William Wordsworth (1770 - 1850)

  Englischer Dichter, der nach seinem Studium in Cambridge (1787—91), anschließend in die Schweiz, nach Italien und Frankreich reiste. Seit 1795 war er eng mit Samuel Taylor Coleridge befreundet, mit dem er 1798/99 eine Deutschland-Reise unternahm; 1799 ließ er sich mit seiner Schwester Dorothy im »Lake District« nieder, wo er neben Coleridge und Robert Southey als Führer der romantischen Lake School galt. 1802 heiratete er seine Cousine Mary Hutchinson; 1843 wurde er »poet laureate«.1798 veröffentlichte er mit S. T. Coleridge die »Lyrical ballads«, mit denen in England die »romantic revolt« begann. Der göttliche Zusammenhang von Mensch und Natur wird in den Gedichten »Lines composed above Tintern Abbey« (1798), »Intimitations of immortality« (1802—06) sowie in den epischen Fragmenten »The prelude« (Präludium oder das Reifen eines Dichtergeistes) und »The excursion« (1814) erlebt. Nach Wordsworth zerstört der Mensch das Göttliche im Kind und zerbricht die Brücke zwischen sich und der Natur. Der Dichter kann sich jedoch durch die Einbildungskraft (imagination) in die kindliche Naturnähe zurücklassen und spürt dann das Wirken des Weltgeistes.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Das Reifen eines Dichtergeistes
Cambridge und die Alpen
Einbildungskraft und Geschmack

Das Reifen eines Dichtergeistes
Cambridge und die Alpen (Sechstes Buch)
Vom Fuß bis fast hinauf zum letzten Wipfel
Waren der Stamm und alle stärkern Äste
Begrünt mit dichten Büscheln Efeus, während
Die dünnen Äste und die Außenzweige
An jeder Spitze reichlich Samen trugen;
Der hing in gelben Quasten, die der Wind
Mit leisen Flüstertönen schüttelte.
Oft hab ich dort wie festgebannt verharrt
Und auf den wundersamen Baum geblickt,
Wie er im frostigen Mondlicht stand. Die Sphäre
Der Zauberdichtung wird mein Vers vielleicht
Niemals betreten, doch selbst Spenser hatte
Wohl kaum in seiner Jugend stillere
Und sanftere Gesichte oder konnte
Noch lichtere Erscheinungen erschaffen
Von Menschenform, doch Über-Menschen-Macht,
Als ich erschaute, wenn in klaren Nächten
Ich unter jenem feenhaften Werk
Der Erde einsam schauend mich verweilte.
Vom ungeplanten Lesen eines Jünglings,
Der sich der Zucht des Studiums entzog,
Hier näher zu berichten, wäre müßig.
Mein innres Werturteil war oft verschieden
Von meinem äußeren Geschmack an Büchern,
Als ob die Seele zweigeteilt mir wäre;
Und doch — die Bücher, die mir damals teuer
Vor allen anderen waren, sind noch heute
Die liebsten mir; denn da ich ja die Formen
Und die Gesetze der Natur nicht ohne
Umsichtige Sorgfalt stets studiert und ihr
Geheimes Wesen abgetastet hatte,
Besaß ich, durch dies Wissen, einen Maßstab,
Dessen Gebrauch mir oftmals nützlich war
(Selbst wenn er nicht bewußt ward) beim Bewerten
Von Dingen, die durch ihre Fremdheit sich
Spontaner Einfühlung verweigerst. Kurz —
Ich war in meinem Urteil unfehlbarer,
Wenn‘s um Gedanken ging, als wenn um Worte;
Denn meine Urteilsfähigkeit in Worten
War irrgeleitet, nicht nur durch den Mangel
An Reife und Erfahrung, der der Jugend
Natürlich ist, nein, auch durch meine Schulung
In klassischen Regeln und Figuren, jener
Gefährlichen Gewohnheit, Wort‘ und Sätze
Aus Sprachen sich zu sammeln, die nicht mehr
Mit lebensvoller Stimme zu uns sprechen,
Um in das der Natur noch nahe Herz
Bedeutungen zu tragen: um zu sagen,
Was Wahrheit ist, was echte Leidenschaft,
Was Sinn, was Einfachheit und klares Zeugnis.

Doch eins soll hier nicht übergangen werden:
Die Anfangsgründe der Geometrie
Und das Vergnügen, das sie gaben. Wenn auch
Mein Fortschritt — mit Bedauern sei‘s gesagt —
Kaum je die Schwelle dieser Wissenschaft
Hinter sich lassen sollte, so erfand
Ich hier doch Würde und gelaßne Lust:
Mit Ehrfurcht und mit Staunen (so wie Inder
Vor esoterischen Lehren Scheu empfinden),
Mit Unverstand, der sein Bemüh‘n genießt,
Erwog ich die Beziehung zwischen jenen
Abstraktionen und den Urgesetzen,
Die die Natur regieren; fragte mich,
Wie wohl der Vorgang zu erklären sei,
Durch welchen jene stofflosen Prinzipien
Sich willig unserem Verständnis beugen,
Irdischen Menschen gern und pünktlich dienend
Mit gleicher Gültigkeit von Stern zu Stern,
Planetkreis zu verwandtem Umlaufrad,
Systemen zu Systemen, ohne Ende.
Noch öfter sog ich aus der gleichen Quelle
Ein stilles, tiefes Glück; sog das Gefühl
Von einer Macht, die ewig, allumfassend
Und Gegenstand des höchsten Glaubens ist.
Ich sah, daß hier, für endliche Naturen,
Sich ein Symbol erkennen ließ des Einen
Und Allerhöchsten Seins; des Lebens, das
Die andern Leben alle übersteigt;
Das über den Bereich von Raum und Zeit
- Von düsterm Raum und kummervoller Zeit -
Hinausgehoben, unveränderlich
Und unberührt von wirrer Leidenschaft
Gott ist und Gottes Namen trägt. Ein klarer,
Unirdischer Friede und ein heiliges Stillsein
Begleiteten die hohe Einsicht, welche
Gar oft ein Trost mir in der Jugend war.

Man sagt, daß einer, den das Meer im Sturm
Mit andern, die den Schiffbruch überlebten,
An eine öde Küste warf, daß der
Ein Büchlein ganz zufällig bei sich trug,
Ein Lehrbuch der Geometrie. Wiewohl
An Nahrung man und Kleidern Mangel hatte,
Wiewohl die größte Not das Herz bedrückte,
Sei er — so sagt man — oft mit diesem Buch
(Das ihm als selbstbelehrtem Schüler erstmals
Hier seine Wahrheit offenbarte) fort
Aus der Gesellschaft seiner Leidgefährten
Zu stillen Strandregionen hingegangen,
Um seine Diagramme mittels eines
Mannshohen Stockes in den Sand zu zeichnen.
Er konnte so der Sorge sich entziehn
Und beinah jegliches Gefühl vergessen.
Genauso — wenn man gleiche Wirkungen,
Die aus derselben Ursache hervorgehn,
Trotz so verschiednem äußeren Sachverhalt
Zu Recht vergleichen darf —, genauso ging‘s
Damals mit mir und wird so immer gehn
Mit den Poeten. Mächtig ist der Zauber,
Den jene Abstraktionen für den Geist
Enthalten, der bedrängt von Bildern und
Vom eignen Selbst verfolgt ist, und besonders
Begeisternd war für mich die Möglichkeit
Der geistigen Synthese, die so reizend
Sich in die klaren Lüfte baut. Selbst dann,
Wenn sie nicht mehr scheint als ein Sport,
Ein Spiel, bei dem sich reine Geistgesetze
In sinnlich faßbaren Verhältnissen
Verkörpern; und nicht, was sie wirklich ist:
Ein freies, eignes Sein, ja eine Welt,
Aus reinem Wirken der Vernunft gezeugt.
S.138-141

