Christian Wolff (1679 – 1754)
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Deutscher
Philosoph und Mathematiker; der seit 1707 Professor in Halle war und 1723 auf Betreiben
der Pietisten als »Religionsfeind« und »Determinist« von seinem Amt suspendiert und des Landes verwiesen wurde. Nach einer Lehrtätigkeit in Marburg wurde er 1740 von Friedrich
dem Großen nach Halle zurückberufen. Er entwickelte in Anknüpfung
an die Lehre von Gottfried Wilhelm Leibniz als führender
Vertreter der deutschen Aufklärung ein
umfassendes schulbildendes System des Rationalismus,
das zur beherrschenden Philosophie seiner Zeit wurde. Seine Schüler,
die sogenannten »Wolffianer« wirkten
teilweise stark popularisierend und hatten im 18. Jahrhundert fast alle
philosophischen Lehrstühle in Deutschland besetzt.
Wolff vertrat einen durch die Leibnizsche Idee der prästabilierten Harmonie gemilderten Dualismus zwischen
Materiellem und Immateriellem. Er erneuerte die mittelalterlichen Gottesbeweise und hielt Vernunft und Offenbarung für vereinbar. Seine Naturrechtslehre fasste das logisch Ableitbare als das Vernünftige und Natürliche
auf, seine Staatslehre unterstützte den aufgeklärten Absolutismus. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die
Existenz und die Attribute Gottes, abgeleitet von dem Begriff des vollkommensten
Wesens
Kompossibel [zuammensetzbar,
vereinbar] heißen Bestimmungen, die zur gleichen Zeit in demselben
Subjekt sein können. So sind Verstand und Wille gleichzeitig in unserer
Seele. ...
Unter dem Namen Realität verstehen
wir hier alles, von dem wir erkennen, dass es wirklich in einem Seienden ist und nicht nur infolge unserer undeutlichen Wahrnehmungen in ihm zu sein
scheint. Z. B. erkennen wir, dass unser Verstand wirklich in unserer Seele ist; also ist er eine Realität. Dagegen sind Farben ... nicht so in den
Gegenständen, wie ihre Abbilder sie uns darstellen, sondern sie scheinen nur infolge unserer undeutlichen Wahrnehmungen von ihnen darin zu sein. ...
Vollkommenstes Wesen heißt dasjenige,
in dem alle kompossiblen Realitäten in absolut höchstem Grade sind.
...
Das absolute Wesen ist gänzlich unbegrenzt. Denn alles, was
im vollkommensten Wesen ist, hat den absolut höchsten Grad, und deshalb
kann man nichts denken, das größer wäre als es. Weil also das
Wesen, bei dem sich nichts denken lässt, das größer wäre
als es, nicht begrenzt sein kann, deshalb ist das vollkommenste Wesen gänzlich
unbegrenzt. . . .
Das vollkommenste Wesen ist gänzlich unveränderlich. Denn im vollkommensten Wesen gibt es überhaupt keine Grenzen. Weil aber Grenzen das einzige sind, das an einem Seienden verändert werden kann,
deshalb gibt es im vollkommensten Wesen gar nichts, das einer Veränderung unterliegen könnte. Es ist also gänzlich unveränderlich.
Das vollkommenste Wesen ist unendlich....
Gott ist das vollkommenste Wesen, und zwar im absoluten Sinn....
Weil Gott das vollkommenste Wesen ist und weil das vollkommenste Wesen alle
kompossiblen Realitäten in absolut höchstem Grad enthält, deshalb enthält Gott alle kompossiblen Realitäten
in absolut höchstem Grad oder
deshalb sind alle Realitäten in absolut höchstem Grad in Gott. ...
Ähnlich: Weil das vollkommenste Wesen gänzlich unbegrenzt ist und
weil es in ihm überhaupt keine Grenzen gibt, Gott aber das vollkommenste
Wesen ist, deshalb ist Gott gänzlich unbegrenzt
und gibt es in ihm überhaupt keine Grenzen....
Weil ferner das vollkommenste Wesen ganz unveränderlich ist, Gott aber
das vollkommenste Wesen ist, deshalb ist Gott schlechterdings
ganz unveränderlich . ...
Weil Gott das vollkommenste Wesen, das vollkommenste Wesen aber unendlich ist,
deshalb ist Gott unendlich. ...
Weil schließlich das vollkommenste Wesen möglich ist und Gott das
vollkommenste Wesen ist, deshalb ist Gott möglich.
...
Notwendige und kontingente [»zufälligerweise
möglich und wirklich sein könnende«] Existenz
sind Realitäten, und die zuerst genannte ist eine von absolut höchstem
Grad. Denn das notwendig Seiende existiert. Weil nun dasjenige eine
Realität ist, welches wirklich in einem Seienden ist und nicht nur infolge
unserer undeutlichen Wahrnehmungen in ihm zu sein scheint, deshalb kann man
nicht daran zweifeln, dass die notwendige Existenz eine Realität ist.
Gott existiert notwendigerweise. Denn
Gott enthält alle kompossiblen Realitäten in absolut höchstem
Grad. Er ist aber auch möglich. Weil nur das Mögliche zu existieren
vermag, kann Existenz in ihm sein; und weil sie eine Realität ist und weil
nur solche Realitäten kompossibel sind, die gleichzeitig in einem Seienden
sein können, deshalb zählt sie zu den kompossiblen [»wirklich
sein könnenden«] Realitäten. Nun ist ferner die notwendige Existenz
eine von absolut höchstem Grad. Also kommt Gott notwendige Existenz zu
oder, was dasselbe ist, existiert Gott notwendigerweise. ...
Weil Gott notwendigerweise existiert und weil ein Wesen, dessen Existenz absolut
notwendig ist, notwendig ist; deshalb ist Gott das
notwendige Wesen; und weil kontingent ist, was nicht notwendig ist, kann folglich Gott
kein kontingentes Wesen sein.
Gott hat den Grund seiner Existenz in seinem Wesen. Denn er ist ens a se. Nun hat ein ens a se den Grund seiner Existenz in seinem Wesen. Also hat Gott den Grund seiner Existenz in
seinem Wesen. Dies erweist man auch so. Gott ist das notwendige Wesen. Weil
das notwendige Wesen den hinreichenden Grund seiner Existenz in seinem Wesen
hat, deshalb hat Gott den hinreichenden Grund seiner Existenz in seinem Wesen.
...
Gott existiert kraft seines Wesens, das heißt,
die Existenz ist ihm wesentlich. . . .
Gott hat keinen Anfang und kein Ende seiner Existenz.
. .
Man unterstelle, er hätte einen Anfang und ein Ende seiner Existenz. Er
hätte also irgendwann nicht existiert und würde irgendwann nicht existieren,
und folglich wäre es nicht unmöglich, daß Gott nicht existiert.
Weil nun dasjenige nicht notwendig sein kann, dessen Gegenteil nicht unmöglich
wäre, wäre Gottes Dasein nicht notwendig, oder Gott existierte nicht
notwendigerweise; daß dies jedoch absurd ist, das ist aufgrund des oben
bereits Bewiesenen klar.
Weil ewig ist, was weder ein Anfang noch ein Ende seines Existierens hat, und
weil Gott keinen Anfang und kein Ende seines Existierens hat, deshalb ist
Gott ewig. ...
Gott kann nicht ausgedehnt sein. Denn
Gott ist ein einfaches Wesen. Ein einfaches Wesen kann aber nicht ausgedehnt
sein. Also kann Gott nicht ausgedehnt sein.
Das könnte man auch so erweisen. Gott ist ein
ens a se [»das durch sich selbst
Seiende«]. Aber ein ens a se kann
nicht ausgedehnt sein. Also kann Gott nicht ausgedehnt sein.
Dies wird auch noch folgendermaßen bewiesen. Gott ist das vollkommenste
Wesen. Weil aber im vollkommensten Wesen nur Realitäten sind, kann alles,
was keine Realität ist, Gott nicht zugesprochen werden. Nun ist aber Ausdehnung
ein Phänomen [»Schein«] und
keine Realität [»wirkliches Sein«].
Daher kann Gott keine Ausdehnung zugeschrieben werden, und folglich ist Gott
nicht ausgedehnt. ...
Gott kann nicht körperlich oder materiell sein. Denn er kann
nicht ausgedehnt sein. Aber jeder Körper ist ausgedehnt, und daher kann
etwas, das nicht ausgedehnt ist, auf keinen Fall körperlich sein.
Aus: Christian Wolff: Theologia naturalis, methodo
scientifica pertractata.Pars posterior. Frankfurt a. M. /Leipzig: Renger, 1741.
Reprogr. Nachdr. Hildesheim/New York: Olms, 1981. (Gesammelte Werke. Hrsg. von
Jean Ecole [u. a.]. Abt. 2. Bd. 8.) S. 1, 3—7, 12—19, 24f. (Abschn.
1, Kap. 1, §§ 1, 5—7, 9f., 14—22, 261., 29f., 38f.).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte
und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.232-235)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Der
Zweck der Schöpfung
Gott erschuf die beste Welt. Denn Gott
wählte diese sichtbare Welt unter sehr vielen möglichen Welten aus,
und er erschuf die Welt, weil er sie erschaffen wollte. Weil nun sein Wille
immer auf das Beste gerichtet ist, deshalb kann nicht bezweifelt werden, daß
er die beste Welt erschaffen hat. ...
Die sichtbare Welt oder die, die existiert, ist die
vollkommenste von allen möglichen Welten. Denn Gott schuf die
beste Welt, folglich ist die Welt, die existiert, die beste. Aber die beste
Welt ist die vollkommenste von allen möglichen. Also ist die Welt, die
existiert, die vollkommenste von allen möglichen. ...
Die Welt, die existiert, ist das beste Mittel zur
Verkündung der Ehre Gottes, oder: es gibt keine andere Welt, durch die
Gott seine Ehre so verkünden könnte, wie er sie durch die jetzige
offenbart....
Ziel der Schöpfung ist die Verkündigung
der Ehre Gottes, bzw. Gott hat die Welt geschaffen, um seine Ehre zu verkündigen....
Es gibt nur einen Schöpfer, Erhalter und Lenker
der Welt. Verstand, Macht und Wille Gottes sind der hinreichende
Grund für die Erschaffung und Existenz jedes endlichen Seienden, und weil
dann, wenn der hinreichende Grund gesetzt ist, auch das gesetzt wird, was um
seinetwillen eher ist als nicht ist, deshalb wird nach der Setzung des einen
Gottes auch jedes endliche Seiende, das existiert, verwirklicht....
Es gibt nur einen einzigen Gott. Denn
setze, wenn es möglich ist, es gäbe mehrere Götter. Weil in Gott
alle Realitäten in höchstem Grade sind und weil deshalb auch seine
Existenz notwendig ist, unterschiede sich der eine Gott nicht von dem andern,
und folglich wären die beiden Götter nichts als dasselbe Seiende,
nur zweimal gesetzt.
Ebd. S. 321, 326, 330 f., 3641. (Kap. 4,§§
357, 364, 3701., 40Sf.).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte
und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.235-236)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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Die
Auslegung der Heiligen Schrift
Wenn man die Schrift verstehet. Eine mit
Verstand geschriebene, und also auch die Heilige Schrift ist kein leerer Ton,
denn sonst wäre sie zu nichts nütze. Derowegen muß mit jedem
Worte ein gewisser Begriff verknüpfet werden, und wer also dieselbe verstehen
will, muß bei einem jeden Worte eben die Gedanken führen, die ihr
Urheber damit hat wollen verknüpfet wissen.
Die Begriffe der Wörter in der Schrift erhalten
wir nicht unmittelbar. Was nun insonderheit die Heilige Schrift
betrifft; so pfleget der Geist GOttes nicht unmittelbar die Begriffe in uns
zu erwecken, die wir mit seinen Worten verbinden sollen: denn sonst wäre
nicht nötig, daß man den Grundtext in andere Sprachen übersetzte,
sondern es dürfte einer nur denselben, mit Begierde, das Wort zu verstehen,
und sich daraus zu erbauen, ansehen; so würden gleich die dazu nötige
Gedanken in ihm entstehen. Die Erfahrung aber bezeuget, daß solches nicht
geschieht.
Sondern die Wörter erregen sie. Derowegen
müssen die Worte an sich geschickt sein, die Gedanken in uns zu erregen,
welche wir dabei haben sollen, wenn nur nicht Vorurteile uns verblenden, oder
sonst unsere Unachtsamkeit uns hindert.
Welche Begriffe GOtt voraussetzen kann. Solchergestalt
muß sowohl GOtt in seinem Wort als ein jeder verständiger Urheber
einer Schrift entweder selbst lehren, was wir uns für einen Gedanken hei
diesem oder jenem Worte machen sollen, oder er muß keinen andern Begriff
voraussetzen, als den wir schon vorhin haben.
Deutlichere Erklärung des Vorigen.
Da wir nun aber keinen andern Begriff haben können, als der in uns erreget
wird, wenn wir die Sachen gegenwärtig empfinden; so müssen wir auch
keinen andern als diesen Begriff damit verbinden.
Noch eine Art von übernatürlichen Begriffen,
die GOtt in der Schrift nicht erklären darf. Hieraus verstehet
man ferner, es könne GOtt von übernatürlichen Dingen einige Wörter
in der Schrift brauchen, davon wir von Natur keinen Begriff haben, und die er
doch nicht erkläret. Denn wenn durch Hülfe anderer verstandenen Lehren
eine Veränderung in uns vorgegangen ist; so empfinden wir dieselbe bei
uns, und erlangen einen Begriff davon, obgleich in der Schrift das Wort nicht
deutlich erkläret ist, dadurch sie angedeutet wird. Ja, dieses gehet sogar
auch in andern weltlichen Schriften an.
Bescheidenheit, die in Erklärung der Schrift
zu gebrauchen. Wenn uns aber GOtt von einigen Sachen durch sein
Wort zu ganz deutlichen oder gar vollständigen Begriffen nicht gelangen
lässet; so müssen wir es dabei bewenden lassen, keinesweges aber mit
den Spöttern die dadurch bedeutete Sachen für nichts halten. Denn
wir müssen mit dem Maße der Erkenntnis zufrieden sein, das uns der
Herr mitteilet, indem wir wissen, daß es zu dem Zwecke genung ist, den
GOtt durch sein Wort zu erlangen uns vorgesetzet hat.
Wie die Wahrheiten der Schrift zu beurteilen. Es
können aber auch die in der Schrift vorgetragene Lehren in eben die Klassen
der Wahrheiten verteilet werden, in welche die weltlichen sich zerteilen. Und
daher lassen sie sich mir großem Nutzen auf eben die Art untersuchen,
wie wir diese zu untersuchen angewiesen. Denn weil man aus den Werken der Erlösung
GOttes Weisheit wahrnehmen kann; so müssen die göttlichen Wahrheiten
eben eine solche Verknüpfung miteinander haben, die aus ihren Begriffen
erhellet, wie die anderen. Über dieses werden auch in der Schrift viele
Sachen vorgetragen, die nur GOtt, insoweit er ein Schöpfer, Erhalter und
Regierer der Welt ist, und den Menschen, insoweit er eine Kreatur ist, angehen.
Da nun aber diese Wahrheiten auch durch rechten Gebrauch der natürlichen
Kräfte des Verstandes können erkannt werden so hat man um soviel weniger
zu zweifeln, daß auch zwischen diesen Wahrheiten eine Verknüpfung
anzutreffen sei.
Worinnen die Erklärung einer Schrift bestehe.
Darinnen bestehet demnach die Erklärung einer jeden, und also
auch der Heiligen Schrift, daß wir
1) den rechten Verstand der Worte und
2) die Verknüpfung der Wahrheiten zeigen.
Wie Glauben und Wissen nicht vermenget werden. Es
ist aber nicht zu besorgen, daß solchergestalt der Glaube mit dem Wissen
vermenget wird. Denn weil wir in einem Schlusse den Hinter-Satz nur zugeben
um der Vordersätze willen; so muß auch der Hintersatz nur geglaubet
werden, wenn die Vördersätze auf dem bloßen Glauben beruhen.
Nutzen der vorgeschriebenen Erklärung. Am allerwenigsten aber
ist dieses Unternehmen unnütze. Denn wenn wir die Wahrheiten, so die Schöpfung
und Erhaltung der Welt, auch unsern ordentlichen und vollkommenen Wandel angehen,
zugleich wissen und glauben; so können wir die Feinde der geoffenbarten
Wahrheiten desto gewaltiger widerlegen, auch anderen desto nachdrücklicher
ihre Skrupel benehmen, die ihnen unrerweilen einfallen: welches absonderlich
in unseren Zeiten eine sehr nötige Sache ist. Erkennen wir aber die Verknüpfung
zwischen den Wahrheiten, die das Werk der Erlösung betreffen; so werden
wir dadurch von neuem von den göttlichen Eigenschaften überführet,
und zur Verherrlichung GOttes und einem würdigen Wandel dadurch aufgemuntert
Aus: Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von
den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in
Erkenntnis der Wahrheit. Hrsg. und bearb. von Hans-Werner Arndt. Hildesheim:
Olms, 1965. (Gesammelte Werke. Hrsg. Von Jean Ecole [u. a.]. Abt. 1. Bd. 1.)
S.228—230 (Kap. 12, §§ 1—11).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte
und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.232-239)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Über
die Verknüpfung der Dinge in dieser Welt
§
665. Worin die Verknüpfung der Dinge in diesem Weltall besteht.
In diesem Weltall oder dieser sichtbaren Welt besteht
die Verknüpfung des Koexistierenden [nebeneinander Bestehenden] in der
Abhängigkeit des Zweckes vom Mittel; die Verknüpfung des nacheinander
Existierenden aber in der Abhängigkeit des Verursachten von der Ursache
und zugleich in der des Zweckes vom Mittel und der Tätigkeit der Wirkursache
vom Zweck. Es steht freilich fest, weil die Erfahrung es lehrt,
daß das Wirklichsein von Eigenschaften in einem Koexistierenden seinen
hinreichenden Grund in einem anderen Koexistierenden hat, so wie es Eigenschaften
eigentümlich ist (Ontol. § 160). Was in der Zeit geschieht, geschieht
aufgrund eines Beschlusses Gottes (§ 522), denn vorher war es aufgrund
der Ideen Gottes in Gottes Natur bloß möglich (§ 192) und aufgrund
der Macht Gottes des Existierens bloß fähig (§ 224), aber noch
nicht mit Sicherheit eines Tages existierend. Deshalb darf man nicht daran zweifeln,
daß Gott die Koexistenz des in diesem Weltall oder dieser sichtbaren Welt
Koexistierenden gewollt hat, damit Veränderungen, die in einem von ihnen
möglich sind, auch wirklich geschehen (§ 497). Wenn aber nun zwei
Seiende, von denen das eine den hinreichenden Grund für Veränderungen
in den anderen enthält, deshalb von einem intelligenten Agens zugleich
hervorgebracht werden, damit Veränderungen, die in einem von ihnen möglich
sind, auch wirklich geschehen: dann besteht beider Verknüpfung in der Abhängigkeit
des Zweckes vom Mittel (Kosmol. § 39). Deshalb besteht die Verknüpfung
der in diesem Weltall koexistierenden Dinge in der Abhängigkeit des Zweckes
vom Mittel. [...]
Damit die Wahrheit dessen, was ich bewiesen habe, an einem Einzelbeispiel klarer
wird, das dennoch der Allgemeinheit des Beweises keinen Abbruch tut, will ich
demselben noch auf folgende Weise Überzeugungskraft geben. Jedermann weiß,
daß es auf der Erde Entstehen und Vergehen gibt, weil die Sonne sie mir
ihrer Wärme erquickt; wäre die Sonne nicht mehr da, dann nähme
beides gänzlich ein Ende, und die Erde wäre keine Wohnstatt mehr für
Tiere und Menschen, noch gäbe es weiterhin Raum für irgendwelche Vegetation.
Wir bekennen also weiterhin, daß die Sonne für die Erde von ganz
besonderem Nutzen ist (§ 646). Und weil Gott diesen Nutzen als Zweck beabsichtigt
(§ 648), kann niemand in Zweifel stellen, daß er die Koexistenz von
Sonne und Erde deswegen wollte, damit die Erde zur Wohnstatt für Tiere
und Menschen wurde. Wenn aber nun zwei Seiende, von denen das eine den hinreichenden
Grund für Veränderungen in dem anderen enthält, von einem intelligenten
Agens deshalb zugleich hervorgebracht werden, damit Veränderungen, die
in einem von ihnen möglich sind, auch wirklich geschehen: dann besteht
beider Verknüpfung in der Abhängigkeit des Zweckes vom Mittel (Kosmol.
§ 39). Die Verknüpfung zwischen Sonne und Erde besteht also, sofern
man sie als in diesem Universum koexistierende Gesamtweltkörper betrachtet,
in der Abhängigkeit des Zweckes vom Mittel. Setzen wir nun irgend etwas
anderes Koexistierendes an die Stelle von Sonne und Erde, dann läuft der
Beweis genauso, und deshalb muß man ganz allgemein sagen, daß die
Verknüpfung des in dieser Welt Koexistierenden in der Abhängigkeit
des Mittels vom Zweck besteht. Das war das eine.
Weil in diesem Weltall die Wirklichkeit des Kontingenten und daher nacheinander
Existierenden (Kosmol. § 80) durch die Reihe der kontingenten Dinge determiniert
ist, die voneinander abhängig sind wie die Wirkung von ihrer Ursache (Kosmol.
§ 83), ist in der Reihe des nacheinander Existierenden das Vorhergehende
die Ursache des Folgenden. Weil ferner das, was in der Welt existiert, aufgrund
eines Beschlusses Gottes existieren sollte (§ 522), wird es deswegen verwirklicht,
weil Gott es verwirklichen wollte (§ 497); man kann also nicht bezweifeln,
daß Gott deshalb die Existenz der Ursache will, damit das Verursachte
existieren kann. Wenn nun aber ein intelligentes Agens eine Ursache deshalb
hervorbringt, damit das Verursachte existieren kann, dann besteht die Verknüpfung
der nacheinander existierenden Dinge in der Abhängigkeit des Verursachten
von der Ursache und der Abhängigkeit zugleich des Zweckes vom Mittel und
der Tätigkeit der Wirkursache vom Zweck (Kosmol. § 34). Daher besteht
die Verknüpfung des in diesem Universum nacheinander Existierenden in der
Abhängigkeit des Verursachten von der Ursache und der Abhängigkeit
zugleich des Zweckes vom Mittel und der Tätigkeit der Wirkursache vom Zweck.
Demselben kann man auch so wie vorher noch Überzeugungskraft geben, wenn
man den Beweis auf ein besonderes Beispiel anwendet. Wir wollen wieder das Beispiel
nehmen, das wir früher (Kosmol., § 35, Anm.) herangezogen haben, um
die Verknüpfung der nacheinander existierenden Dinge zu erklären.
Die Sonne zieht aus dem Meere Dünste an, die, der Westwind zu uns herüberträgt.
Diese Dünste vereinigen sich in der dünneren Luft zu Wolken, und zusammengedrückte
Wolken sammeln sich zu Tropfen; wenn das geschieht, dann fällt Regen. Der
Regen befeuchtet die Erde, und der in der Erde verborgene Same keimt auf. Wir
sehen also deutlich eine Reihe von nacheinander Existierendem in dieser sichtbaren
Welt. Es steht nun fest, daß auf die Gegenwart der Sonne hin die Dünste
aus dem Meere angezogen werden; und daran, daß in einem Seienden eine
Veränderung vorgeht, sobald es mit einem anderen in Verbindung tritt, erkennt
man, daß dieses andere die Ursache jener Veränderung ist (Logik §
697); deswegen ist es klar, daß die Sonne die Ursache der Verdunstung
ist und daß folglich diese als etwas Naturnotwendiges aus dem Wesen und
der Natur der Dinge folgt (Kosmol. § 509). Weil die Zwecke, die aus dem
Wesen und der Natur der Dinge folgen, von Gott beabsichtigt sind, die Wesen
aber und die Natur der Dinge die Mittel sind, durch welche er diese Zwecke erreicht
(§ 645): liegt es auf der Hand, daß die Verdunstung des Meerwassers
sich zur Sonne wie das Mittel zum Zweck verhält. Nicht anders beweist man,
daß der Transport der Dünste eine Wirkung des Westwinds und zugleich
dessen Zweck ist. Wenn sich die Dünste zu Wolken vereinigen und sich die
Wolken in Tropfen auflösen, dann sind die Dünste die Materie, aus
der die Wolken entstehen, die Wolken aber die Materie, aus der die Tropfen sich
bilden (Ontol. § 948). Daher hängen die Wolken von den Dünsten
und die Tropfen von den Wolken wie das Verursachte von der Ursache ab. Und weil
Gott durch die Dünste die Entstehung der Regentropfen bezweckt (§
645), verhalten sich die Wolken zu den Dünsten und die Regentropfen zu
den Wolken wie der Zweck zum Mittel. Nicht anders kann man zeigen, daß
der Regen die Ursache der Befeuchtung und die Erdfeuchte die Ursache der Vegetation
ist, daß sich aber zugleich der Regen zur Befeuchtung und die Erdfeuchte
zur Vegetation wie das Mittel zum Zweck verhält. Deswegen ist es offensichtlich,
daß die nacheinander existierenden Dinge so untereinander verknüpft
sind, daß die vorhergehenden nicht nur die Ursachen der folgenden sind,
sondern sich auch zu dem folgenden so verhalten wie das Mittel zum Zweck. Das
war das andere. [...]
