Max Weber (1864 – 1920)
Deutscher
Volkswirtschaftler und Soziologe, der seit 1893 Professor in Berlin, 1897 bis 1903 in
Heidelberg, 1918 in Wien und seit 1919 in München war. Er entwickelte eine »idealtypische« Methode, die auf die Beschreibung der reinen Ausprägung (Idealtypus) geschichtlicher Erscheinungen in den Sozialwissenschaften gerichtet ist.
Die von ihm geschaffene, zu den Kulturwissenschaften gerechnete »verstehende«
Soziologie vereint das systematisch-typisierende und historische
Verfahren. Ihr Forschungsgebiet erweiterte er um die Wissenschafts- und
die von ihm begründete Religionssoziologie (»Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, 1920). Weber vertrat den Standpunkt strenger Wertungsfreiheit der empirischen Kulturwissenschaften (insbesondere
der Soziologie) und ordnete die hiervon klar zu trennende weltanschauliche
Wertung (praktische Beurteilung) der objektiv
ermittelten Tatsachen den außerwissenschaftlichen Bereichen zu. Als Politiker trat er (wie Friedrich Naumann und weitgehend
mit diesem) für eine nationale Demokratie ein. Wesentlichen Einfluss hatte Weber auch auf die Begriffsbildung in
der modernen Sozialwissenschaft und der Wissenschaftstheorie. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Jüdische und hinduistische Pariareligiosität. Ressentiment |
Jüdische
und hinduistische Pariareligiosität. Ressentiment
Seit dem Exil tatsächlich, und auch formell seit der Zerstörung des
Tempels waren die Juden ein »Pariavolk«
[»Paria = von der menschlichen Gesellschaft
Ausgestoßener, Entrechteter, Unterprivilegierter«] , d. i. im hier gemeinten Sinn (der mit der speziellen Stellung der indischen »Pariakaste« so wenig identisch ist wie z. B. der Begriff »Kadi-Justiz«
mit den wirklichen Prinzipien der Rechtsprechung des Kadi): eine, durch (ursprünglich) magische, tabuistische und rituelle Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung [»konnubial = die Ehe betreffend«] nach außen
einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit
weitgehender ökonomischer Sondergebarung andererseits, zu einer erblichen
Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband.
Die negativ privilegierten beruflich spezialisierten indischen Kasten mit ihrem
durch Tabuierung garantierten Abschluß nach außen und ihren erblichen
religiösen Pflichten der Lebensführung stehen ihnen relativ am nächsten,
weil auch bei ihnen mit der Pariastellung als solcher Erlösungshoffnungen
verknüpft sind. Sowohl die indischen Kasten wie die Juden zeigen die gleiche
spezifische Wirkung einer Pariareligiosität daß sie ihre Zugehörigen
umso enger an sich und an die Pariastellung kettet, je gedrückter die Lage
ist, in welcher sich das Pariavolk befindet und je gewaltiger also die Erlösungshoffnungen,
die sich an die gottgebotene Erfüllung der religiösen Pflichten knüpfen.
Wie schon erwähnt, hingen gerade die niedersten Kasten besonders zähe
an ihren Kastenpflichten als der Bedingung ihrer Wiedergeburt in besserer Lage.
Das Band zwischen Jahve und seinem Volk wurde um so unzerreissbarer, je
mörderischer Verachtung und Verfolgung auf den Juden lasteten. Im offensichtlichen
Gegensatz z. B. gegen die orientalischen Christen, welche unter den Ommajaden
der privilegierten Religion des Islam in solchen Massen zuströmten, daß
die politische Gewalt im ökonomischen Interesse der privilegierten Schicht
den Übertritt erschwerte, sind deshalb alle die häufigen zwangsweisen
Massenbekehrungen der Juden, welche ihnen doch die Privilegien der herrschenden
Schicht verschafften, vergebens geblieben. Das einzige Mittel der Erlösung
war eben, für die indische Kaste wie für die Juden, die Erfüllung
der religiösen Spezialgebote für das Pariavolk, denen niemand sich
entziehen kann, ohne bösen Zauber für sich befürchten zu müssen
und seine oder seiner Nachfahren Zukunftschancen zu gefährden. Der Unterschied
der jüdischen Religiosität aber gegenüber der hinduistischen
Kastenreligiosität liegt nun in der Art der Erlösungshoffnung begründet.
Der Hindu erwartet von religiöser Pflichterfüllung die Verbesserung
seiner persönlichen Wiedergeburtschancen, also Aufstieg oder Neuinkarnation
seiner Seele in eine höhere Kaste. Der Jude dagegen für seine Nachfahren
die Teilnahme an einem messianischen Reich, welches seine gesamte Pariagemeinschaft
aus ihrer Pariastellung zur Herrenstellung in der Welt erlösen wird. Denn
mit der Verheißung, dass alle Völker der Erde vom Juden leihen
werden und er von niemand, hatte Jahve nicht die Erfüllung in Gestalt kleinen
Pfandleihwuchers vom Ghetto aus gemeint, sondern die Lage einer typischen antiken
machtvollen Stadtbürgerschaft, deren Schuldner und Schuldknechte die Einwohner
unterworfener Dörfer und Kleinstädte sind. Der Hindu arbeitet ebenso
für ein künftiges menschliches Wesen, welches mit ihm nur unter den
Voraussetzungen der animistischen Seelenwanderungslehre etwas zu tun hat: die
künftige Inkarnation seiner Seele, wie der Jude für seine leiblichen
Nachfahren, in deren animistisch verstandener Beziehung zu ihm seine »irdische
Unsterblichkeit« besteht. Aber gegenüber der Vorstellung des Hindu,
welche die soziale Kastengliederung der Welt und die Stellung seiner Kaste als
solcher gänzlich unangetastet für immer bestehen läßt und
das Zukunftslos seiner individuellen Seele gerade innerhalb dieser selben Rangordnung
verbessern will, erwartete der Jude die eigene persönliche Erlösung
gerade umgekehrt in Gestalt eines Umsturzes der geltenden sozialen Rangordnung
zugunsten seines Pariavolks. Denn sein Volk ist das zum Prestige, nicht aber
zur Pariastellung, berufene und von Gott erwählte.
Und daher gewinnt auf dem Boden der jüdischen ethischen Erlösungsreligiosität
ein Element große Bedeutung, welches, von Nietzsche zuerst beachtet, aller
magischen und animistischen Kastenreligiosität völlig fehlt. das Ressentiment [»auf Vorurteilen, Unterlegenheits-gefühlen,
Neid o. ä. beruhende gefühlsmäßige Abneigung«].
Es ist in Nietzsches Sinn Begleiterscheinung der religiösen Ethik der negativ
Privilegierten, die sich, in direkter Umkehrung des alten Glaubens, dessen getrösten,
daß die ungleiche Verteilung der irdischen Lose auf Sünde und Unrecht
der positiv Privilegierten beruhe, also früher oder später gegen jene
die Rache Gottes herbeiführen müsse. In Gestalt dieser Theodizee [»Rechtfertigung
Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels und Bösen,
das man mit dem Glauben an seine Allmacht und Weisheit und Güte in Einklang
zu bringen sucht«] der negativ Privilegierten dient dann der Moralismus
als Mittel der Legitimierung bewussten oder unbewußten Rachedurstes.
Das knüpft zunächst an die »Vergeltungsreligiosität«
an. Besteht einmal die religiöse Vergeltungsvorstellung, so kann gerade
das »Leiden« als solches, da es ja gewaltige Vergeltungshoffnungen
mit sich führt, die Färbung von etwas rein an sich religiös Wertvollem
annehmen. Bestimmte asketische Kunstlehren einerseits, spezifische neurotische
Prädispositionen andererseits können dieser Vorstellung in die Hände
arbeiten. Allein den spezifischen Ressentimentscharakter erlangt die Leidensreligiosität
nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen: z. B. nicht bei den Hindus und Buddhisten.
Denn dort ist das eigene Leiden auch individuell verdient. Anders beim Juden.
Die Psalmenreligiosität ist erfüllt von Rachebedürfnis und in
den priesterlichen Überarbeitungen der alten israelitischen Überlieferungen
findet sich der gleiche Einschlag: die Mehrzahl aller Psalmen enthält —
einerlei, ob die betreffenden Bestandteile vielleicht in eine ältere, davon
freie Fassung erst nachträglich hineingekommen sind die moralistische Befriedigung
und Legitimierung offenen oder mühsam verhaltenen Rachebedürfnisses
eines Pariavolkes ganz handgreiflich. Entweder in der Form: daß dem Gott
die eigene Befolgung seiner Gebote und das eigene Unglück und demgegenüber
das gottlose Treiben der stolzen und glücklichen Heiden, die infolgedessen
seiner Verheißungen und Macht spotten, vorgehalten werden. Oder in der
anderen Form: daß die eigene Sünde demutsvoll bekannt, Gott aber
gebeten wird, er möge nun endlich von seinem Zorn abstehen und seine Gnade
dem Volke, das schließlich doch allein das seinige sei, wieder zuwenden.
