alles vorhergegangene Verdienst.

Wer also Einen von meinen Geringsten verachtet, der ehrt auch den Großen nicht; denn ich habe den Kleinen und den Großen geschaffen. Und wer Einen von den Heiligen verkleinert, der verkleinert auch mich und alle übrigen im Reich der Himmel. Alle Heiligen sind eins durch das Band der Liebe; Eines fühlen, Eines wollen sie alle; alle lieben einander, als wenn sie Einer wären.

5. Und, was noch mehr ist: Alle lieben mich ungleich mehr als sich selbst und ihre Verdienste. Ganz außer sich und über alle Eigenliebe erhaben sind sie nichts als lauter Liebe zu mir und wollen nichts als Liebe, und diese Liebe ist ihr Genuß, ihre Ruhe. Nichts kann sie von mir abwendig machen, nichts kann sie niederdrücken, denn sie sind voll von der ewigen Wahrheit und durchglüht vom Feuer der unauslöschlichen Liebe. Verstummen sollen also die Fleisches- und Sinnen-Menschen, sie sollen es nicht wagen, auch nur ein Wort zu reden von dem Leben der Heiligen, denn sie kennen keine Freude als die der Eigenliebe und keine Liebe als die zu sich selbst. Sie geben und nehmen nach ihren Neigungen, nicht nach dem Maßstabe der ewigen Wahrheit.

6. Viele fehlen hierin aus Unwissenheit; besonders die, welche noch nicht erleuchtet genug sind. Die haben vielleicht in ihrem ganzen Leben nie eine lautere, vollkommene, wahrhaft geistliche Liebe gegen irgendeinen Menschen gefühlt. Es ist weiter nichts als natürliche Neigung und bloß menschliche Freundschaft, was sie zu diesem oder jenem Heiligen hinzieht. Und ihr irdischer Sinn für das, was irdisch ist, mischt sich unvermerkt auch in ihr Urteil von dem, was überirdisch ist. Aber wer wird ihn messen, den unermeßlichen Abstand zwischen dem, was die Unvollkommenen denken, und zwischen dem, was die Erleuchteten im vollen Lichte höherer Offenbarung schauen?

7. Darum hüte dich, mein Sohn, von alledem vor- und aberwitzig zu reden oder zu schreiben, was dein Wissen übersteigt; strebe, ringe vielmehr danach, daß du einst wenigstens als der Geringste im Reiche Gottes kannst befunden werden. Und wenn jemand auch gewiß wüßte, wer im Reiche Gottes an Heiligkeit und Größe obenan stünde, was würde ihm dies Wissen nützen, wenn es ihn nicht zuerst vor mir in den Staub niederwürfe und dann wieder aufrichtete zur größeren Verherrlichung meines Namens? Ungleich gottgefälliger handelt der, welcher die Größe seiner Sünden und die Kleinheit seiner eigenen Tugend mißt und den Abstand seines Wandels von der Vollkommenheit der Heiligen tief beherzigt, als der, welcher die größeren oder kleineren Verdienste der Heiligen in gelehrten Streitreden auseinandersetzt. Besser, die Heiligen mit heißen Gebeten und Tränen in Demut und Andacht des Herzens um ihre Fürbitte anflehen, als was von ihrer Herrlichkeit für uns im Dunkel liegt, mit verlorenem Forschen aufhellen zu wollen.

8. Die Heiligen sind gar wohl zufrieden; wenn es nur die Menschen auch wären und ihrem windigen Geschwätze einmal ein Ende machten! Sie suchen keinen Ruhm in ihren eigenen Verdiensten, weil sie sich selbst nichts Gutes, weil sie alles Gute mir zuschreiben, mir, der ich ihnen alles Gute aus grenzenloser Liebe geschenkt habe. Ihre Freude an Gott und ihre Liebe zu Gott ist so überfließend groß, daß ihnen nichts mangelt und nichts mangeln kann von alledem, was herrlich und selig macht. Je größer ihre Herrlichkeit, desto größer ihre Demut; je größer ihre Demut, desto näher und lieber sind sie mir. Deshalb heißt es auch, daß sie ihre Kronen niederlegten vor Gott und fielen auf ihr Angesicht vor dem Lamme und beteten an den Ewiglebendigen.

9. Viele fragen, wer der Größte im Himmelreiche sei, und wissen nicht, ob sie selbst gut genug sein werden, einst auch nur die Stelle des Geringsten einzunehmen. Es ist schon etwas Großes, auch der Geringste im Himmel zu sein, weil alle Kinder Gottes heißen und sind.
Es wird sich so recht in der Gemeinde der Heiligen erfüllen, was Jesaias (60, 22) sagt: Der Geringste soll zu Tausenden werden, der Kleinste zu einem starken Volke. Und von den Sündern gilt es, was der nämliche Prophet (65, 20) sagt:

Fluch und Tod kommen über den Sünder von hundert Jahren.

Als seine Jünger Christus fragten (Matth. 18, 3), wer denn der Größere im Himmelreiche wäre, bekamen sie die unerwartete Antwort: Wenn ihr nicht ganz umgeändert und wie die kleinen Kinder werdet, so könnt ihr nicht in das himmlische Reich eingehen. Wer also sich verdemütigt, wie dieser Kleine da, der wird der Größere im Himmelreiche sein.

10. Wehe denen, die zu groß sind, um freiwillig mit Kleinen klein zu werden; denn die Tür des Himmels ist niedrig und nicht groß genug, um so große Menschen einzulassen! Wehe auch den Reichen, die ihren Himmel hier auf Erden haben, denn sie werden draußen stehen müssen und heulen, indes die Armen in das Reich Gottes eingehen werden! Darum freuet euch, ihr Demütigen, jauchzet, ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer, ist euer, wenn ihr in der Wahrheit wandelt. S.185-188
Aus: Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi . Nach der Übersetzung von Johann Michael Sailer, herausgegeben von Walter Kröber
Reclams Universalbibliothek Nr. 7663 (S.88-92, 99-100, 185-188) . © 1950 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages