Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828 – 1910)

>>>Gott

Die Lehre Christi
Gott kam auf die Erde herab, um die Menschen zu retten. Die Rettung besteht darin, dass die zweite Person der Dreieinigkeit, Gott-Sohn, für die Menschen litt, ihre Sünden vor dem Vater büßte und den Menschen die Kirche gab, in der die Gnade bewahrt wird, die den Gläubigen überliefert ist. Aber, außer alledem, gab dieser Gott-Sohn den Menschen auch die Lehre und das Beispiel des Lebens für die Rettung. Wie aber konnte ich sagen, dass die Lebensregeln, die durch Ihn für alle einfach und klar ausgedrückt sind, so schwer, ja, daß sie ohne übernatürliche Hilfe unmöglich zu erfüllen sind? Er sprach nicht nur das nicht, Er sprach bestimmt: erfüllet auf jeden Fall, und wer nicht erfüllt, der wird nicht in das Reich Gottes eingeben. Und Er sagte niemals, dass die Erfüllung schwer ist. Er sprach im Gegenteil: Mein Joch ist sanft und Meine Last ist leicht. Johannes, sein Evangelist, sprach: Seine Gebote sind nicht schwer. Wie aber konnte ich sagen, daß das, was Gott zu erfüllen befahl, das, dessen Erfüllung er so genau bestimmte und von dem er sprach, daß dies zu erfüllen leicht sei; das, was Er selbst wie ein Mensch erfüllte und was Seine ersten Nachfolger erfüllten, — wie aber konnte ich sagen, dass dies zu erfüllen so schwer, ja, dass es ohne übernatürliche Hilfe sogar unmöglich sei? Und ich begann, bei mir nachzudenken, wie und wann dieser sonderbare Gedanke mir in den Kopf kam, daß das Gesetz Christi göttlich, aber unmöglich zu erfüllen sei. Und nachdem ich meine Vergangenheit durchforscht hatte, verstand ich, daß dieser Gedanke mir niemals in seiner ganzen Nacktheit mitgeteilt worden ist (sie würde mich abgestoßen haben), sondern daß ich ihn, unmerklich für mich, mit der Muttermilch seit frühester Kindheit eingesogen habe und daß mein ganzes folgendes Leben diesen sonderbaren Irrtum in mir nur gefestigt hat.

Von Kindheit an lehrte man mich, dass Christus Gott und da
ss Seine Lehre göttlich sei. Aber zugleich damit lehrte man mich, diejenigen Einrichtungen zu achten, die meine Sicherheit vor dem Bösen mit Gewalt verbürgen, lehne man mich, diese Einrichtungen für heilig zu halten. Man lehrte mich, dem Bösen Widerstand zu leisten und brachte mir bei, dass es erniedrigend und schändlich sei, sich dem Bösen zu unterwerfen und vor ihm zu dulden, dagegen löblich, ihm zu widerstehen. Man lehne mich, zu verurteilen und zu strafen. Dann lehrte man mich, Krieg zu führen, das heißt, durch Mord dem Bösen entgegenzuwirken, und das Heer, dessen Mitglied ich war, nannte man das christusliebende Heer, und diese Tätigkeit heiligte man mit christlichem Segen. Außerdem lehrte man mich von Kindheit an bis zur Mannbarkeit, dasjenige zu achten, was dem Gesetz Christi direkt widerspricht. Dem Beleidiger Gegenwehr zu bieten, Beleidigung der Person, der Familie, des Volks mit Gewalt zu rächen, — alles das lehnte man nicht nur nicht ab, sondern man brachte mir bei, alles das sei herrlich und dem Gesetz Christi nicht entgegen.

Alles, was mich umgibt, die Ruhe, meine und der Familie Sicherheit, mein Besitz, — alles war aufgebaut auf dem Gesetz, das von Christus verworfen ward, auf dem Gesetz: Zahn um Zahn.

