Kurt Tucholsky (1890 – 1935 Selbstmord)
Pseudonyme: Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Peter Panter, Kaspar Hauser.

  In Berlin geborener deutsch-jüdischer Jornalist, Kritker und Schriftsteller, der in Vers und Prosa - auch in Berliner Mundart - schrieb. Tucholsky war ein Satiriker par excellence und Zeitkritiker von großer Treffsicherheit und ätzender Ironie. Er vertrat einen linksgerichteten pazifistischen Humanismus. Tucholsky war wohl einer der wenigen Deutschjuden, wenn nicht sogar der einzige, der schon frühzeitig die Gefahren der leeren Kraftmeierei des »geheimen Schwächlings« und »Schwippschwagers der Lüge«, wie er Nietzsche nannte, in ihrer ganzen verlogenen, widersprüchlichen Scheinheiligkeit und einschmeichelnden Schleimerei durchschaute

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Kritik über den lieben Gott
Warum denn nur? Warum?
Von den Kränzen, der Abtreibung und dem Sakrament der Ehe
Über Friedrich Nietzsche

>>>Christus

Sprechstunde am Kreuz


Kritik über den lieben Gott

Der liebe Gott ist ein älterer Mann mit Rauschebart, in dem die Motten sitzen. Er steht morgens sehr früh auf, wie alte Leute zu tun pflegen, die nicht mehr recht schlafen können, wäscht sich schlecht und recht und regiert dann ein paar Stündlein. Nach Tisch druselt er ein bisschen vor sich hin, was ihm auch leider während der Arbeit hier und da unterläuft - um fünf Uhr schließt er unweigerlich. Abendgebete haben also keine Aussicht auf Erhörung. Um die Zeit gräbt der Alte seinen kleinen Garten um und ordnet seine Briefmarken.

Es muss einmal gesagt werden: Wir sind alle nicht mehr recht zufrieden mit dem alten Herrn. Was macht der Mann eigentlich den ganzen Tag -?

Er arbeitet in den Akten und telefoniert, das ist wahr - aber er ist vergesslich wie der Kaiser Franz Joseph, mit dem er überhaupt eine fatale Ähnlichkeit hat. Er ist voll der kitschigsten Einfälle: er läßt eine Kuhmagd in Jarwischken eine Dollarerbschaft machen, verschollene Söhne kehren nach Jahren wieder und verloren geglaubte Briefe auch - aber alles zur Unzeit, alles zur Unzeit. Wenn ihm sein Hund Taps einen Aktenständer umwirft, kann es geschehen, daß er die Jour-Mappe stehen und liegen läßt und den ältesten Kram aufarbeitet.

So kommen die späten Erfüllungen zustande - und alle zur Unzeit. Leute verwarten die schönste Zeit ihres Lebens, die Börse ist durcheinander, und nicht einmal auf ihre Unzuverlässigkeit kann man sich mehr verlassen. Er hat so melodramatische Ideen wie diesen Krieg. Leichen sieht er nicht, für heulende Frauen geht ihm jedes Gefühl ab - schließlich kein Wunder in dem Alter . . . Kinder fallen vier Stockwerke tief herunter, und bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher. Über seine Haltung in den Jahren von 1914 bis 1918 wollen wir gar nicht reden, überall war er Vorsitzender des Aufsichtsrats, und wie hat er sich nachher benommen? Er beschützt die Falschen und segnet die Schlechten - er verlässt die Guten und fixt das Himmelreich.

So geht das nicht weiter. Die Versammlung wolle beschließen:

Die in der Bötzow-Brauerei versammelten Gläubigen sprechen dem lieben Gott ihr Misstrauen aus. Sie hoffen und erwarten, dass er vom nächsten Quartalsersten an diejenigen Reformen und Verbesserungen im Himmel durchführt, die zur ausreichenden Umbildung der Metaphysik unerlässlich sind, widrigenfalls sie das Abonnement aufgeben. Insbesondere bedürfen die Registratur sowie die Bittschriftenabteilung einer völligen Neuordnung. Die Versammelten haben sich das nunmehr sechstausend Jahre mit angesehen, sind aber nicht gesonnen, die Unzulänglichkeiten des Systems auch fürderhin zu dulden.

Das walte Gott!

