Heinz Friedrich Bernhard Zahrnt (1915 - 2003)

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Inhaltsverzeichnis

Jesus aus Nazareth - Anfänger und Vollender des Glaubens

Die Überlieferung von Jesus – die Entstehung der Evangelien



Jesus aus Nazareth - Anfänger und Vollender des Glaubens
Ich bin gekommen, ein Feuer auf Erden anzuzünden
Die israelitisch—jüdische Religionsgeschichte hat einen doppelten Ausgang genommen. Auf der einen Seite mündet sie in das Judentum der hebräischen Bibel und des Talmuds, auf der anderen in das Christentum des Alten und Neuen Testaments. Am Schnittpunkt von beidem steht Jesus aus Nazareth mit seiner Gottesbotschaft.

Kein anderes Menschenleben ist in den letzten zweihundertfünfzig Jahren historisch so gründlich durchforscht worden wie das seine. Aber ein »Leben Jesu« läßt sich nicht schreiben. Die neutestamentlichen Evangelien geben weder ihrer Absicht noch ihrem Umfang nach den Stoff zu einer »Biographie« her. Sie haben kein historisches oder psychologisches Interesse, sondern wollen Jesu Worte und Taten als Gottes Offenbarung und Heil dartun .Eine vom Glauben freie Überlieferungsstrecke hat es niemals gegeben.

Stellt man die einigermaßen verläßlichen Daten des Lebens Jesu zusammen, so füllen sie kaum eine DIN-A4-Seite. Dennoch muß die Theologie immer neu den Weg von dem in der Bibel verkündigten Christus zu dem historischen Jesus, das heißt zu Jesus selbst zurückgehen, wenn der christliche Glaube nicht seinen Anhalt an der Geschichte verlieren und in einem mythisch-gnostischen Nebel verschwimmen soll. Dabei darf sie aber nicht historische Forschungsergebnisse, mögen sie auch noch so gesichert erscheinen, unmittelbar zur Grundlage gegenwärtigen Glaubens erheben. Zufällige Geschichtswahrheiten können nach wie vor nicht der Grund ewiger Glaubenswahrheiten sein! Ein Bibeltext kann historisch unecht und dennoch religiös wahr sein, wie umgekehrt ein Text historisch echt sein kann und dennoch keine religiöse Wahrheit mehr für uns enthalten.

Zu einem Gesamtbild Jesu gelangt man, nicht anders als sonst in der historischen Arbeit, durch einen Zirkelschluß:

Mittels einer kritischen Einzelanalyse der Texte sucht man Stück um Stück ein verläßliches Gesamtbild zu gewinnen und an dem so gewonnenen Gesamtbild wiederum die Einzelanalyse kritisch zu überprüfen, so daß sich Einzelanalyse und Gesamtkonzeption gegenseitig stützen und durchdringen. Wer zum Licht der Wahrheit gelangen will, muß zuvor das Zwielicht der Wahrscheinlichkeit durchschreiten.

Die historisch sicherste Basis der neutestamentlichen Jesusüberlieferung bilden die kleinen literarischen Einheiten, wie sie die formgeschichtliche Forschung herausgearbeitet hat: Aphorismen, Gleichnisse, Streitgespräche, Wundergeschichten, vor allem Worte, die noch ein unwiederholbares Situationsbewußtsein widerspiegeln. Der chronologisch-biographische Rahmen, in den die Einzelüberlieferungen eingefügt sind, stellt die eigene Komposition der Evangelisten dar. Im ganzen wird man mit einem sicheren Boden dort rechnen können, wo eine Tradition weder aus der jüdischen Umwelt noch aus dem Gedankengut der Urchristenheit abgeleitet werden kann. Aber selbstverständlich kann auch aus dem Mund Jesu »Jüdisches« kommen und umgekehrt eine christliche Gemeindebildung »jesuanisch« sein.

Auch im Fall Jesu gilt, daß das wahrhaft Geschichtliche an einer bedeutenden Gestalt die persönliche Wirkung ist, die der Nachwelt spürbar von ihr bleibt. Und da hat der »biblische Christus« in der Geschichte des Christentums, ja der Menschheit fraglos unvergleichlich stärker gewirkt als der sogenannte »historische Jesus«. Wer vorurteilsfrei an die Evangelien herantritt, gewinnt aus ihnen — trotz aller Unterschiede im einzelnen — den Eindruck einer einheitlichen Erscheinung, wobei die eigene Phantasie des Betrachters gewiß stets kräftig mitmalt.

Insgesamt gibt es für den kritischen Umgang mit der neutestamentlichen Jesusüberlieferung nach wie vor keinen besseren Rat als die berühmten Sätze, die Gotthold Ephraim Lessing bereits vor zweihundertfünfzig Jahren, beim Beginn des neuzeitlichen Streits um Jesus, geschrieben hat: »Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten; sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer inneren Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erklärt werden; und alle schriftlichen Überlieferun¬gen können ihr keine geben, wenn sie keine hat.«

Beim Rückbezug auf Jesus selbst geht es dem christlichen Glauben nicht um einzelne Richtigkeiten, sondern um die Richtung im ganzen: daß der Kernpunkt der Botschaft Jesu von Gott zugleich die Pointe seiner eigenen Existenz bildet. Die gemeinsame Mitte der neutestamentlichen Überlieferung, in der Person und Botschaft Jesu übereinstimmen, ist der von ihm gelebte und verkündigte Glaube an Gott.

Jesus hat nicht sich selbst gepredigt. Er ist nicht durch Palästina gewandert und hat, mit dem Finger auf sich zeigend, gerufen: Ich bin, sondern hat von sich weg auf Gott verwiesen: Gott ist! Es geht ihm nicht um die eigene Selbstverwirklichung, sondern um das Wirklich- und Wirksamwerden Gottes. Jesus ist »radikaler Theozentriker«. Gott zur Sprache zu bringen, dazu weiß er sich ermächtigt und gesandt.

Wie unverbunden auch die einzelnen Stücke der neutestamentlichen Jesusüberlieferung nebeneinander stehen, alle haben ihren gemeinsamen Grund und Sinn in dem, was Jesus, oft sogar ohne jeden Zusatz, »Glauben« nennt. Nirgendwo sonst in der Religionsgeschichte wird der gesamte Inhalt einer Religion so total auf den »Glauben« konzentriert und dieser wiederum so radikal als Vertrauen identifiziert wie im Christentum. Von den vielen Titeln, die Jesus im Neuen Testament beigelegt werden, scheint mir ihn der Name »Anfänger und Vollender des Glaubens« daher am zutreffendsten zu charakterisieren. An seinem Leben und Wirken wird offenbar, was Glaube an Gott heißt.

»Aus Glauben zum Glauben« lassen sich daher Jesu Person und Botschaft zur Einheit verbinden.

Die Grundverfassung der Existenz Jesu bildet seine Gottesbeziehung.
Sie ist die Quelle, aus der er lebt, lehrt und leidet. Er ist kein Mächtiger, sondern ein Angewiesener — ohne die Möglichkeit eitler steten Ausflucht in die ange¬stammte göttliche Natur. Er ist in die Zweideutigkeiten des Lebens verstrickt, darum im Urteil unsicher, vor Irrtum nicht geschützt, in seiner Macht begrenzt, vor Anfechtungen nicht gefeit, den Wechselfällen des Daseins ausgeliefert — alles in allem nicht ein schicksalsloser, unverwundbarer Himmelsbote, der nur von oben her über Gott redete, sondern ein lebensvoller, verletzlicher Mensch, der Gott am eigenen Leib erlebt und erleidet.

In demselben Hebräerbrief, der ihn den »Anfänger und Vollender des Glaubens« nennt, heißt es von ihm: »Er hat, obwohl er Gottes Sohn war, an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.« Damit ist gesagt, daß Jesus in seiner Gottesbeziehung einen Lernprozeß durchgemacht hat. Er hat gelernt, Gott über alle Dinge zu Fürchten, zu lieben und ihm zu vertrauen, und so in seinem Selbstbewußtsein dem Bewußtsein Gottes immer mehr Raum gegeben. Der spätere Sohnesname war nicht ererbt, sondern »erlebt«.

Weil er nichts von sich selbst hat, besitzt Jesus auch kein von Anfang an fertiges Sendungsbewußtsein, sondern hört immer neu auf die Stimme Gottes. Darum spielt das Gebet für ihn eine so große Rolle. Immer wieder flieht er des Nachts oder früh vor Tagesanbruch in die Einsamkeit: Die Zwiesprache mit Gott ist der Ort der Offenbarung Gottes in Jesu Leben.

Ursprung und Kern seiner Verkündigung bildet seine eigene Gotteserfahrung. Er offenbart Gott einfach dadurch, daß er sein persönliches Verhältnis zu ihm öffentlich auslebt. Indem er selbst den Glauben lebt, erweckt er ihn in anderen.

Genau genommen, vermittelt Jesus keine Lehre oder Idee, sondern sich selbst. Indem er Menschen unmittelbar — ohne Zwischeninstanz, ohne Titel, Amt und großen Namen — allein durch sein Wort zum Glauben ruft, versetzt er sie in die Gegenwart Gottes, wie er sie selbst erfahren hat. Die Wahrheit ist für ihn stets persönlich und konkret. Sie steht nicht fest, sondern ereignet sich jeweils neu in der Begegnung. Und wo immer ein Mensch sich von ihm zum Glauben ermutigen läßt, dort ist seine Verkündigung ans Ziel gelangt. Denn der Glaube an Gott ist ihr einziger Inhalt. [...]

Das führt zu dem anderen religiösen Symbol, das die Zusage der unmittelbaren Nähe Gottes ausdrückt: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium«. Mit dieser Zeitansage tritt Jesus in die Öffentlichkeit. Sie hat sich nicht erfüllt. Das Reich Gottes ist nicht so gekommen, wie Jesus und seine Jünger es erhofft hatten. Sie waren in der apokalyptischen Weltsicht ihrer Zeit befangen. Aber mit dem Wegfall des weltanschaulichen Gewandes ist der Inhalt der Botschaft nicht hinfällig geworden. Die andrängende Nähe des Reiches Gottes gilt weiterhin. Wer auf Jesu Ruf hört, hat keine Zeit mehr. Jeder geschichtliche Augenblick kann zur »erfüllten Zeit« werden, zum »Kairos«, in dem das Ewige in die Zeit einbricht und es wiederum heißt: »Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«

Jesus radikalisiert die biblische Gottesverkündigung,
und zwar beide Seiten, sowohl die Forderung des Gesetzes als auch den Zuspruch der Gnade, das Tun-Sollen wie das Sein-Dürfen des Menschen. Dieses Paradox von radikaler Forderung und radikaler Gnade ist das wesentlich Neue, das die zeitgenössische jüdische Frömmigkeit qualitativ übersteigt. S.213-219
Aus: Heinz Zahrnt, Das Leben Gottes. Aus einer unendlichen Geschichte, Serie Piper SP 2953, © 1997 Piper Verlag GmbH, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Dorothee Zahrnt

Die Überlieferung von Jesus – die Entstehung der Evangelien
Die Überlieferung von Jesus begann schon zu seinen Lebzeiten, sobald Augenzeugen von ihren Begegnungen mit ihm berichteten: Der eine war von seiner Krankheit geheilt worden, der andere hatte die Vergebung seiner Schuld erfahren, ein dritter war betroffen von der Macht des Liebesgebotes, und wieder ein anderer fühlte sich von Gott und den Men¬schen neu angenommen. So hatte jeder seine persönlichen Erinnerungen an Jesus und erzählte von ihnen.
Nach der Auferstehung Jesu begann jedoch ein neues Stadium. Jetzt trat die Überlieferung aus der Sphäre des Privaten heraus und wurde zu einer Angelegenheit der Gemeinde, da¬mit öffentlich und schließlich offiziell. Die Mission war der Anlaß, die Predigt das Mittel der Verbreitung, wobei zur »Predigt« alle Lebensäußerungen der Gemeinde gehörten: Gottesdienst und Liebestätigkeit, Apologetik und Polemik, Gemeindedisziplin und schriftgelehrte Arbeit.

