Kurt Wilhelm (1900 - 1965)
In Magdeburg geborener jüdischer Religionsexperte, der 1923 zum Dr. phil. promovierte. Von 1925 – 1929 war er Landesrabbiner in Braunschweig, 1929 – 1933 Gemeinderabbiner in Dortmund, 1933 –1948 Rabbiner in Jerusalem und danach Oberrabbiner in Schweden. Seit 1959 lehrte er als Honorarprofessor für Wissenschaft des Judentums an der Universität Frankfurt. Wilhelm ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher über Judentum in Deutsch, Hebräisch und Schwedisch und Herausgeber des Buches »Jüdischer Glaube« (1961).

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Inhaltsverzeichnis
Gottes unfassbares Wesen
Die ewige Fortdauer des Menschen über den Tod hinaus


Gottes unfassbares Wesen
«Du sollst dir kein Bildnis machen und keinerlei Gestalt.» — Das Judentum hat als strenge monotheistische Religion die bildlose Verehrung ernst gemeint. In der Bibel und im rabbinischen Judentum ist Gott als ein rein geistiges Wesen gedacht, ohne Körper und Gestalt. Mit Recht wird man einwenden: und Gottes Auge, Gottes Hand, Gottes starker Arm — und der Mensch in Gottes Ebenbild? Benno Jacob macht in seinem Genesis-Kommentar (das erste Buch der Tora, 1934, S. 58) die ausgezeichnete Bemerkung, «Gott sprach» sei kein geringerer Anthropomorphismus als Gottes Hand, wenn überhaupt von Gottes lebendigem Wirken ver-ständlich gesprochen werden soll. Die gröbsten Anthropomorphismen finden wir gerade in den biblischen Büchern, die wie Jesaja und Hiob am schwungvollsten Gottes Erhabenheit und Unvergleichbarkeit bekunden. Da die Männer der Bibel nicht philosophisch gesprochen haben, sondern biblisch, darf man Jacob zustimmen, wenn er sagt: «Je geistiger der Begriff, desto anthropomorphistischer der Ausdruck.» Die Frage, welche religiösen Aussagen wörtlich zu nehmen sind und welche nur metaphorisch usw., hat der jüdische Aristoteliker Maimonides in seinem Führer der Schwankenden dahingehend beantwortet, daß er nur die sogenannten negativen Attribute Gottes als echte Aussagen gelten lassen will (Gottes Nichtsein ist undenkbar; Gott ist kein Körper usw.), während alle positiven Aussagen über Gott notwendigerweise anthropomorphistisch sind. Die Bezeichnung Gottes durch seine positiven Eigenschaften vermittelt nur unvollständige Erkenntnis von ihm, und es ist nach Maimonides dasselbe, ob wir diesem geistigen Wesen einen einfachen Namen geben wie etwa «Gott» oder ob wir es durch eine Summe zusammengesetzter Eigenschaften benennen. Gegen Maimonides ließe sich einwenden, dass auch die negativen Attribute aus der menschlichen Erfahrungswelt stammen. Auch wenn ich Gott die Vielheit abspreche, spreche ich auf Grund meines menschlichen Wissens um die Vielheit.

Ein talmudischer Grundsatz: Die Tora spricht in der Sprache der Menschen. Nicht nur die Tora und die Bibel tun es, nicht nur das rabbinische Judentum und die Religionsphilosophie. Die jüdische Mystik schweigt geradezu in den phantastischsten Bildern von Gott, wenn sie von der lebendigen Gestalt der Gottheit künden will. Gerade die gröbsten Anthropomorphismen sind der jüdischen Mystik recht, um Gottes unfaßbares Wesen darzustellen oder zu verhüllen. Mit diesem Wagnis hat die jüdische Mystik freilich keinen reinen Gottesbegriff zu lehren vermocht, aber einen um so mehr lebendigen
. S.75-76
Aus: Die Antwort der Religionen, Eine Umfrage mit 31 Fragen von Gerhard Szczesny bei »Glaubensfachleuten« der großen Bekenntnisgemeinschaften Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH , Reinsbek bei Hamburg 1971
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Claudia Szczesny-Friedmann, München

