Hans Vaihinger (1852 – 1933)

 

Deutscher Philosoph, der nach seinem Philosophie- und Theologiestudium am Tübinger »Stift«, Leipzig und Berlin als Professor in Straßburg (seit 1883) und Halle (seit 1906) lehrte. Vaihinger, der u. a. insbesondere von Kant und Schopenhauer (Willen zum Leben) tief beeindruckt war, entwickelte die »Philosophie des Als-Ob«, die im Wesentlichen eine eigenständige deutsche Variante des angelsächsischen Pragmatismus darstellt. Nach Vaihingers Philosophie kommt jegliche Erkenntnis als hypothetische Fiktion (Fiktionalismus) zustande. Ihr Wahrheitsgehalt bemisst sich allein an ihrem (subjektiven) praktischen Lebenswert (Pragmatismus). Eine objektive Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit wird für unmöglich gehalten. Bekannt wurde Vaihinger auch als Kantforscher, in dem er einen zweibändigen »Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft« verfasste und die seit 1897 regelmäßig erscheinenden »Kant-Studien« sowie die »Kant-Gesellschaft« gründete.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Das Wesentliche in der Philosphie des Als-Ob , Gott als religiöse Fiktion ,

Das Wesentliche in der Philosophie des Als-Ob
Gelegentlich ist nun auf die »Philosophie des Als Ob« und ihre systematische Überzeugung der Ausdruck »Skeptizismus« angewendet worden. Mit Unrecht: Skeptizismus heißt eine Lehre, welche das Zweifeln oder Bezweifeln zum Prinzip erhebt. In der Philosophie des Als Ob ist aber nirgends eine solche Richtung eingeschlagen: es wird in einfacher und direkter Untersuchung nachgewiesen, dass in allen Wissenschaften bewusst falsche Begriffe und Urteile angewendet werden und es wird gezeigt, dass solche wissenschaftlichen Fiktionen von Hypothesen scharf zu unterscheiden sind, letztere sind Annahmen, welche wahrscheinlich sind, Annahmen, deren Wahrheit eventuell durch weitere Erfahrungen erwiesen werden kann, sie sind also verifizierbar. Fiktionen aber sind niemals verifizierbar, denn sie sind ja Annahmen, von deren Falschheit der Annehmende von vornherein überzeugt ist, die er aber um ihrer Brauchbarkeit willen anwendet.

Wenn nun auf diese Weise eine Reihe von Annahmen in der Mathematik, in der Mechanik, in der Physik, in der Chemie aber auch in der Ethik und in der Religionsphilosophie sich als brauchbare Fiktionen herausstellen und als solche sich Geltung verschaffen, so liegt darin doch kein Skeptizismus. Denn es wird ja nicht an der Realität jener Annahmen gezweifelt, sondern die Realität derselben wird negiert auf Grund der positiven Tatsachen der Erfahrung. Man könnte eher den Ausdruck »Relativismus« auf die Philosophie des Als Ob anwenden, insofern sie überall alle absoluten Punkte (sowohl im mathematischen als metaphysischen Sinn) negiert, und insofern zur Relativitätslehre sowohl der Vergangenheit als der Gegenwart eine natürliche Verwandtschaft hat.

Bei der Anwendung der Bezeichnung »Skeptizismus« auf die Philosophie des Als Ob hat man teilweise wohl zum Ausdruck bringen wollen, daß sie die metaphysischen Realitäten, besonders Gott und Unsterblichkeit in Zweifel ziehe. Aber auch hier gilt dasselbe wie oben: die Philosophie des Als Ob hat nirgends ein Hehl daraus gemacht, dass sie diese Begriffe als ethisch wertvolle Fiktionen betrachte. Auch hierin ist ihre Überzeugung klar, einfach und entschieden.

Mancher verwechselt freilich die hierher gehörigen Fachausdrücke und meint wohl in der Philosophie des Als Ob nicht eigentlich »Skeptizismus«, sondern »Agnostizismus« zu finden: letzterer lehrt ja, daß unser menschliches Erkennen auf mehr oder minder enge Grenzen eingeschränkt sei und spricht vom »Unerkennbaren«, vom Unknowable im Sinne von Spencer; dass dem Erkennen gewisse Grenzen gezogen sind, lehrt natürlich auch die Philosophie des Als Ob.