§ 674. Wie das physische und
moralische Übel in den Zwecken der Dinge beschlossen ist.
Das physische und das moralische Übel ist in
den von Gott beabsichtigten Zwecken in dieser Reihe der Dinge so beschlossen,
daß ihrer und des letzten Zweckes Zuordnung nach jener Fortnahme nicht
mehr so möglich wäre wie jetzt. Denn wenn das physische
und moralische Übel aus dieser Gesamtreihe der Dinge fortgenommen würde,
dann könnte sie nicht die vollkommenste aller möglichen bleiben (§
556). Weil die Vollkommenheit der Welt auf der Möglichkeit der Zuordnung
(subordinatio) der besonderen Zwecke und des letzten beruht (§ 671) und
weil folglich die höchste Vollkommenheit, die dieser Welt eignet (§
326), dann endlich nicht mehr bestehen könnte, wenn die besonderen Zwecke
und der letzte einander nicht mehr so zugeordnet wären wie jetzt: deshalb
müssen die physischen und moralischen Übel in den von Gott für
diese Reihe der Dinge intendierten Zwecken so beschlossen sein, daß nach
ihrer Fortnahme auch ihre und des letzten Zweckes Zuordnung nicht mehr so möglich
wäre wie jetzt. [...]
§
675. Wie das Übel in dem Guten beschlossen ist.
Das physische und moralische Übel ist in dieser
Reihe so in dem Guten beschlossen, daß man, wenn man das Übel daraus
fortnimmt, zugleich das Gute mit fortnimmt. Denn in dieser Reihe
der Dinge sind die physischen und moralischen Übel so in den von Gott intendierten
Zwecken beschlossen, daß nach ihrer Fortnahme ihrer und des letzten Zweckes
Zuordnung nicht mehr so möglich wäre wie jetzt (§ 674). Nun beruht
die Vollkommenheit der Welt auf der Möglichkeit der Zuordnung der besonderen
Zwecke und des letzten (§ 671), und deshalb sind diese Zwecke oder das,
was in dieser Welt die Stelle von Zwecken einnimmt (§ 645, 648 ff.), für
die Vollkommenheit der Welt von Belang. Wenn gut genannt wird, was für
die Vollkommenheit der Welt von Belang ist (§ 370), dann sind also die
Zwecke selber gut. Und deshalb ist es klar, daß die physischen und moralischen
Übel in. dieser Reihe der Dinge so in dem Guten beschlossen sind, daß
man sie nicht entfernen kann, wenn man nicht zugleich mit ihnen auch das Gute
entfernen will. [...]
Aus: Gesammelte Werke. Abt. 2. Bd. 7.1 I: Theologiae
Naturalis pars 11. Edition critique avec introduction, notes et index par Jean
Ecole. Hildesheim: Olms, 1978. S. 615—618, 631—633 (Übers.
von Rainer Specht).
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung,
Herausgeber: Rüdiger Bubner
Band 5, Rationalismus, Herausgegeben von Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9915 (S.330-335)
© 1979 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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