In beiden Fällen verbunden mit der Hoffnung: daß des endlich versöhnten
Gottes Rache nun doppelt die gottlosen Feinde dereinst ebenso zum Schemel der
Füße Israels machen werde, wie dies die priesterliche Geschichtskonstruktion
den kananäischen Feinden des Volkes angedeihen läßt, solange
dieses nicht Gottes Zorn durch Ungehorsam erweckt und dadurch seine eigene Erniedrigung
unter die Heiden verschuldet. Wenn manche dieser Psalmen vielleicht, wie moderne
Kommentatoren wollen, dem individuellen Zorn pharisäisch Frommer über
die Verfolgungen unter Alexandros Jannaios entstammen, so ist ihre Auslese und
Aufbewahrung das Charakteristische, und andere reagieren ganz offensichtlich
auf die Pariastellung der Juden als solcher. In aller Religiosität der
Welt gibt es keinen Universalgott von dem unerhörten Rachedurst Jahves,
und den historischen Wert von Tatsachenangaben der priesterlichen Geschichtsüberarbeitung
kann man fast genau daran erkennen: daß der betreffende Vorgang (wie etwa
die Schlacht von Megiddo) nicht in diese Theodizee der Vergeltung und
Rache paßt. Die jüdische Religiosität ist so die Vergeltungsreligiosität
geworden.
Die gottgebotene Tugend wird um der Vergeltungshoffnung willen geübt. Und
diese ist in erster Linie eine kollektive: das Volk als Ganzes soll die Erhöhung
erleben, nur dadurch kann auch der einzelne seine Ehre wiedergewinnen. Daneben
und damit sich vermischend geht natürlich die individuelle Theodizee des
persönlichen Einzelschicksals — selbstverständlich von jeher
— deren Problematik vor allem in dem ganz anderen, unvolkstümlichen
Schichten entstammenden Hiobbuch gipfelt, um dort in dem Verzicht auf eine Lösung
des Problems und dem Sichfügen in die absolute Souveränität Gottes
über seine Kreaturen den puritanischen Prädestinationsgedanken [»göttliche Vorherbestimmung«] zu präludieren [»vorspielen«] , der hätte entstehen müssen, sobald
das Pathos der zeitlich ewigen Höllenstrafen hinzutrat. Aber er entstand
eben nicht und das Hiobbuch blieb in seinem vom Dichter gemeinten Ergebnis bekanntlich
fast völlig unverstanden, so felsenfest stand der kollektive Vergeltungsgedanke
in der jüdischen Religiosität. Die für den frommen Juden mit
dem Moralismus des Gesetzes unvermeidlich verbundene, weil fast alle exilischen
und nachexilischen heiligen Schriften durchziehende, Rachehoffnung, welche zweieinhalb
Jahrtausende lang in fast jedem Gottesdienst des an den beiden unzerreissbaren
Ketten: der religiös geheiligten Absonderung von der übrigen Welt
und der Diesseitsverheißungen seines Gottes, festliegenden Volkes bewußt
oder unbewußt neue Nahrung erhalten mußte, trat, da der Messias
auf sich warten ließ, natürlich im religiösen Bewußtsein
der Intellektuellenschicht immer wieder zugunsten des Werts der Gottinnigkeit
rein als solcher oder eines milden stimmungsvollen Vertrauens auf göttliche
Güte rein als solche und der Bereitschaft zum Frieden mit aller Welt zurück.