Aus: Kurt Tucholsky, Deutsches Tempo, Texte 1911 bis 1932 (S. 353-354) Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinsbek bei Hamburg (rororo 12573)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Rowohlt Verlages und der »Kurt-Tucholsky-Stiftung, Hamburg«

Warum denn nur? Warum?
Wer einen Erwachsenen leiden sieht, kann allenfalls noch hartherzig vorbeigucken. Aber wer ein Kind leiden sieht, dem läuft es, wenn er noch ein einigermaßen anständiger Kerl ist, dreimal den Buckel herunter.

Beim Kind liegt noch offen zutage, was der liebe Gott mit den Menschen eigentlich vorgehabt hat. Beim Kind wirkt Schmerz und Elend doppelt stark, weil es in den meisten Fällen ganz wehrlos ist und weil die großen Augen sagen: Warum denn nur?
Warum?

Aus: Kurt Tucholsky, Deutsches Tempo, Texte 1911 bis 1932 (S. 243 Die Kinderhölle in Berlin) Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinsbek bei Hamburg (rororo 12573)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Rowohlt Verlages und der »Kurt-Tucholsky-Stiftung, Hamburg«

Von den Kränzen, der Abtreibung und dem Sakrament der Ehe
« ... Aber auf dem Kopfe? Was hat man da für einen Genuß von der Blume? Was für eine Empfindung vom Kranze? Nichts als die Empfindung einer Fessel, weil man weder die schöne Farbe sieht noch den Duft einatmet, noch die Zartheit sich bemerklich macht. Blumen auf dem Kopfe haben wollen ist ebensosehr gegen die Natur als eine Speise mittels des Ohres, einen Schall mittels der Nase zu ergreifen. Alles aber, was widernatürlich ist, verdient das Brandmal der Ungeheuerlichkeit, bei uns aber auch noch den Titel eines Sacrilegiums gegen Gott, welcher der Herr und Urheber der Natur ist.»

Von dieser sophistischen Albernheit bis zur letzten Encyklika ist nur ein Schritt — sie sind beide derselben Technik entsprossen.
Die Kirche beweist alles, was sie anordnet, mit der schärfsten Logik, es stimmt scheinbar alles, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe - und wenn sie am Ende der Kette angekommen ist, dann macht sie einen kleinen Hopser, der Denker beginnt zu fliegen und entschwindet den erstaunten Augen im Himmelblau. Er zieht sich nämlich auf den göttlichen Willen zurück, den er ja kennt: der liebe Gott hat ihm den unzweideutig mitgeteilt, und hier hört jede Diskussion auf.

Die Natur will es so! Gott will es so! Der göttliche Wille hat es also verordnet!

Kränze dürfen nicht auf den Kopf gesetzt werden. Kinder muss man austragen. Eine Ehe ist unlöslich.

Natürlich steht nirgendwo in der Kirchendogmatik, dass das sophistische Kunststückchen des Kirchenvaters Tertullian geglaubt werden müsse — das weiß ich wohl. Es ist nur so ein schönes Beispiel, wie es gemacht wird, wie dort gedacht und wie mit einer Scheinlogik die Berechtigung der Kirchengesetze bewiesen wird. Bewiesen —? Man kann alles beweisen.

Diese Apologetik gleicht den Plädoyers geschickter Rechtsanwälte. Hört man in einem Zivilprozess nacheinander die wortgewandten Advokaten beider Parteien, so begriffe man den Richter gut, der nach jeder Beweisführung sagen könnte: «Die eine Partei hat recht. Und die andre Partei hat auch recht.» Sie haben ja alle so recht ... Solche Beweise sind das.

Kinder dürfen nicht abgetrieben werden. Die Ehe ist unlöslich. Wo steht das? Wir alle weisen, wenn wir gar nicht mehr weiter wissen, auf sittliche Gesetze hin, die nicht mehr auf andre zurückführbar sind. Sie besagen im Grunde gar nichts: sie zeigen nur unser Gefühl an und die Richtung unsres Willens. Nun, dieser Wille, der hier geäußert wird, ist sozial höchst verderblich und abzulehnen — und nur darauf kommt es an.

