Adolf von Harnack (1851 – 1930)
Deutscher
evangelischer Theologe, der 1876 zum Professor der Kirchengeschichte in Leipzig ernannt wurde. 1879 verlegte Harnack seine Lehrtätigkeit nach Gießen,
1886 nach Marburg und 1888 nach Berlin, wo er 1890 Mitglied der Akademie
der Wissenschaften wurde. Harnack widmete sich
intensiv der historischen Erforschung des Neuen Testaments und der älteren
Kirchengeschichte. Seine Ergebnisse fasste er seinem dreibändigen »Lehrbuch
der Dogmengeschichte« (1885—89) zusammen, in dem er die
These vertritt, das Dogma sei eine Frucht der Hellenisierung des Christentums gewesen. Sein Herzensanliegen war es, die dogmatischen Verkrustungen des
christlichen Glaubens bewusst zu machen und durch sie hindurch zu den schlichten
Bestandteilen des ursprünglichen Evangeliums Jesu zurückzufinden, die da sind: das Kommen des Reiches
Gottes in der Seele. die Väterlichkeit
Gottes und der unendliche Wert jeder einzelnen Menschenseele in der
praktizierten Nächstenliebe und Brüderlichkeit. Jesus ist für Harnack nicht nur Bestandteil, sondern vielmehr Bringer und Verkündiger des Evangeliums. Harnack gilt als der bedeutendste Theologe des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sein bekanntestes Werk ist das »Wesen des Christentums«, aus dem auch die hier aufgeführtren Textabschnitte entnommen sind. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Das Majestätsrecht Gottes
In einer seiner lebten Reden hat Jesu vom Gericht gesprochen und in einem Gleichnisse
anschaulich gemacht, nämlich in dem Gleichnisse vom Hirten, der die Schafe
und die Böcke scheidet. Den einzigen Scheidungsgrund aber bildet die Frage
der Barmherzigkeit. Sie wird in der Form aufgeworfen, ob die Menschen Ihn selbst
gespeist, getränkt und besucht haben, d. h. sie wird als religiöse Frage gestellt; die Paradoxie wird dann aufgehoben
in dem Satze: »Was ihr jedem Geringsten unter meinen
Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.« Deutlicher kann
man es nicht vor die Augen malen, dass im Sinne Jesu Barmherzigkeit das
Entscheidende ist und dass die Gesinnung, in der sie geübt wird, auch
die richtige religiöse Haltung verbirgt. Inwiefern? Weil die Menschen in
der Übung dieser Tugend Gottes Nachahmer sind: »Seid barmherzig wie euer
Vater im Himmel barmherzig ist.« Das Majestätsrecht Gottes übt,
wer Barmherzigkeit übt; denn Gottes Gerechtigkeit vollzieht sich nicht
nach der Regel: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«,
sondern steht unter der Macht seiner Barmherzigkeit.
Es war ein ungeheurer Fortschritt in der Geschichte der Religion, es war eine
neue Religionsstiftung, als einerseits in Griechenland durch Dichter und Denker,
andererseits in Palästina durch die Propheten die Idee der Gerechtigkeit
und des gerechten Gottes lebendig wurde und die überlieferte Religion umbildete.
Die Götter wurden auf eine höhere Stufe gehoben und versittlicht;
der kriegerische und unberechenbare Jehova wurde
zu einem heiligen Wesen, auf dessen Gericht man
sich verlassen konnte, wenn auch in Furcht und Zittern. Die beiden großen
Gebiete, die Religion und die Moral, bisher getrennt, rückten nahe zusammen;
denn »die Gottheit ist heilig und gerecht«. Was sich damals entwickelt hat, ist unsre Geschichte; denn es gäbe überhaupt
keine »Menschheit«, keine »Weltgeschichte« im höheren Sinn
ohne jene entscheidende Wandlung. Ihre nächste Folge lässt sich
in die Maxime zusammenfassen: »Was ihr nicht wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch nicht.« Diese Regel, so
nüchtern und dürftig sie erscheint, enthält doch eine ungeheure
sittigende Kraft, wenn Sie auf alle menschlichen Beziehungen ausgedehnt und
mit Ernst beobachtet wird.
Aber sie enthält doch nicht das Letzte. Der letzte mögliche und notwendige
Fortschritt war erst vollzogen — wiederum eine neue Religionsstiftung!