Die ewige Fortdauer des Menschen über den Tod hinaus
Auch wenn die ältesten Bücher der Bibel keine bestimmten Vorstellungen von der Unsterblichkeit und vom Leben nach dem Tode vermitteln, hat dennoch der alte Israelit an irgendeine Fortsetzung dieses irdischen Lebens nach seinem Tode geglaubt. Er wusste von scheol, das dem Leben auf Erden folgt, und er wusste, wer ins scheol hinabsank, war wohl abgeschnitten vom Leben, aber deshalb musste er nicht jedes Daseins bar sein. Diesen animistischen Glauben wird der Israelit mit anderen Völkern geteilt haben. Aber diese Vorstellung wurde von den Propheten Israels nicht gefördert. Ein solcher Glaube ist notwendigerweise mit Totenopfern und ähnlichen kultischen Verpflichtungen verbunden. Das Judentum, wie es in der Lehre Mose und durch die Propheten angelegt ist, sollte aber eine Religion des Lebens sein. Darum wird in der Tora der Tod und der Tote als kultisch verunreinigend erklärt. Nicht im Grab und nicht im scheol besteht der Mensch über den leiblichen Tod hinaus, sondern auf Grund seiner Ebenbildlichkeit mit Gott. Die notwendige Konsequenz aus der Einzigkeit des Schöpfers und der Einzigkeit des Menschen ist die menschliche Teilhaftigkeit an der Unendlichkeit Gottes. Diese ewige Fortdauer des Menschen über den Tod hinaus ist eine absolute Angelegenheit der Religion, die es nicht nötig hat, den Nachweis zu erbringen, ob es von lebendiger Substanz etwas letztes Unzerstörbares gibt.

Die geistige Auffassung von der Unsterblichkeit wird im Judentum durch kein Bild getrübt. Sie ist das Geheimnis Gottes schlechthin, wie es im Talmud heißt: Die kommende Welt hat kein Auge gesehen, nur du, o Gott, allein. Nur vom Verhältnis der Gottesnähe in dieser Welt zu dem in der kommenden wagt der Mischna-Traktat
<Sprüche der Väter>, eine Sammlung ethischer Sentenzen, Aussagen zu machen: Diese Welt ist gleichsam der Vorhof der kommenden Welt. Bereite dich im Vorhof darauf vor, da
ss du in den Speisesaal eintreten kannst. Besser eine Stunde in Umkehr und guten Werken auf dieser Welt als alles Leben in der kommenden Welt. Besser eine Stunde der Erquickung in der kommenden Welt als alles Leben in dieser Welt.

Das Judentum hat niemals diese Welt zum Jammertal erklärt, um das Leben in der kommenden Welt gegen das Leben dieser Welt auszuspielen. Die Fragen der persönlichen Unsterblichkeit und der Präexistenz und des Fortlebens der Seele werden mit der Ewigkeit des jüdischen Volkes selbst verwoben. Alle Seelen, die je und je in einen jüdischen Körper eingehen werden, so heißt es in einem Midrasch, haben am Sinai gestanden und sind dort in den ewigen Verbund zwischen Gott und Israel eingetreten. «Wir Juden sind also vom Sinai her beim Vater», folgert Franz Rosenzweig, «und wir bedürfen nicht des Sohnes, um zum Vater zu gelangen.»

Wenn ein Jude im Gottesdienst zur aktiven Teilnahme an der Vorlesung aus der Tora hinzugezogen wird, wenn er, wie der Ausdruck lautet, «aufgerufen» wird, um über die zur Vorlesung geöffnete Tora-Rolle einen Segensspruch zu sprechen, so dankt er in diesem Segen Gott dafür. dass er «Leben der Ewigkeit in uns gepflanzt hat». In jeden von uns und in uns als Israel. «Wir leben ewig», mit diesem Gesang gingen Juden in die Gaskammern
. S.94f.
Aus: Die Antwort der Religionen, Eine Umfrage mit 31 Fragen von Gerhard Szczesny bei »Glaubensfachleuten« der großen Bekenntnisgemeinschaften Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH , Reinsbek bei Hamburg 1971
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Claudia Szczesny-Friedmann, München