Einbildungskraft und Geschmack (Dreizehntes Buch)
Wenn ich mir das, was ich zu jener Zeit
Der jugendlichen Wanderungen sah
Und was ich jetzt noch täglich vor mir habe
In der gewohnten Runde meiner Heimat,
In das Bewußtsein rufe, drängt es mich,
Hier einzuhalten und vor der Natur
In Ehrfurcht mich zu neigen, vor der großen
Natur und vor der Kraft, die in dem Geist
Des Menschen liegt — der Menschen, die im Innern
Wahrhaftig Menschen sind. Wie oft wird dort
Tief innen hoher Gottesdienst gehalten,
Wo rauh und hart die äußre Schale ist —
Nicht wie ein Tempel reich mit Pomp und Gold,
Sondern wie eine Bergkapelle, die
Die schlichten Beter schützt vor Sonn‘ und Regen.
»Von denen«, sagt‘ ich damals, »will ich singen;
Und wenn mich künft‘ge Jahre für ein solches
Beginnen reifen lassen, will ich froh
Der Rühmung solcher Menschen mich befleiß‘gen
Und meine Verse ohne Scheu von diesen
Gewichtigen und wesentlichen Dingen
Erzählen lassen; will in heiliger
Begeistrung und im Dienst der lautern Wahrheit
Von diesen Menschen reden, damit dort
Gerechtigkeit getan und Ehrerbietung
Gezollt werde, wo sie am Platze sind.
So mag es sein, daß ich belehren kann
Und auch begeistern; daß in unverdorbne
Ohren ich Zartheit, Enthusiasmus, Hoffnung
Einströmen lassen kann. Mein Thema ist
Dabei nichts andres als das Herz des Menschen,
So wie man‘s in den Besten derer findet,
Die in der steten Gegenwart der großen
Natur ihr Dasein haben — ’s ist ein Herz,
Das echten religiösen Glaubens nicht
Ermangelt und das auch aus Büchern
— Nicht vielen, aber guten Büchern sich
Das, was ihm nützt, herausgezogen hat.
Aus diesem meinem allgemeinen Thema
Werd ich dann weiter meine Auswahl treffen:
Von Kummer werd ich singen, der kein Kummer,
Sondern in Wahrheit Glücksteilhabe ist;
Von unglücklicher Liebe, die den Leser,
Der davon hört, nicht schmerzhaft niederdrückt,
Weil ihn daraus die Majestät und Würde
Der Menschheit anweht: dessen, was wir sind.
Mög‘ es mein Teil sein, ohne Zagen dorthin
Zu folgen, wohin die Erkenntnis mir
Den Weg weist: ja, es soll mein Stolz sein, daß
Ich es gewagt, solch heil‘gen Boden zu betreten;
Daß ich von Dingen sprach, welche kein Traum,
Und doch Orakel sind; von einem Inhalt,
Den die, die zu dem Text der äußeren
Verheißung auch die unsichtbare Seele
Dessen, was sie verheißt, hinzuzulesen
Verstehen, sicherlich nicht obenhin
Und gleichgültig zur Kenntnis nehmen werden;
Ich meine Menschen, deren Rede aufrecht
Und deren Umgang mit der Welt durch Tatkraft
Und durch Erfahrung ausgezeichnet ist;
Und Geister, deren Fähigkeiten dann
Am meisten wachsen, wenn das Feuer und
Der Schwung gehobner Redekunst sie tragen,
Und deren ideales Streben um so
Heißer sich müht, je mehr man es bewundert.
Daneben gibt es Leute andrer Art,
Solche, die ganz sich selber Stütze sind
Und aus sich selber Ansporn, Energie
Und Willen schöpfen; diese können — so
Wie es ihr eingebornes Temp’rament
Bestimmt — lebendigste Gedanken in
Lebendigsten Sprachausdruck kleiden. Andre,
Die man allüberall beim Wandern durch
Den Alltag finden kann, verkörpern eine
Noch höh‘re Art des Menschseins: diese sind
Zur Kontemplation geschaffen, schüchtern
Und ungeübt im Drechseln schöner Rede —
Bescheidne Leute, deren Mut wahrscheinlich
Beklommen sinken würde, wollte man
In solche philosophische Gespräche
Sie einbeziehen; ihrer ist die Sprache
Des Himmels, ihrer auch des Himmels Kraft;
Sie denken, sehen wie der Himmel und
Sie haben teil an seiner stillen Freude:
In ihrer Seele sind die Worte nur
Ein Werkzeug von bescheidener Bedeutung.
Wenn diese Menschen mit besonderer
I ntensität um einen Inhalt ringen,
Dann geht kein Wort, kein Hauch aus ihrem Mund.
Dies spreche ich in hoher Dankbarkeit
Gott gegenüber, welcher unsren Herzen
Die Nahrung gibt, die wir zu seinem eignen
Dienste benöt‘gen; der uns kennt und liebt,
Selbst wenn die ganze Welt uns nicht beachtet.«

