Hans Christian Andersen (1805 – 1875)

 

Dänischer Dichter, der als Sohn eines Schuhmachers seit 1819 in Kopenhagen lebte und vielfach gefördert wurde. Nach dem Erfolg seines (auch autobiographischen) Romans »Der lmprovisator« (1835) erhielt er seit 1838 ein staatliches Dichtergehalt. Zwischen 1831 und 1871 unternahm er fast 30 Auslandsreisen, am häufigsten nach Deutschland, - wo auch seine Autobiographie »Das Märchen meines Lebens« 1845/46 erschien. Ein Beitrag zur Weltliteratur wurden seine »Märchen«. In einem scheinbar naiven impressionistischen Stil schaffen sie eine Märchenwelt für Erwachsene, die Humor, Ironie und Resignation verbindet. Zu den bekanntesten Märchen gehören: »Des Kaisers neue Kleider«, »Die Prinzessin auf der Erbse«, »Das häßliche Entlein«, »Der standhafte Zinnsoldat« und »Der Schweinehirt«. In den folgenden Briefausschnitten offenbart sich eine weniger bekannte Seite in der sensiblen Intellektualtät Andersens, die sich vehement gegen das »alles Göttliche aufsaugende Ungeheuer des Materialismus« wendet und »Friede und Versöhnung zwischen Natur(wissenschaft) und Bibel« einfordert.

Siehe auch Wikipedia

 

Gegen das Anti-Göttliche im Materialismus
Ich sehe und fühle eine unendliche Liebe Gottes auch in jedem neuen Einblick, den er uns in die Naturgesetze und die Naturkräfte vergönnt und in der hohen Macht, die er der Menschheit dadurch schenkt. Manche sagen wohl, dass unsere Zeit nur im Materiellen vorwärts schreitet; ich gebe ihnen darin nicht recht; und selbst wenn ich es müsste, nun wohl, so ist das Materielle, das wir erringen, doch gewissermaßen ein Balkenwerk, das für das Gebäude des Geistes errichtet wird; die Menschen werden näher zusammengerückt; die Gedanken lassen sich leichter austauschen, wir werden mehr zu einem Volk, zu einem Geistesstaat. Ich habe in den letzten Jahren so viel Interesse für die Wissenschaft bekommen, dass ich überzeugt bin: wäre ich vor zwanzig Jahren so von ihrer Herrlichkeit erfüllt gewesen, wie ich es jetzt bin, so wäre ich sicher einen andern Weg gegangen, als ich ihn jetzt gehe, oder richtiger, ich hätte mir Kenntnisse angeeignet, durch die meine dichterische Tätigkeit andere Blumen getrieben hätte als jetzt. [...]

Sie wissen, dass besonders in Deutschland sich durch tüchtige Gelehrte der Materialismus ausbreitet, indem man wissenschaftlich jedes einzelne erklärt. Die Welt besteht aus Materie und Kräften, und je nach ihrer Mischung entsteht ein Stein, eine Pflanze, ein Tier oder ein Mensch. Die ganze künstliche Maschinerie wird auf das vollkommenste erklärt; aber es bleibt doch nur Maschinerie, und das Ganze scheint mir ein verzweifeltes Dasein zu sein. Der Mensch ist auf diese Weise nur ein Glied der ganzen Schöpfungsart; Unsterblichkeit — Gott selber — verschwindet; es ist grauenhaft! Es kann sich nicht so verhalten, und ich glaube das gesund und einfach erklären zu können, und sogar durch den Strom des Humors, der es am leichtesten in das Zeitalter hineinträgt. Es herrscht — und zwar auch bei uns in hohem Grade — ein Geist der Zwietracht zwischen Religion und Wissenschaft; der Bischof hat ja schon gegen Oerstedt Kampf gepredigt, und neulich hat Professor Nielsen in seinem Universitätsprogramm klar ausgesprochen, entweder müsse man die Bibel verwerfen oder die Wissenschaft; die beiden ständen sich feindlich gegenüber! Hiergegen aufzutreten — Sie sehen schon im »Märchen meines Lebens« meinen Protest dagegen — ist mir Bedürfnis. Für mich beleuchtet die Wissenschaft gerade die göttliche Offenbarung; ich gehe mit offenen, sehenden Augen auf das Ziel zu, das die andern blindlings suchen. Unser Herrgott verträgt es gut, mit dem gesunden Verstand gesehen zu werden, den er uns gegeben hat. Friede und Versöhnung zwischen Natur und Bibel will ich. Wenn ich diese Aufgabe lösen kann, dann stirbt auch dieses alles Göttliche aufsaugende Ungeheuer des Materialismus! Es wird — wie gesagt, wenn ich die Kraft dazu habe — meine bedeutendste Arbeit, die Arbeit, auf die meine Dichtung Ahasverus hindeutete; aber ich will diese Dichtung in der Form durchführen, in der meine Romane, Geschichten und Märchen gegeben sind, also als einen Roman der Gegenwart, und Sie werden viele amüsante Personen darin finden. Die Welt wimmelt ja von Vorbildern; die Originale sind nicht ausgestorben, sie stecken nur alle so ziemlich in den gleichen Kleidern; aber die ziehe ich ihnen aus und mache das Kleid nach dem Mann.

Aus: Hans Christian Andersen, Der Dichter und die Welt. Briefe von H. C. A. Übertragen und hrsg. von E. von Hollander. Weimar 1917
Text auch enthalten in: Geist des Abendlandes herausgegeben von Helmut Noack
Skandinavische Geisteswelt von Swedenborg bis Niels Bohr . Herausgegeben von Walter Schmiele (S.225-227)
Holle Verlag . Darmstadt und Genf