Alle diese Interessen haben die Überlieferung von Jesus geformt, und so war diese von Anfang an durch den Glauben der Gemeinde geprägt. Auch die kleinste Überlieferungseinheit, selbst die kürzeste Szene und der knappste Spruch, war von dem Glauben bestimmt, daß Jesus der Christus Gottes sei; sie wurde weitergegeben, gesammelt und schließlich aufgezeichnet, um diesen Glauben zu bezeugen und als wahr zu erweisen — wie es am ursprünglichen Schluß des Johannes-Evangeliums heißt: »Diese Zeichen sind geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.«

Dabei warf die Auferstehung Jesu ihr Licht auf alle Erinnerungen an ihn zurück. Was er zu seinen Lebzeiten gesagt und getan hat, wurde in ihrem Horizont erzählt. So sehr war das Verständnis seiner Geschichte davon bestimmt, daß sich die Grenzen zwischen seinem vorösterlichen und seinem nachösterlichen Wirken zu verwischen begannen. Wenn die christlichen Gemeinden von Jesu Worten und Werken erzählten, so taten sie es im Grunde nicht, um von einer historischen Gestalt der Vergangenheit zu berichten, sondern um ihren gegenwärtigen Herrn zu verkündigen.

Dies verleiht den neutestamentlichen Evangelien ihren einmaligen, von allen anderen Arten und Gattungen antiker Geschichtsschreibung und Literatur unterschiedenen Charakter. Sie sind keine historischen Berichte und Biographien, sondern Glaubensurkunden, Zeugnisse von geschehener Verkündigung, auf daß neue Verkündigung geschehe und also neu Glaube entstehe. Immer begegnet die Überlieferung von Jesus nur im »Kerygma«, daß heißt im Glauben und in der Verkündigung der Gemeinde.

Es konnte gar nicht ausbleiben, daß Jesus »persönlich« in sein Evangelium hineingeriet. Denn wer glaubt, daß wahr sei und stimme, was Jesus von Gott gesagt hat, wer mithin an Gott durch Jesus glaubt, der glaubt an Gottes Gegenwart in Jesus. Und so wurden die Worte und Taten eines jüdischen Wander¬lehrers zu Gottes Wort und Tat in der Geschichte. Der in Gottes Namen geredet hatte, wurde jetzt selbst zum Namen Gottes. Und so schlug die Botschaft Jesu von Gott um in die Botschaft von Gott in Christus.

Wo immer dieser Umschlag geschah, dort entwarfen die Gläubigen jeweils in den Worten, Farben und Formen ihrer Umwelt ein Bild von dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Da sie in Jesu Person und Botschaft die Gegenwart Gottes erfahren zu haben glaubten, war es ein Bild ihrer eigenen Glaubenserfahrung — aber nun nicht einfach nur ein Bild ihrer eigenen seelischen Kraft, vielmehr der Eindruck, den Jesus in ihrer Seele hinterlassen hat, und somit der göttlichen Kraft, die ihn selbst beseelt hat.

Bei der Sammlung und Sichtung der im Umlauf befindlichen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen von Jesus wurden die verschiedenartigen Aspekte seiner Erscheinung immer zugleich theologisch reflektiert. Auf diese Weise entstanden etliche nebeneinander herlaufende und voneinander abweichende Überlieferungsstränge mit jeweils verschiedener theologischer Tendenz. Jede dieser »Glaubensrichtungen« beging das Gedächtnis Jesu auf ihre Weise:

Jesus

als Wundermann, der sich durch sichtbare Krafttaten ausweist -

als Weisheitslehrer, der durch die Vollmacht seiner Rede überzeugt —

als Leidender und Sterbender, der sich für die Vielen dahingibt —

als Erhöhter, der den Seinen vom Himmel herab erscheint —

als Abwesender, der sehnsüchtig zu Gericht und Erlösung erwartet wird—

als Anwesender, der schon jetzt das Heil der Endzeit in seiner ganzen Fülle spendet. »Konfessionen« gab es schon in der frühesten Christenheit!