Dies geschah besonders, so oft die soziale Lage der zu völliger politischer
Machtlosigkeit verurteilten Gemeinden eine irgend erträgliche war, - während
sie in Epochen, wie etwa den Verfolgungen der Kreuzzugszeit entweder zu einem
ebenso penetranten wie fruchtlosen Racheschrei zu Gott wieder aufflammt oder
zu dem Gebet: die eigene Seele möge vor den den Juden fluchenden Feinden
»zu Staub werden«, aber vor bösen Worten und Taten sich wahren
und sich allein auf die wortlose Erfüllung von Gottes Gebot und die Offenhaltung
des Herzens für ihn beschränken. Eine so unerhörte Verzerrung
es nun wäre, im Ressentiment das eigentlich maßgebende Element der
historisch stark wandelbaren jüdischen Religiosität finden zu wollen,
so darf allerdings sein Einfluß auch auf grundlegende Eigenarten der jüdischen
Religiosität nicht unterschätzt werden. Denn es zeigt gegenüber
dem ihr mit anderen Erlösungsreligionen Gemeinsamen in der Tat einen der
spezifischen Züge und spielt in keiner anderen Religiosität negativ
privilegierter Schichten eine derartig auffällige Rolle. In irgend einer
Form allerdings ist die Theodizee der negativ Privilegierten Bestandteil jeder
Erlösungsreligiosität, welche in diesen Schichten vornehmlich ihre
Anhängerschaft hat, und die Entwicklung der Priesterethik ist ihr überall
da entgegengekommen, wo sie Bestandteil einer vornehmlich innerhalb solcher
Schichten heimischen Gemeindereligiosität wurde. Seine fast völlige
Abwesenheit, und ebenso das Fehlen fast aller sozialrevolutionären, religiösen
Ethik in der Religiosität des frommen Hindu und des buddhistischen Asiaten
erklärt sich aus der Art der Wiedergeburtstheodizee; die Ordnung der Kaste
als solche bleibt ewig und ist absolut gerecht. Denn Tugenden oder Sünden
eines früheren Lebens begründen die Geburt in die Kaste, das Verhalten
im jetzigen Leben die Chancen der Verbesserung. Es besteht daher vor allem keine
Spur jenes augenfälligen Konflikts zwischen der durch Gottes Verheißungen
geschaffenen sozialen Prätention und der verachteten Lage in der Realität,
welcher in dem dergestalt in ständiger Spannung gegen seine Klassenlage
und in ständiger Erwartung und fruchtloser Hoffnung lebenden Juden die
Weltunbefangenheit vernichtete, und die religiöse Kritik an den gottlosen
Heiden, auf welche dann erbarmungsloser Hohn antwortete, umschlagen ließ
in ein immer waches, oft erbittertes, weil ständig von geheimer Selbstkritik
bedrohtes Achten auf die eigene Gesetzestugend. Dazu trat kasuistisches, lebenslänglich
geschultes Grübeln über die religiösen Pflichten der Volksgenossen
- von deren Korrektheit ja Jahves schließliche Gnade abhing - und die
in manchen Produkten der nachexilischen Zeit so charakteristisch hervortretende
Mischung von Verzagtheit an jeglichem Sinn dieser eitlen Welt, Sichbeugen unter
die Züchtigungen Gottes, Sorge, ihn durch Stolz zu verletzen, und angstvoller,
rituell-sittlicher Korrektheit, die den Juden jenes verzweifelte Ringen nicht
mehr um die Achtung der andern, sondern um Selbstachtung und Würdegefühl
aufzwang. Ein Würdegefühl, das, - wenn schließlich doch die
Erfüllung der Verheißungen Jahves der Maßstab des jeweiligen
eigenen Werts vor Gott sein mußte, - sich selbst immer prekär werden
und damit wieder vor dem Schiffbruch des ganzen Sinnes der eigenen Lebensführung
stehen konnte.
Ein greifbarer Beweis für Gottes persönliche Gnade blieb in der Tat
für den Ghetto-Juden in steigendem Maße der Erfolg im Erwerb. Allein
es paßt gerade der Gedanke der »Bewährung« im gottgewollten
»Beruf« für den Juden nicht in dem Sinn, in welchem die innerweltliche
Askese ihn kennt. Denn der Segen Gottes ist in weit geringerem Maße als
bei dem Puritaner in einer systematischen asketischen rationalen Lebensmethodik
als der dort einzig möglichen Quelle der certitudo salutis verankert.
Nicht nur ist z.B. die Sexualethik direkt antiasketisch und naturalistisch geblieben
und war die altjüdische Wirtschaftsethik in ihren postulierten Beziehungen
stark traditionalistisch, erfüllt von einer, jeder Askese fremden, unbefangenen
Schätzung des Reichtums, sondern die gesamte Werkheiligkeit der Juden ist
ritualistisch unterbaut und überdies häufig kombiniert mit dem spezifischen
Stimmungsgehalt der Glaubensreligiosität. Nur gelten die traditionalistischen
Bestimmungen der innerjüdischen Wirtschaftsethik selbstverständlich,
wie bei aller alten Ethik, in vollem Umfang nur dem Glaubensbruder gegenüber,
nicht nach außen. Alles in allem aber haben Jahves Verheißungen
innerhalb des Judentums selbst in der Tat einen starken Einschlag von Ressentimentmoralismus
gezeitigt. Sehr falsch wäre es aber, sich das Erlösungsbedürfnis,
die Theodizee oder die Gemeindereligiosität überhaupt als nur auf
dem Boden der negativ privilegierten Schichten oder gar nur aus Ressentiment
erwachsen vorzustellen, also lediglich als Produkt eines »Sklavenaufstandes
in der Moral«. Das trifft nicht einmal für das alte Christentum zu,
obwohl es seine Verheißungen mit größtem Nachdruck gerade an
die geistig und materiell »Armen« richtet. An dem Gegensatz der
Prophetie Jesu und ihren nächsten Konsequenzen kann man vielmehr erkennen,
welche Folgen die Entwertung und Sprengung der rituellen, absichtsvoll auf Abschluß
nach außen abgezweckten Gesetzlichkeit und infolgedessen: [die] Lösung der Verbindung der Religiosität mit der Stellung der Gläubigen als
eines kastenartig geschlossenen Pariavolkes, haben mußten. Gewiß
enthält die urchristliche Prophetie sehr spezifische Züge von »Vergeltung«
im Sinne des künftigen Ausgleichs der Lose (am deutlichsten in der Lazaruslegende)
und der Rache, die Gottes Sache ist. Und das Reich Gottes ist auch hier ein
irdisches Reich, zunächst offenbar ein speziell oder doch in erster Linie
ein den Juden, die ja von alters her an den wahren Gott glauben, bestimmtes
Reich. Aber gerade das spezifisch penetrante Ressentiment des Pariavolks ist
das, was durch die Konsequenzen der neuen religiösen Verheißungen
ausgeschaltet wird. Und die Gefahr des Reichtums für die Erlösungschance
wird wenigstens in den als eigene Predigt Jesu überlieferten Bestandteilen
selbst in keiner Art asketisch motiviert und ist erst recht nicht - wie die
Zeugnisse der Tradition über seinen Verkehr nicht nur mit Zöllnern
(das sind in Palästina meist Kleinwucherer), sondern mit andern wohlhabenden
Vornehmen beweisen - aus Ressentiment motivierbar. Dazu ist die Weltindifferenz
bei der Wucht der eschatologischen Erwartungen viel zu groß. Freilich,
wenn er »vollkommen«, das heißt: Jünger werden
will, muß der reiche Jüngling bedingungslos aus der »Welt«
scheiden. Aber ausdrücklich wird gesagt, daß bei Gott alles, auch
das Seligwerden des Reichen, der von seinen Gütern zu scheiden sich nicht
entschließen kann, wie immer erschwert, dennoch möglich sei. »Proletarische
Instinkte« sind dem Propheten akosmistischer Liebe, der den geistig und
materiell Armen die frohe Botschaft von der unmittelbaren Nähe des Gottesreiches
und Freiheit von der Gewalt der Dämonen bringt, ebenso fremd wie etwa dem
Buddha, dem das absolute Ausscheiden aus der Welt unbedingte Voraussetzung der
Erlösung ist. Die Schranke der Bedeutung des »Ressentiments«
und die Bedenklichkeit der allzu universellen Anwendung des »Verdrängungs«
- Schemas zeigt sich aber nirgends so deutlich wie in dem Fehler Nietzsches,
der sein Schema auch auf das ganz unzutreffende Beispiel des Buddhismus anwendet.
Dieser aber ist das radikalste Gegenteil jedes Ressentimentmoralismus, vielmehr
die Erlösungslehre einer stolz und vornehm die Illusionen des diesseitigen
wie des jenseitigen Lebens gleichmäßig verachtenden, zunächst
fast durchweg aus den privilegierten Kasten, speziell der Kriegerkaste, rekrutierten
Intellektuellenschicht, und kann allenfalls mit der hellenistischen, vor allem
der neuplatonischen, oder auch der manichäischen oder der gnostischen Erlösungslehre,
so gründlich verschieden diese von ihm sind, der sozialen Provenienz nach
verglichen werden. Wer die Erlösung zum Nirvâna nicht will, dem gönnt
der buddhistische bhikshu die ganze Welt einschließlich der Wiedergeburt
im Paradiese. Gerade dies Beispiel zeigt, daß das Erlösungsbedürfnis
und die ethische Religiosität noch eine andere Quelle hat als die soziale
Lage der negativ Privilegierten und den durch die praktische Lebenslage bedingten
Rationalismus des Bürgertums: den Intellektualismus rein als solchen, speziell
die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische
und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt
wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können.