Aber nicht in dem Sinne, dass diese Grenzen nur das menschliche Erkennen einengen, dass aber einem übermenschlichen Erkennen jene Grenzen nicht gezogen seien. Letzteres ist eben die Lehre von Kant und von Spencer: es ist die alte Klage, daß der menschliche Geist an enge Schranken gebunden sei, von denen höhere Geister nicht eingeengt seien.

Meiner Meinung nach liegen aber jene Grenzen des Erkennens nicht in der spezifischen Natur des Menschen im Gegensatz zu eventuell anderen höheren Geistern, sondern jene Schranken liegen in der Natur des Denkens überhaupt, d. h. sie müßten, wenn es höhere Geister gebe, auch diese und sogar den höchsten Geist begrenzen. Denn das Denken dient ursprünglich nur dem Willen zum Leben, als Mittel zum Zweck, und erfüllt auch nach dieser Seite hin seine Bestimmung.

Nachdem aber das Denken nach dem Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck sich von seinem ursprünglichen Zwecke losgerissen und sich zum Selbstzweck gemacht hat, stellt es sich auch Aufgaben, denen es nicht gewachsen ist, weil es selbst überhaupt nicht für sie gewachsen ist, und schließlich stellt sich das so emanzipierte Denken Aufgaben, die in sich selbst sinnlos sind, wie z. B. die Fragen nach dem Ursprung der Welt, nach der Entstehung dessen, was wir Materie nennen, nach dem Anfang der Bewegung, nach dem Sinne der Welt und nach dem Zweck des Lebens.

Betrachtet man das Denken als eine biologische Funktion, so erkennt man, daß das Denken sich damit unmögliche Aufgaben stellt und über seine natürlichen Grenzen die jedem Denken als solchen gezogen sind, hinausstrebt. Von diesem Standpunkt aus haben wir natürlich auch keine Veranlassung zu der beliebten alten Klage über die Grenzen des menschlichen Erkennens. Wir können höchstens darüber klagen, daß wir durch das Gesetz der Überwucherung, des Mittels über den Zweck verführt werden, Fragen zu stellen, die so unbeantwortbar sind, wie die Frage nach der Wurzel aus - i. Außerdem lehrt ja eine einfache Überlegung, daß alles Erkennen eine Zurückführung des Unbekannten auf Bekanntes bzw. ein Vergleichen ist. Daraus ergibt sich also, daß dieses Vergleichen bzw. jenes Zurückführen irgendwo ein natürliches Ende findet. In keinem Sinne ist also die Philosophie des Als Ob Skeptizismus oder Agnostizismus zu nennen.

In ähnlicher Weise erledigt sich auch der Vorwurf, der gegen die Philosophie des Als Ob erhoben worden ist, nämlich, daß der in ihr vertretene Wirklichkeitsbegriff nicht einheitlich sei: auf der einen Seite werde alle Wirklichkeit zurückgeführt auf die Empfindungen bzw. die Empfindungsinhalte (im Sinne der Lehre Mills von den »Sensations and possibilities of sensations«), auf der anderen Seite werde doch immer wieder der naturwissenschaftliche Wirklichkeitsbegriff, der alles auf Bewegungen von Massen und Massenteilchen zurückführe, bald stillschweigend, bald ausdrücklich benützt. Und so wird daran die Frage geknüpft, wie sich denn diese beiden Wirklichkeitsbegriffe der Philosophie des Als Ob zur Einheit bringen lassen?

Man könnte den Scharfsinn jener Entdeckung eines doppelten Wirklichkeitsbegriffes in der Philosophie des Als Ob bewundern, wenn man nicht über die Kurzsichtigkeit der sich daran anschließenden Frage erstaunt sein müßte. Ich erlaube mir eine Gegenfrage: ist es denn überhaupt jemals einem philosophischen System älterer, neuerer oder neuester Zeit, gelungen diese beiden Sphären in ein logisch rationales Verhältnis zu bringen? Jene beiden Hemisphären der Wirklichkeit, kurz gesagt, einerseits die Welt der Bewegung andererseits die Welt des Bewußtseins, sind noch niemals von irgendeinem Philosophen in ein logisch befriedigendes Verhältnis gebracht worden. Niemals werden sie auch durch eine rationale Formel in definitiv einheitlichen Zusammenhang gebracht werden.