—, als sich die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit unterwerfen mußte,
als der Gedanke der Brüderlichkeit und der Aufopferung im Dienste des Nächsten
souverän wurde. Die Maxime scheint auch diesmal nüchtern — »Was
ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch«—,
und doch führt sie, richtig verstanden, auf die Höhe und schließt
eine neue Sinnesweise und eine neue Beurteilung des eigenen Lebens ein. Der
Gedanke: »Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen«,
ist unmittelbar mit ihr gesetzt und damit eine Umwertung der Werte in der Gewissheit,
dass das wahre Leben nicht an diese Spanne Zeit geknüpft ist und nicht
am sinnlichen Dasein haftet. S.45/6
Aus: Adolf von
Harnack, Das Wesen des Christentums. Neuausgabe mit einem Geleitwort von Rudolf
Bultmann. Evangelische Verlagsanstalt Berlin
Das Wesen des Christentums
Dieses Evangelium hat sich mit der Spekulation und der Kultusmystik der Griechen
verbunden und ist in ihnen doch nicht untergegangen; es ist mit dem römischen
Weltreich vereinigt worden und hat sich sogar in dieser Verschmelzung erhalten,
ja noch die Reformation hervorgehen lassen! Seine dogmatischen Lehren, seine
Kultusordnungen haben gewechselt, noch viel mehr — es ist von der reinsten
Einfalt und von den tiefsten Denkern ergriffen worden; es ist einem
Franziskus und einem Newton teuer gewesen. Es hat den Wandel der Weltanschauungen überdauert; es hat
Gedanken und Formen, die einst heilig waren, abgestreift wie ein Gewand; es
hat an dem gesamten Fortschritt der Kultur teilgenommen; es hat sich vergeistigt
und im Laufe der Geschichte seine sittlichen Grundsätze sicherer anwenden
gelernt. In seinem ursprünglichen Ernst und Trost ist es zu allen Zeiten
Tausenden aufgegangen und hat in ihnen alle Belastungen abgeworfen und alle
Verzäunungen durchbrochen. Wenn wir ein Recht hatten zu sagen, das Evangelium
sei die Erkenntnis und Anerkennung Gottes als des Vaters,
die Gewissheit der Erlösung, die Demut und Freude in Gott, die Tatkraft
und die Bruderliebe, wenn es dieser Religion wesentlich ist, dass der Stifter
nicht über seiner Botschaft, die Botschaft nicht über dem Stifter
vergessen wird — so zeigt die Geschichte, dass das wirklich in Kraft
geblieben ist und sich immer wieder durchringt.
In der Geschichte der christlichen Religion
haben wir seit der Reformation keine neue Stufe erlebt. Ungeheure
Wandlungen hat unsere Welterkenntnis erfahren - jedes Jahrhundert seit der Reformation
bedeutet einen Fortschritt, den wichtigsten die beiden letzten —, aber
die Kräfte und die Prinzipien der Reformation sind, religiös und ethisch
betrachtet, nicht überholt und abgelöst worden. Wir brauchen sie nur
rein zu erfassen und mutig anzuwenden, so setzen ihnen die modernen Erkenntnisse
keine neuen Schwierigkeiten entgegen. Die wirklichen
Schwierigkeiten, welche der Religion des Evangeliums entgegenstehen, sind immer
die alten. Ihnen gegenüber vermögen wir nichts zu »beweisen«;
denn unsere Beweise sind hier nur Variationen unsrer Überzeugungen. Wohl
aber hat sich durch den Gang, den die Geschichte genommen hat, ein weites Gebiet
aufgetan, auf welchem sich der christliche Brudersinn noch ganz anders bewähren
muss, als er es in den früheren Jahrhunderten erkannt und vermocht
hat — das soziale. Hier liegt eine gewaltige Aufgabe, und in dem Maße,
als wir sie erfüllen, werden wir die tiefste Frage, die Frage nach dem
Sinn des Lebens, freudiger beantworten können.
Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem
Leben einen Sinn gibt; die Wissenschaft vermag das nicht. Dass ich einmal
von meiner eigenen Erfahrung spreche, als einer, der sich dreißig Jahre
um diese Dinge ernsthaft bemüht hat. Es ist eine herrliche Sache um die
reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie gering schätzt oder den Sinn
für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher,
Wohin und Wozu gibt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei- oder dreitausend
Jahren. Wohl belehrt sie uns über Tatsächliches, deckt Widersprüche
auf, verkettet Erscheinungen und berichtigt die Täuschungen unserer Sinne
und Vorstellungen. Aber wo und wie die Kurve der Welt und die Kurve unseres
eigenen Lebens beginnt — jene Kurve, von der sie uns nur ein Stück
zeigt — und wohin diese Kurve führt, darüber belehrt uns die
Wissenschaft nicht. Wenn wir aber mit festem Willen die Kräfte und Werte
bejahen, die auf den Höhepunkten unseres inneren Lebens als unser höchstes
Gut, ja, als unser eigentliches Selbst aufstrahlen, wenn wir den Ernst und den
Mut haben, sie als das Wirkliche gelten zu lassen und nach ihnen das Leben einzurichten,
und wenn wir dann auf den Gang der Geschichte der Menschheit blicken. ihre aufwärts
sich bewegende Entwicklung verfolgen und strebend und dienend die Gemeinschaft
der Geister in ihr aufsuchen — so werden wir nicht in Überdruss und Kleinmut versinken, sondern wir werden Gottes
gewiss werden, des Gottes,
den Jesus Christus seinen Vater
genannt hat, und der auch unser Vater ist.
S.177-179
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums.
Neuausgabe mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann Evangelische Verlagsanstalt
Berlin