In außerordentlich weitgehendem Maße ist das Schicksal der Religionen
durch die verschiedenen Wege, welche der Intellektualismus dabei einschlägt,
und durch dessen verschiedenartige Beziehungen zu der Priesterschaft und den
politischen Gewalten und sind diese Umstände wiederum durch die Provenienz
derjenigen Schicht bedingt gewesen, welche in spezifischem Grade Träger
des Intellektualismus war. Das war zunächst das Priestertum selbst,
insbesondere wo es durch den Charakter der heiligen Schriften und die Notwendigkeit,
diese zu interpretieren und ihren Inhalt, ihre Deutung und ihren richtigen Gebrauch
zu lehren, eine Literatenzunft geworden war. Das ist gar nicht in den Religionen
der antiken Stadtvölker, speziell der Phöniker, Hellenen, Römer
einerseits, in der chinesischen Ethik andererseits geschehen. Hier geriet das
infolge dessen nur bescheiden entwickelte, eigentlich theologische (Hesiod)
und alles metaphysische und ethische Denken ganz in die Hände von Nichtpriestern.
In höchstem Maße dagegen war das Gegenteil der Fall in Indien, Aegypten
und Babylonien, bei den Zarathustriern, im Islâm und im alten und mittelalterlichen,
für die Theologie auch im modernen Christentum. Die ägyptische, zarathustrische
und zeitweise die altchristliche und, während des vedischen Zeitalters,
also vor Entstehung der laienasketischen und der Upanishad - Philosophie, auch
die brahmanische, in geringerem, durch Laienprophetie stark durchbrochenem Maße
auch die jüdische, in ähnlich begrenztem, durch die sûfîtische
Spekulation teilweise durchbrochenem, Grade auch die islâmische Priesterschaft
haben die Entwicklung der religiösen Metaphysik und Ethik in sehr starkem
Maße zu monopolisieren gewußt. Neben den Priestern oder statt ihrer
sind es in allen Zweigen des Buddhismus, im Islâm und im alten und mittelalterlichen
Christentum vor allen Dingen Mönche oder mönchsartig orientierte Kreise,
welche nicht nur das theologische und ethische, sondern alles metaphysische
und beträchtliche Bestandteile des wissenschaftlichen Denkens überhaupt
und außerdem der literarischen Kunstproduktion okkupierten und literarisch
pflegten. Die Zugehörigkeit der Sänger zu den kultisch wichtigen Personen
hat die Hineinbeziehung der epischen, lyrischen, satyrischen Dichtung Indiens
in die Veden, der erotischen Dichtung Israels in die heiligen Schriften, [und] die psychologische Verwandtschaft der mystischen und pneumatischen mit der dichterischen
Emotion [hat] die Rolle des Mystikers in der Lyrik im Orient und Okzident bedingt.
Aber hier soll es nicht auf die literarische Produktion und ihren Charakter,
sondern auf die Prägung der Religiosität selbst durch die Eigenart
der sie beeinflussenden Intellektuellenschichten ankommen. Da ist nun der Einfluß
des Priestertums als solcher auch da, wo es Hauptträger der Literatur war,
sehr verschieden stark gewesen, je nach den nichtpriesterlichen Schichten, die
ihm gegenüberstanden, und seiner eigenen Machtstellung. Wohl am stärksten
spezifisch priesterlich beeinflußt ist die spätere Entwicklung der
zarathustrischen Religiosität. Ebenso die ägyptische und babylonische.
Prophetisch, dabei aber doch intensiv priesterlich geprägt ist das Judentum
des deuteronomistischen und auch des exilischen Zeitalters. Für das Spätjudentum
ist statt des Priesters der Rabbiner eine ausschlaggebende Figur. Sehr stark
priesterlich, daneben mönchisch geprägt ist die christliche Religiosität
der spätesten Antike und des Hochmittelalters, dann wieder die Gegenreformation.
Intensiv pastoral beeinflußt ist die Religiosität des Luthertums
und auch des Frühcalvinismus.
Aus: Max Weber: Grundriß der Soziologie, Wirtschaft
und Gesellschaft, Zweiter Teil, Kapitel V Religionssoziologie, § 7 (S.
1007-1023)
Digitale Bibliothek Band 58: Max Weber, Gesammelte Werke
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