Wir stehen hier wieder an einem Punkte, an welchem der Verstand sich eine unmögliche Aufgabe stellt. Diese Frage ist auf rationalem Wege ebensowenig zu beantworten, wie die Frage nach dem Ursprung der Welt oder die Frage nach dem Zweck des Daseins. Trotzdem wir selbst, die Fragenden, jene beiden Hälften der Wirklichkeit in uns dauernd vereinigen, oder vielmehr, eben weil der Riß bzw. der scheinbare Widerspruch zwischen Bewegung und Bewußtsein durch unser eigenes Wesen geht, ist unser Verstand nicht in der Lage, jene Grundfrage oder jenes sog. Welträtsel befriedigend zu beantworten.

Wer also einem philosophischen System überhaupt oder speziell der Philosophie des Als Ob den Vorwurf macht, diese Frage nicht gelöst zu haben, der steht auf derselben Höhe des Geistes wie derjenige, der gegen einen Mathematiker den Vorwurf erhebt, er habe in seinem Lehrbuch der Geometrie das Problem der Quadratur des Kreises nicht gelöst oder gegen einen Techniker, er habe in seinem Lehrbuch der Maschinenkunde die Konstruktion des Perpetuum mobile vergessen.

Bei der Erörterung der letzten Weltfragen stößt man immer wieder auf diesen rational unlösbaren Gegensatz einerseits der Bewegungen von Massen und Massenteilchen und andererseits der Empfindungen bzw. der Bewußtseinsinhalte. Für den Philosophen, der sich mit der Analyse unserer Bewußtseinsinhalte beschäftigt, endigt diese Analyse überall psychologisch mit unseren Empfindungen, erkenntnistheoretisch mit unseren Empfindungsinhalten. Ihm ist die Welt eine unendliche Häufung von Empfindungsinhalten, die aber nicht regellos ihm und uns gegeben werden, sondern in denen gewisse Regelmäßigkeiten des Zusammenseins und der Abfolge vorhanden sind.

Diese Empfindungsdata, oder wie Windelband sich ausdrückt, die »Gegebenheiten«, oder wie Ziehen es nennt, die »Gignomene« oder diese Begebenheiten drängen sich uns mehr oder minder unwiderstehlich auf, ja, sie üben einen dauern den Terror auf uns aus: wir müssen uns nach ihnen bzw. nach ihrem zu erwartenden Eintreten richten. Diese Welt der Empfindungsinhalte ist das Material, mit dem der Philosoph als solcher einzig und allein rechnen kann. Aber andererseits muß der Philosoph nun sich auch wohl oder übel damit abfinden, daß der Naturwissenschaftler eine ganz andere Wirklichkeitssphäre konstruiert, die Welt der Bewegungen, die bewegte Welt. Ein rationales Verhältnis zwischen diesen beiden Welten herzustellen, ist ein unmögliches Verlangen unseres Verstandes, der ja eben von Hause aus gar nicht zur theoretischen Lösung der Welträtsel bestimmt ist, sondern zur praktischen Unterstützung des Willens zum Leben.

Natürlich quält nun den menschlichen Verstand jener unlösbare Widerspruch zwischen Bewegungswelt und Bewußtseinswelt und diese Qual kann auf die Dauer sehr lästig werden. Man wird gut tun, sich daran zu erinnern, daß schon Kant darauf hingewiesen hat, daß es Fragen gibt, die uns ewig äffen und die wir doch nicht los werden. Aber es gibt eine Erlösung von solchen und ähnlichen quälenden Fragen des Verstandes: in der Anschauung und im Erleben verschwindet der ganze quälende Gegensatz zu nichts. Erlebnis und Anschauung sind höher als alle menschliche Vernunft. Wenn ich ein Reh im Walde äsen sehe, wenn ich ein Kind spielen sehe, wenn ich einen Mann bei seiner Arbeit oder beim Sport sehe, vor allem aber, wenn ich selbst arbeite oder selbst spiele —, wo sind dann jene Rätsel, mit denen sich unser Verstand unnötig abquält? Wir begreifen die Welt nicht, indem wir über ihre Rätsel nachdenken, sondern indem wir an ihr arbeiten. Auch hier macht sich also wieder der Primat des Praktischen geltend.

Alle Überzeugungen nun, welche in der Philosophie des Als Ob zum Ausdruck gebracht werden oder ihr zugrunde liegen oder sich aus ihr ergeben, fasse ich zum Schlusse in folgenden Thesen zusammen.

1. Die philosophische Analyse führt Erkenntnis theoretisch in letzter Linie auf Empfindungsinhalte, psychologisch auf Empfindungen, Gefühle und Strebungen bzw. Handlungen. Auf einen anderen Wirklichkeitsbegriff führt die naturwissenschaftliche Analyse, auf Massen und deren kleinste Teile und deren Bewegungen. Es ist dem Verstande als solchem naturgemäß unmöglich, diese beiden Wirklichkeitssphären in ein rationales Verhältnis zu bringen, die aber in der Anschauung und im Erleben eine harmonische Einheit bilden.

2. Die wahrscheinlich schon in den elementarsten physischen Vorgängen vorhandenen Strebungen summieren sich in den organischen Wesen zu Trieben, die sich schon bei den höheren Tieren, vollends aber bei den aus den Tieren entstandenen Menschen zum Willen und zum Handeln entwickeln, das sich in Bewegungen äußert und durch Reize bzw. durch die durch Reize entstandenen Empfindungen hervorgerufen wird.

3. Dem Willen zum Leben und zum Herrschen dienen als Mittel die Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, also das Denken. Das Denken ist somit ursprünglich nur ein Mittel im Kampf ums Dasein und insofern nur eine biologische Funktion.

4. Es ist eine allgemeine Naturerscheinung, daß Mittel, die einem Zwecke dienen, öfters eine stärkere Ausbildung erfahren, als es nötig wäre zur Erreichung ihres Zweckes. Dann können solche Mittel, je stärker sie selbst als solche ausgebildet werden, sich von ihrem Zwecke ganz oder zum Teil emanzipieren und sich als Selbstzwecke etablieren (Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck).

5. Diese Überwucherung des Mittels über den Zweck ist auch eingetreten bei dem Denken, das im Laufe der Zeit sich immer mehr von seinem ursprünglichen praktischen Zwecke entfernt hat und schließlich als theoretisches Denken um seiner selbst willen ausgeübt wird.

6. Infolgedessen stellt sich dieses anscheinend unabhängige, anscheinend ursprünglich theoretische Denken Aufgaben, die nicht bloß dem menschlichen Denken, sondern jedem Denken überhaupt unmöglich sind, z. B. die Fragen nach dem Ursprung und nach dem Sinn der Welt. Hierher gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Empfindung und Bewegung, populär gesprochen von Seelischem und Materiellem.

7. Solche aussichtslosen, streng genommen auch einsichtslosen Fragen sind nicht nach vorwärts, sondern nur nach rückwärts aufzulösen, indem man zeigt, wie diese Fragen psychologisch in uns entstanden sind. Solche Fragen sind zum Teil so sinnlos, wie z. B. die Frage nach der Wurzel aus - i.

8. Wenn man die Annahme einer ursprünglichen theoretischen Vernunft als eines eigenen menschlichen Vermögens mit eigenen eben für dies Vermögen bestimmten Aufgaben als Intellektualismus oder als Rationalismus bezeichnet, so ist das hier Vorgetragene als Antirationalismus oder auch als Irrationalismus zu bezeichnen, in demselben Sinne, in welchem die Geschichte der neueren Philosophie, z. B. von Windelband, von »idealistischem Irrationalismus« spricht.

9. Von diesem Standpunkte aus erscheinen alle Denkvorgänge und Denkgebilde von vornherein nicht als in erster Linie rationalistische, sondern als biologische Phänomene.

10. Viele Denkvorgänge und Denkgebilde zeigen sich nun unter dieser Beleuchtung als bewußt falsche Annahmen, die entweder der Wirklichkeit widersprechen oder sogar in sich selbst widerspruchsvoll sind, die aber absichtlich so gemacht werden, um durch diese künstliche Abweichung Schwierigkeiten des Denkens zu überwinden und auf Umwegen und Schleichwegen das Denkziel zu erreichen. Solche künstliche Denkgebilde heißen wissenschaftliche Fiktionen, die durch ihren Als-Ob-Charakter sich als bewußte Einbildungen kennzeichnen.

11. Die so entstehende Als-Ob-Welt, die Welt des »Irrealen«, ist ebenso wichtig, ja, für das Ethische und Ästhetische viel wichtiger, als die Welt des im gewöhnlichen Sinne des Wortes sog. Wirklichen oder Realen. Jene ästhetische und ethische Als-Ob-Welt, die Welt des Irrealen, wird für uns schließlich zu einer Welt der Werte, die sich, besonders in der Form einer religiösen Welt, der Welt des Werdens in unserer Vorstellung schroff gegenüberstellt.

12. Was wir gewöhnlich das Wirkliche nennen, besteht aus unseren Empfindungsinhalten, die sich uns mit größerer oder geringerer Unwiderstehlichkeit gewaltsam aufdrängen, und als Gegebenheiten von uns für gewöhnlich nicht abgewiesen werden können.

13. In diesen gegebenen Empfindungsinhalten zu denen auch das gehört, was wir unseren Körper nennen, herrscht eine Fülle von Regelmäßigkeiten in Koexistenz und Sukzession, deren Erforschung den Inhalt der Wissenschaften bildet. Vermittelst derjenigen Empfindungsinhalte, die wir unseren Körper nennen, können wir auf die reiche Welt der übrigen Empfindungsinhalte einen mehr oder minder großen Einfluß ausüben.

14.
In dieser Welt zeigen sich uns einerseits überaus viele Zweckmäßigkeitsbeziehungen, andererseits überaus vieles Unzweckmäßige. Das müssen wir hinnehmen, so wie es ist, denn nur Weniges können wir ändern. Für Viele ist es eine befriedigende Fiktion, die Welt so zu betrachten, als ob ein vollkommen höherer Geist sie geschaffen oder wenigstens eingerichtet hätte. Aber das erfordert dann die ergänzende Fiktion, eine solche Welt so zu betrachten, als ob die durch jenen höheren göttlichen Geist geschaffene Ordnung durch eine entgegengesetzte Kraft gestört werde.

15. Nach einem Sinn der Welt zu fragen, hat keinen Sinn, es gilt das Wort von Schiller: »Wisset, ein erhabner Sinn legt das Große in das Leben, und er sucht es nicht darin.« (,,Huldigung der Künste“ 1805.) Dies ist positivistischer Idealismus.

Der Verbreitung und Vertiefung dieses positivistischen Idealismus oder idealistischen Positivismus dienen die von mir im Vereine mit Dr. Raymund Schmidt im Jahre 1919 neugegründeten »Annalen der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als Ob Betrachtung«. Diese Zeitschrift stellt insofern einen ganz neuen Typ dar, als an ihrer Herausgabe nicht bloß Fachphilosophen (Cornelius, Groos, Becher, Bergmann, Koffka, Kowalewski) beteiligt sind, sondern auch hervorragende Vertreter der wichtigsten Einzelwissenschaften: der Theologe Heim, der Jurist Krückmann, der Mediziner Abderhalden, der Mathematiker Pasch, der Physiker Volkmann, der Biologe Botaniker Hansen (verstorben), der Nationalökonom Pohle, der Kunsthistoriker Lange. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, daß die Philosophie nur im engsten Zusammenwirken mit den Einzelwissenschaften gedeihen kann und daß die Philosophie, wenn sie auch den Einzelwissenschaften Manches geben kann, doch noch viel mehr von ihnen zu lernen hat. Aus dieser Wechselwirkung wird auch erst eine fruchtbare und dauernde Vermittlung und Versöhnung des Positivismus und des Idealismus entstehen können, wie sie wenigstens im Prinzip und der Absicht nach von der »Philosophie des Als Ob« angestrebt wird. Die kritische Untersuchung der Anwendung der verschiedenen Methoden der Als Ob Betrachtung in den verschiedensten Einzelwissenschaften soll einerseits der Förderung der wissenschaftlichen Methodenlehre dienen. Es soll aber andererseits gleichzeitig der richtige Weg gefunden werden, auf welchem der Positivismus der Tatsachen mit dem »Standpunkte des Ideals« (F. A. Lange} in haltbarer Weise verbunden werden kann. Jene Analyse und diese Synthese sollen sich gegenseitig ergänzen
. S.22ff.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt.
Zweiter Band: Erich Adickes / Clemens Baeumker / Jonas Cohn / Hans Cornelius / Karl Groos / Alois Höfler / Ernst Troeltsch / Hans Vaihinger . Leipzig / Verlag von Felix Meiner / 1921

Gott als religiöse Fiktion
Im Kantischen Sinne, im Sinne der kritischen Philosophie beißt der Ausdruck »ich glaube an Gott«, nichts anderes als: »ich handle so, als ob es einen Gott wirklich gäbe«; in dem der Kantisch- und Kritisch-Denkende sittlich handelt, handelt er so, als ob das Gute einen unbedingten Wert in der Welt hätte, derart, daß es das Entscheidende in der Welt wäre; und das Gute wäre das Entscheidende in der Welt, wenn es eine Weltregierung gäbe, welche das Gute auch zum Siege führen würde.

Trotzdem zuletzt mir meine theoretische Vernunft verbietet, eine solche moralische Weltordnung anzunehmen — ein solcher Begriff ist gänzlich leer —, so handle ich doch so. als ob es eine solche moralische Weltordnung geben würde, da mir meine praktische Vernunft gebietet, das Gute unbedingt zu tun; indem ich diesem Gebot der praktischen Vernunft folge, handle ich streng genommen, theoretisch unvernünftig; denn meine theoretische Vernunft sagt mir, daß eine solche moralische Weltordnung nur ein leerer. wenn auch schöner Begriff ist; aber ich finde nun einmal in mir das Gebot der praktischen Vernunft, das Gute zu tun, und dies Gebot imponiert mir als etwas Erhabenes. Ich handle nach diesem Gebot. Aber indem ich darnach handle, handle ich gerade so, als ob ich jene theoretisch als unmöglich, ja als widerspruchsvoll erkannte Annahme einer moralischen Weltordnung machen würde; nicht in dem Sinne. daß diese mir jenes Gebot gäbe; bewahre: daran denkt meine Seele gar nicht; jenes Gebot gefällt uns, imponiert uns um seiner selbst willen, jenes Gebot ist eben Inhalt meiner praktischen Vernunft; also dem normal sittlich angelegten Menschen ist die moralische Weltordnung, resp. der moralische Weltordner, d. h. Gott ganz und gar nicht eine Voraussetzung für seine freiwillige Unterwerfung unter jenes Sittengebot.

Aber indem jener Kantische Normalmensch jenes Sittengebot ausführt, handelt er ja gerade so, als ob diese Ausführung des Sittengebotes gewissermaßen nicht bloß eine empirische Folge in der Zeit hätte, in der Erscheinungswelt, sondern so, als ob jene moralische Handlung in eine intelligible, übersinnliche Welt hineinreichte und einerseits mitwirkte zur Erreichung eines allgemeinen köstlichen ewigen höchsten Gute. überhaupt und andererseits durch eine göttliche Macht in ein System der Zwecke selbst zweckmäßig eingefügt würde. Das unbedingt sittlich-gute Handeln ist seiner Natur nach immer und überall so: denn sittlich handeln heißt eben, entgegen den empirischen Bedingungen so handeln, als ob das Gute einen unbedingten Wert hätte, als ob es die Macht hätte, in eine überempirische Welt hineinzureichen, in der ein oberster Weltherrscher für die Harmonie des Guten und des Bösen sorgte. In diesem Sinne ist gutes Handeln identisch mit Glauben an Gott und Unsterblichkeit. In diesem Sinne glaubt also auch der sittlich handelnde theoretische Atheist an Gott und Unsterblichkeit praktisch, indem er eben so handelt, als ob es Gott und Unsterblichkeit gäbe. Jedes sittliche Handeln schließt also eben damit die Fiktion von Gott und Unsterblichkeit in sich ein — dies ist der Sinn des praktischen Vernunftglaubens an Gott und Unsterblichkeit.

Aus: Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, 5. u. 6. Auflage, Leipzig. Felix Meiner, 1920. S. 684ff.
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925 (S.213ff.)