Aus: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 9 1931 (S. 132) Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinsbek bei Hamburg (rororo 29011)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Rowohlt Verlages und der »Kurt-Tucholsky-Stiftung, Hamburg«

Über Friedrich Nietzsche

Ist es ein Zufall, dass die Vertreter der wildesten Gewaltlehren, Nietzsche, Barrès, Sorel, keine zwanzig Kniebeugen machen konnten? Es dürfte kein Zufall sein.
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke 1931 Band 9, rororo Taschenbuchverlag,S. 324

Einige Analphabeten der Nazis, die wohl deshalb unter die hitlerschen Schriftgelehrten aufgenommen worden sind, weil sie einmal einem politischen Gegner mit dem Telefonbuch auf den Kopf gehauen haben, nehmen Nietzsche heute als den ihren in Anspruch. Wer kann ihn nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. Bei Schopenhauer kann man das nicht ganz so leicht; man kann es gar nicht. Bei Nietzsche . . . Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur - was Sie wollen.
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke 1932 Band 10, rororo Taschenbuchverlag, S. 14

Ein großer Schriftsteller mit großen literarischen Lastern. Ein schwacher Mensch. Ein verlogener Wahrheitssucher: ein Freund der Wahrheit und ein Schwippschwager der Lüge. Ein Jahrhundertkerl, der in seiner etwas kokett betonten Einsamkeit gewaltige Prophezeiungen niedergeschrieben hat. Aber grade das, um dessentwillen er heute so tausendfältig zitiert wird, grade das kann ich nicht finden, dieses eine nicht: Kraft nicht.

Kraft -? Er prahlt mit der Kraft, er protzt mit ihr, er stellt den Gipsabguss eines Bizeps ins Schaufenster. Geh nicht in den Laden; das Aushängeschild ist seine ganze Ware, mehr hat er nicht. Es ist einmal davon die Rede gewesen, dass jener Satz: »Wenn du zum Weibe gehst . . . « auch so aufgefasst werden könnte, dass der Frauenbezwinger einen Wagen zieht, auf dem peitschenschwingend die Frau, eine Frau seines Lebens, steht . . . dieser Nietzsche wäre, tausend Grade tiefer, ein treuer Kunde der Salons gewesen, in denen ältere Bankdirektoren von stellungslos gewordenen Nähmädchen für gutes Geld ungeheure Prügel beziehen. Er hat aus der Sehnsucht nach der Peitsche eine Weltanschauung gemacht.

Er war für die Entfaltung von Kraft sehr empfindlich, aber er hatte keine, der flotte Manische. Ein berauschtes Gehirn. Kein trunknes Herz. In einem Teil seines Wesens auch er: Fräulein Nietzsche.

Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke 1932 Band 10, rororo Taschenbuchverlag, S. 14

Was die Hakenkreuzler angeht, so haben sie ihren Nietzsche bereits; warte nur balde, und ich werde zu hören bekommen, dass ich den großen Mann nicht begriffen hätte, weil mir der Sinn fürs Heldische fehle. Er fehlt mir mitnichten. Was ich aber in stärkstem Maße besitze, ist ein Misstrauen gegen falsche Helden, und Nietzsche halte ich für einen geheimen Schwächling. Er heroisiert, so wie einer masturbiert.
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke 1932 Band 10, rororo Taschenbuchverlag,
S.23

Je öfter ich Nietzsche lese und die um ihn, um so stärker wird mein Gefühl, das jeder schelten darf: hier ist etwas nicht in Ordnung. Hier wird geprahlt. Hier wird etwas vorgetäuscht, das so nicht da ist. So gefährlich ist sein Weg nicht gewesen, so hoch hinauf hat er nicht geführt, so neu ist das nicht, so wild ist das alles nicht.
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke 1932 Band 10, rororo Taschenbuchverlag, S.24

So etwas von Geknatsch, von Stank, von Aufblaserei der einfachsten menschlichen Verhältnisse — dieser Mensch hat offenbar seine ganze Umgebung, die er sich ja ausgesucht hat, die also prädisponiert war, angesteckt. Es ist so, wie wenn wir unser Verhältnis in Phasen einteilten, wie wenn wir aus den simpelsten Äußerungen eine Geschichte machten... es ist ganz grauenhaft. Das Beste hat Burckhardt gesagt — wenigstens wird ihm das Wort zugeschrieben. — «Dieser Nietzsche! Der kann ja nicht einmal einen gesunden Furz lassen!» Amen.
Kurt Tucholsky: Die Q-Tagebücher, rororo Taschenbuchverlag, S.336f.