Die kirchlichen Lehrer lehrten, dass die Lehre Christi göttlich, da
ss seine Erfüllung jedoch unmöglich sei wegen der menschlichen Schwachheit und dass allein die Gnade Christi seine Erfüllung bewirken könne. Die weltlichen Lehrer und die gesamte Ordnung des Lebens erkannten bereits direkt die Unerfüllbarkeit, die Illusion der Lehre Christi an und lehnen mit Worten und Taten das, was dieser Lehre entgegen ist. Diese Anerkennung der Unerfüllbarkeit der Lehre Gottes drang allmählich, unmerklich so sehr in mich ein, wurde mir gewohnt und fiel so sehr mit meinen Begierden zusammen, daß ich früher niemals den Widerspruch bemerkte, in dem ich mich befand. Ich sah nicht, dass es unmöglich ist, zu ein und derselben Zeit sich zu Christus-Gott zu bekennen, dessen Grundlehre das »Widerstehe nicht dem Bösen« ist, und wissentlich und ruhig für die Institutionen des Besitzes. der Gerichte, des Staates, des Heeres zu arbeiten, das Leben entgegen der Lehre Christi einzurichten und zu diesem Christus darum zu beten, dass sich unter uns das Gesetz des »Widerstehe nicht dem Bösen« und des Verzeihens erfüllen möge. Mir kam noch nicht in den Kopf, was jetzt so klar ist: dass es weitaus einfacher gewesen wäre, das Leben nach dem Gesetz Christi zu ordnen und einzurichten, aber dann erst dafür zu beten, dass Gerichte, Strafen, Heere seien, falls sie für unser Wohlergehen so notwendig sind.

Und ich verstand, aus was mein Irrtum entstand. Er entstand aus dem Bekenntnis zu Christus mit Worten und Seiner Verneinung durch das Tun...

Ich las unlängst mit einem jüdischen Rabbiner das 5. Kapitel des Matthäus. Fast bei jedem Ausspruch sagte der Rabbiner: das steht in der Bibel, das steht im Talmud, und zeigte mir in der Bibel und im Talmud überaus nahe Aussprüche zu denen der Bergpredigt. Aber als wir zu dem Vers über das »Widerstehe nicht dem Bösen« kamen, sagte er nicht: auch das steht im Talmud, sondern er fragte mich nur lächelnd: Und die Christen erfüllen das, halten die andere Wange hin? — Ich vermochte nichts zu antworten, um so mehr, als ich wusste, dass in dieser selben Zeit die Christen nicht nur nicht die Wangen hinhielten, sondern die Juden auf die hingehaltene Wange schlugen.

Aber mir war es interessant, zu wissen, ob etwas Ähnliches in der Bibel oder im Talmud stehe und ich fragte ihn darüber. Er sagte: Nein, davon steht nichts, aber sagen Sie, erfüllen die Christen dieses Gesetz? Durch diese Frage sagte er mir, dass das Vorhandensein einer solchen Regel im christlichen Gesetz, die nicht nur von niemand erfüllt wird, sondern welche die Christen selbst als unerfüllbar ansehen, die Anerkennung der Unverständigkeit und Unnötigkeit dieser Regel bedeutet. Und ich vermochte ihm nichts zu entgegnen.

Jetzt, nachdem ich den direkten Sinn dieser Lehre verstanden habe, sehe ich den sonderbaren Widerspruch mit mir selbst klar, in dem ich mich befand. Indem ich Christus als Gott und Seine Lehre als göttlich anerkannte und zugleich mein Leben entgegen dieser Lehre einrichtete, was blieb mir denn übrig, als die Lehre als unerfüllbar anzuerkennen? In Worten erkannte ich die Lehre Christi als heilig an, mit dem Tun bekannte ich mich völlig zur nichtchristlichen Lehre und anerkannte und verehrte die unchristlichen Institutionen, die mein Leben von allen Seiten umgeben...
S.278-281
Aus: Leo Tolstoi, Meine Glaube, Berlin 1901. Enthalten in: Slavische Geisteswelt 1 - Russland. Herausgegeben von Martin Winkler, Holle Verlag