Dieser Vielfalt entsprachen die verschiedenen religiösen Hoheits- und Würdetitel, die die Gemeinden aus ihrer jüdischen, griechischen oder orientalischen Umwelt übernahmen und sie auf Jesus übertrugen, um ihren Glauben an ihn auszudrücken. Gar nicht genug Titel und Namen konnten sie häufen, um die einzigartige Bedeutung Jesu zu beschreiben. Und so nannten sie ihn Messias (Christus), Menschensohn, Davidssohn, Prophet, Sohn Gottes, Gottesknecht, Hoherpriester, Hirte, Heiland, Retter, Mittler, Erlöser, Herr (Kyrios), Logos (Wort), Gott.

Dabei handelte es sich freilich niemals nur um eine einfache Übertragung vorhandener Titel und fertiger Würdenamen, sondern stets zugleich um eine Umprägung. Wo immer jene Titel zu Namen für Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, wurden, dort wurden sie in seine Verkündigung einge¬schmolzen, dort nahmen sie das Geheimnis seiner Person und Geschichte in sich auf und bekamen einen neuen Sinn. So stark setzte sich das Eigene, Einzigartige der Gestalt und Botschaft Jesu trotz aller Erhöhungen durch.

Insgesamt verrät die Überlieferung von Jesus eine zunehmende Steigerung seiner Person ins Hoheitsvolle, ja Wunderbare. Schaltet man die verschiedenen Stationen seiner Erhöhung hintereinander, so ergibt sich folgende Ereigniskette:

Der präexistente Gottessohn, der von Ewigkeit her beim Vater weilt, steigt aus der Himmelswelt herab und wird durch die Geburt von einer Jungfrau Mensch. Während seines Erdenwandels wird ihm seine göttliche Sohnschaft gleich zweimal — bei der Taufe am Jordan und bei der Verklärung auf einem Berg — durch eine Himmelsstimme bestätigt. In Erfüllung des göttlichen Heilsplans stirbt er für die Sünden der Menschheit am Kreuz und kehrt, nachdem er sein Erlösungswerk auf der Erde vollbracht hat, durch Höllenfahrt und Auferstehung hindurch in die Himmelswelt zurück. Dort herrscht er zur Rechten Gottes, bis er, diesmal für alle sichtbar auf den Wolken des Himmels, wiederkommen wird, um Gericht zu halten und am Ende einen neuen Himmel und eine neue Erde heraufzuführen.

Innerhalb dieses heilsgeschichtlichen Rahmens wurden auch die Taten, die Jesus auf Erden vollbracht hat, immer wunderbarer. Nun wurden von ihm auch Naturwunder, wie die Stillung eines Sturms auf dem See Genezareth, und sogar Totenerweckungen berichtet.

Bei den Totenerweckungen vollzog sich wiederum eine Steigerung: Zuerst ist es nur ein soeben eingeschlafenes, fast nur scheintot wirkendes Mädchen, die Tochter des Synago¬genvorstehers Jairus, das Jesus auferweckt — der Jüngling zu Nain befindet sich schon auf dem Weg zum Friedhof, als Jesus dem Leichenzug begegnet — Lazarus schließlich ist schon drei Tage tot und sein Leichnam daher bereits in Verwesung begriffen

Alle diese Wunder sollten zum Beweis der Göttlichkeit Jesu dienen. Tatsächlich aber drohten sie ihn zu einem morgenländischen Magier zu machen und damit zu einem Doppelgänger der vielen Wundertäter, die damals durch die Länder des Mittelmeers zogen und ihre Künste anpriesen.

Deutet man die verschiedenen Weiterbildungen der Überlieferung von Jesus und ihre Einkleidung in mythisches Gewand symbolisch, so verraten sie einen tiefen Sinn und erweisen sich als sachlich richtige Auslegungen des einmaligen geschichtlichen Ursprungs. Die Jungfrauengeburt wird dann zu einem Symbol dafür, daß sich hier nicht ein Mensch nach Art griechischer Heroen zu Gott emporgearbeitet, sondern umgekehrt Gott selbst in einem leibhaften Menschen gehandelt hat.

Die Stillung des Seesturms zeigt an, daß der Glaube eine Macht ist, die auch durch die Stürme und Untergänge des Lebens hindurchträgt. Und die Totenerweckungen schließlich bezeugen Jesus Christus als Herrn selbst über den Tod.

Den Interpretationshorizont für die Deutung der Geschichte Jesu lieferte das Alte Testament — es war die Bibel der ersten christlichen Gemeinden. Mit Hilfe des Schemas von »Weissagung und Erfüllung« suchte man darzutun, wie sich die Prophezeiungen des Alten Testaments in Jesu Geschick erfüllt haben: »Mußte nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.«

Man fand Jesu Weg im Alten Testament sozusagen »vorge¬schrieben« — entsprechend lautete die übliche Zitationsformel »wie geschrieben steht«. Der Nachweis der Erfüllung alttestamentlicher Texte ging häufig, vor allem in der Passionsgeschichte, bis ins Einzelne und Kleinste. Aber mögen diese punktuellen Schriftbeweise oft auch nachträgliche schriftgelehrte Fündlein sein, so haben sie ihr Recht und ihren Ernst doch darin, daß Jesus selbst im Alten Testament gelebt und aus ihm seine Sendung verstanden hat.

So haben die ersten christlichen Gemeinden aus frommer Verehrung und Liebe, gewiß bisweilen auch aus Aberglauben einen goldenen Schleier gewoben und ihn über die harten Konturen der Gottesgeschichte gebreitet. Aus dem irdenen Gefäß wurde eine goldene Monstranz. Der »Sohn Gottes« wurde teilweise so sehr ins Wunderbare, ja Wunderhafte gesteigert, daß seine Füße kaum noch den Erdboden zu berühren schienen.

Dennoch wird man, aufs ganze gesehen, nicht behaupten können, daß die Gemeinde die geschichtliche Gestalt Jesu aufgelöst und in einem mythisch-gnostischen Nebel habe verschwimmen lassen. Wohl hat sie das Bild des irdischen Jesus ausgeschmückt, sie hat es jedoch nicht verfälscht. Zwar wurde bisweilen vergessen, daß Jesus in Niedrigkeit am Kreuz gestorben war, aber noch der Auferstandene trug die Nägelmale des Gekreuzigten.

Daß das Christentum trotz allem eine geschichtliche Religion geblieben ist, beweist die einfache Tatsache, daß das Zeugnis von Jesus Christus in der Form von Evangelien überliefert wurde. Auch wenn diese die Geschichte Jesu bereits im Licht seiner Auferstehung erzählen, so verkündigen sie die Christusbotschaft doch immerhin im Rahmen des irdischen Lebens Jesu. Selbst der Vierte Evangelist, den die Überlieferung »Johannes« nennt, schreibt die Geschichte des erhöhten Herrn noch als Geschichte des irdischen Herrn.

Dies ist um so erstaunlicher, als in den Briefen des Neuen Testaments, die zeitlich meistens vor der Abfassung der Evangelien liegen, die Geschichte Jesu auf ein Minimum zusammengeschrumpft und fast nur noch auf die Heilsbedeutung seines Sterbens und Auferstehens konzentriert ist. Die Evangelien hingegen zeigen sich trotz aller Deutung von Ostern her erheblich an der vorösterlichen Geschichte Jesu interessiert. Sie schreiben ihr Kerygma [Verkündigung des Evangeliums] dem irdischen Jesus zu und messen ihm damit eine besondere Autorität und bleibende Bedeutung bei. Das Kerygma ist für sie nicht anonym, sondern trägt einen Namen; sein Name ist Jesus von Nazareth — kein Mythos und keine Idee, auch kein Kulthaupt und kein Himmelswesen, sondern ein wahrhafter Mensch. Es beginnt mit Jesus von Nazareth. S.259ff.
Aus: Heinz Zahrnt, Jesus aus Nazareth. Ein Leben. Serie Piper SP 1141, © 1987 Piper Verlag GmbH, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Dorothee Zahrnt