Ulrich (Huldrych) Zwingli (1484 – 1531 gefallen)

Von Christus dem Herrn
Von diesem Sohn Gottes aus Gott glauben und lehren wir: Er hat die menschliche Natur dergestalt angenommen, daß die göttliche weder verlorenging noch in die menschliche verwandelt wurde. Vielmehr sind beide wahrhaft, eigentlich und wesensgemäß in ihm, so daß in bezug auf die göttliche Natur nichts vermindert ist, wodurch er weniger wahrhaft, eigentlich und wesensgemäß Gott wäre, die menschliche Natur aber nicht so in die göttliche übergegangen ist, daß er nicht mehr wahrhaft, eigentlich und wesensgemäß Mensch wäre, mit Ausnahme allerdings des Hangs zur Sünde. In bezug auf sein Gott-Sein ist er mit dem Vater und dem Heiligen Geist so Gott, daß ihm wegen der angenommenen menschlichen Hinfälligkeit nichts von den Fähigkeiten der Gottheit verlorengegangen ist, in bezug auf sein Mensch-Sein ist er so Mensch, daß er alles, was wahrhaft und eigentlich zur menschlichen Natur gehört, derart besitzt, daß ihm wegen der Verbindung mit der göttlichen Natur nichts davon genommen worden ist, außer der Anlage zur Sünde.

Daher erscheinen die Eigentümlichkeiten und Zugehörigkeiten jeder der beiden Naturen in allen [seinen] Worten und raten, so daß ein ehrerbietiger Sinn mühelos sieht, was jeder der beiden Naturen als zugehörig zu betrachten sei, wenn auch alle zu Recht dem einen Christus zugeschrieben werden. Christus hungert, sagt man zu Recht, da er Gott und auch Mensch ist, obschon er nach der göttlichen Natur nicht hungert. Christus heilt Krankheiten und Gebrechen, sagt man zu Recht, obschon dies von der göttlichen Kraft und nicht von der menschlichen gilt, wenn du es nach dessen eigentlichem Sinn erwägst. Dennoch folgt aus der Unterscheidung der Naturen keine Trennung der Person, ebensowenig wie wenn wir vom Menschen sagen, daß er denkt und schläft. Wenn auch hier die Fähigkeit des Denkens allein dem Geist zugehört und die Notwendigkeit des Schlafs dem Körper, ist dennoch der Mensch deswegen nicht zwei Personen, sondern eine. Auch bei verschiedenen Naturen entsteht eine Einheit der Person. Wir bekennen so, daß Gott und Mensch ein Christus ist, so wie aus der vernunftbegabten Seele und dem kraftlosen Körper ein Mensch wie aus einem Guß entsteht, wie es der heilige Athanasius auseinandergesetzt hat. Christus hat die menschliche Natur in die Einheit der Seinsweise bzw. Person des Sohnes Gottes aufgenommen; nicht so, daß gleichsam der angenommene Mensch eine besondere Person und die ewige Gottheit eine besondere Person wären, sondern so, daß die Person des ewigen Sohnes Gottes den Menschen in und zu seiner Einheit aufgenommen hat, was die heiligen Männer Gottes wahrhaft und klar dargelegt haben.
Dann glauben wir: Diese Natur ist in der Zeugung durch den Heiligen Geist von der Jungfrau empfangen und unter immerwährender Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit ans Licht der Welt gebracht worden, damit der Befreier und Betreuer der Seelen für die Welt aus der Jungfrau geboren würde, der von Ewigkeit her als Herr und Gott vom Vater ehelos gezeugt ist, um ein heiliges und unbeflecktes Opfer zu werden, demgegenüber alle mit Tieren beladenen Altäre vergeblich rauchten; durch ihn sollten den Menschen die Tieropfer mißfallen und sie zum Opfer ihres Sinns bekehrt werden, wenn sie sähen, daß Gott sich das Opfer seines Sohns zubereitet und dargebracht hat.

Wir glauben: Christus hat gelitten, gekreuzigt unter dem Statthalter Pilatus. Die Bitterkeit des Leidens erfuhr der Mensch, jedoch nicht auch der Gott, welcher, wie er unsichtbar ist, so auch keinem Schmerz, d.h. Leiden oder Betrübnis, ausgesetzt ist. Der Schmerz spricht: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?, die unverletzte Gottheit: Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Zur Sühne unserer Missetaten hat er die schändlichste Art der Hinrichtung erlitten, damit nichts an Erniedrigung bliebe, was er nicht erfahren und erfüllt hätte.

Wenn er nicht gestorben und begraben worden wäre, wer würde dann glauben, er sei ein wahrer Mensch? Aus diesem Grund haben die apostolischen Väter im Glaubensbekenntnis die Worte hingesetzt: Niedergefahren zur Hölle. Diese Wendung brauchten sie als Umschreibung, wodurch sie sowohl den wirklichen Tod anzeigten, weil »der Unterwelt zugezählt« soviel bedeutet wie »aus dem menschlichen [Leben] geschieden« sein, wie auch, daß die Kraft seiner Versöhnung bis in die Unterwelt gedrungen sei. Dies meint auch der heilige Petrus, wenn er sagt, den Toten, d.h. denen in der Unterwelt, die seit der Erschaffung der Welt, wie z.B. Noah, Gottes Mahnungen geglaubt hätten, während die Gottlosen sie verachteten, sei das Evangelium gepredigt worden.

Wenn er aber nicht wieder zum Leben gelangt und auferstanden wäre, wer würde glauben, er sei wahrer Gott, der doch so ausgetilgt war, daß nichts von seinem Leben oder seiner Kraft übrigblieb? Wir glauben daher: Der wahre Gottessohn ist nach der menschlichen Natur wirklich gestorben, damit wir dadurch der Sühne für unsere Missetaten gewiß würden. Wir glauben auch: Er ist wirklich von den Toten auferstanden, damit wir des ewigen Lebens gewiß seien. Was auch Christus ist, ist unser; was er auch tut, ist unser. Derart hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn gab, um uns lebendig zu machen. Da er nun auferstanden ist, ist er für uns auferstanden und der Anfang unserer Auferstehung. Darum nennt ihn Paulus den Erstling der Entschlafenen, d.h. der Toten. Wenn nämlich jener, der gestorben ist, lebt, zeigt er, daß auch wir leben, wenn wir sterben. Im Hebräischen bedeutet ja »auferstehen«: »bleiben, Bestand haben, fortdauern«. Deshalb richtet Paulus seine Beweisführung nach beiden Seiten aus: Wenn Christus auferstanden ist, d.h. nachdem man an seinen Tod glaubte, gelebt und wieder einen Leib angenommen hat, muß es eine Auferstehung der Toten geben.

Aus: Ernst Sachser, Huldrych Zwingli: Ausgewählte Schriften. In neuhochdeutscher Wiedergabe mit einer historisch-biographischen Einführung,
Grundtexte zur Kirchen- und Theologiegeschichte Bd 1; (S. 139-141)
© 1988 Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH, Neukirchen-Vluyn
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