Auch stellte sich um jene Zeit bei mir
Stärker als je die Überzeugung ein,
Nicht nur, daß unsre innere Verfassung,
Die Anlage des Menschen, gut ist und
Zu einem guten Zweck geschaffen; sondern
Auch, daß im gleichen Maße die Natur
Die Macht hat — wenn wir nur mit unsren Augen
Zu sehen lernen —, jedem ihrer Wesen,
Wo es auch immer seinen Platz hat in
Dem Stufenbau der Schöpfung, seine äußre
Gestalt mit einer Schönheit auszustatten,
Die etwas Heil‘ges hat, und selbst noch das
Bescheidenste Gesicht, das unter Menschen
Zu finden ist, mit Hoheit zu durchstrahlen.
Ich fühlte, daß das Sinnesbild von Tat
Und Umstand und sichtbarer äußrer Form
Im wesentlichen für den Geist, der sich
Daran erfreut, das ist, was das Gefühl
Draus macht; daß aber ebenso die Formen,
Die die Natur hervorbringt, in sich selbst
Ein Fühlen haben, das sich dann den Werken
Des Menschen beimengt, welche die Natur
Ihn zu erschaffen heißt — selbst wenn die Werke
In sich belanglos sind und nichts Erhabnes
Enthalten. Und ich fühlte weiter, daß
Der Genius des Dichters deshalb kühn
Und unbeirrbar seinen Weg durch alle
Bereiche menschlicher Erfahrung, alle
Ränge der Menschheit gehen darf: dahin,
Wo die Natur ihn hinführt; daß er bei
Den Menschen frührer Zeiten auf der Seite
Der mächtigen Natur gestanden hat
Und ewig weiterhin dort stehen wird.
Teuerster Freund! Wenn du den Glauben,
Der mich begeistert, mit mir teilen kannst —
Den Glauben, daß die Dichter, ebenso
Wie die Propheten, jeder mit den andern
Verbunden sind in einem mächt’gen Plan,
Der der Verwirklichung der Wahrheit dient;
Daß jeder — als ein heiliges Geschenk
Des Himmels — seine eigenständige
Befähigung besitzt, einen speziellen,
Ihm eignen Sinn, der ihn dazu befähigt,
Dinge zu sehn, die vor ihm niemand sah —,
Dann wirst du den Bescheidensten in dieser
Gemeinschaft nicht des Hochmuts zeihn, wenn er
Die Hoffnung hegt, daß er (so wie die andern)
Mit Einsichten begnadet worden ist,
Die er gewissermaßen als ein Vorrecht
Besitzt und mittels derer seine Dichtung,
Das Werk aus seiner Hand (das doch aus einer
Quelle bisher noch nie gesagter Dinge,
Die schöpferisch und unerschöpflich ist,
Sein Dasein hat), zu einer Kraft zu werden
Vermag, welche den Kräften der Natur
In keiner Weise nachsteht.

Aus: William Wordsworth: Präludium oder das Reifen des Dichtergeistes, Ein autobiographisches Gedicht
Ins Deutsche übertragen, kommentiert und mit einer Einleitung herausgegeben von Hermann Fischer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9765-70 (S.138-141, 335-339)
© 1974 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages