Hermann Cremer (1834 – 1903)
Deutscher
evangelischer Theologe, der während seinem Studium von August
Tholuck (Halle) und Johann Tobias Beck
(Tübingen) geprägt wurde. Neben
Martin Kähler (dem er menschlich und theologisch
am nächsten stand) und Adolf Schlatter, wurde Cremer zum Hauptvertreter einer Bibeltheologie,
in deren Zentrum er das Bewusstsein der Sünde und die Rechtfertigung
des Menschen durch das in Christus vollzogene Gericht stellte. Als seine größte wissenschaftliche Leistung gilt das von ihm verfasste
und herausgegebene »Biblisch-theologisches Wörterbuch
der neutestamentlichen Gräcität«. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Christliche Erkenntnis
Religion des Christentums
Christliche
Erkenntnis
Aus: »Dogmatische Prinzipienlehre«
in Zöcklers Handbuch der theologischen Wissenschaften, 3.Aufl.1890, Bd.III.
Christliche Erkenntnis
ist außerhalb des Christentums
nicht vorhanden. Ihre subjektive Voraussetzung ist das Christentum, der
Christenstand des erkennenden Subjekts, und dieser schließt die Gewissheit,
die Überzeugtheit in betreff der Wahrheit des Christentums in sich. Es
ist daher die fundamentale Frage, wie diese Überzeugtheit, diese Gewissheit
zustande kommt. Mit der Berechtigung der christlichen
Gewissheit steht und fällt die Berechtigung
des Inhaltes der christlichen Erkenntnis. Auf Grund der christlichen Gewissheit,
d. i. der Gewissheit in betreff der Wahrheit des Christentums oder genauer der
Gottesoffenbarung in Christo, erhebt sich die Arbeit des Christen oder
der christlichen Gemeinde an der erkenntnismäßigen Erfassung und
Darlegung der Wahrheit, deren sie gewiss ist...
So ergibt sich für die Frage nach der Entstehung der christlichen Erkenntnis
eine dreiteilige Untersuchung:
1. die Voraussetzungen des Christentums,
2. die Entstehung der christlichen Gewissheit,
3. die Quellen der christlichen Erkenntnis
(S.61).
Das Christentum ist Gemeinschaft der Sünder mit Gott in Christo durch den
Glauben (63).
Indem das Christentum den allgemeinen Gottesbegriff voraussetzt und zugleich
an das Gewissen sich wendet, fordert es die energische Betätigung dieses
zweifachen Bewusstseinsinhaltes. Nichts anderes setzt es bis heute und stets
voraus (66).
Auf dem Wege religiös-sittlichen Verhaltens soll die Anerkennung der christlichen
Verkündigung zustande kommen. Mit der Bestätigung der allgemeinen
Gottesgewissheit und ihrer Konsequenzen wird zugleich das Gegenteil der letzteren
bezeugt. Dann muß die Identität Gottes den Angelpunkt der Selbstrechtfertigung
des Christentums bilden. Derselbe Gott, den der Sünder als seinen Richter
erkennen muss, muss in der christlichen Heilsverkündigung wiederzuerkennen
sein. Die christliche Verkündigung als Heilsverkündigung hebt die
Wahrheit des Gerichtsbewusstseins nicht auf, bestätigt sie vielmehr, und
der Glaube an Gott in seiner Heil schaffenden Gnade in
Christo nötigt zu einer so energischen Vollziehung des Gerichtsbewusstseins,
dass eine stärkere Bejahung als eben durch diesen Glauben nicht möglich
ist. Damit fordert also das Christentum die rückhaltlose Vollziehung seiner
Voraussetzung; aber es fordert dieselbe nicht bloß, es bewirkt sie auch,
indem seine Anerkennung, die Hinnahme des Heiles, gerade diejenige Bejahung
jener sittlich-religiösen Gewissheit in sich schließt, zu der man
sich Gotte gegenüber verpflichtet weiß. Eben damit ist aber die christliche
Verkündigung mit ihrem der Konsequenz gewissenmäßigen Denkens
sonst widersprechenden Inhalt legitimiert. M. a.W., das
Gewissen ist Sünden- und Gerichtsbewusstsein, das Christentum bietet
das Gegenteil von Sünde und Gericht, nämlich Heil, den Glauben dar.
Es ist der Gott des Gerichts,
den wir in dem Gotte des Heils wiedererkennen und darum anerkennen. An seinem sich gleichbleibenden Verhältnis
zur Sünde erkennen wir ihn (71).
Die christliche Gewissheit besteht aber, wo sie vorhanden ist, in keiner anderen
Form, als in welcher auch die allgemeine Gottesgewissheit und die sittliche
Gewissheit bestehen, nämlich in der Form der freien Tat, der freien Anerkennung,
in der Form des Glaubens, durch den Glauben und als Glaube. Damit hängt
es zusammen, daß man sie versagen kann. Eine vermeintlich fester begründete
Gewissheit gibt es überhaupt nicht (72).
Religion
des Christentums
Aus: »Das Wesen des
Christentums«, 3. Aufl. 1902.
Christentum ist nicht
die Religion, die Jesus selbst gelehrt, geglaubt, geübt hat, sondern ist die Religion, welche Selbstbeziehung
des Glaubenden zu Jesus, Gemeinschaft mit Jesus und wie mit ihm so auch Gemeinschaft
mit dem Vater ist. Nicht ein Christentum
Christi, sondern nur das Christustum Christi verkündet uns das Neue Testament (220).
Es gibt nichts Wunderbareres, nichts weniger Selbstverständlicheres, nichts
Paradoxeres, nichts, was so sehr das Gegenteil ist zu allem, was logisch und
sittlich folgerichtig ist, als die Versöhnung, die Erlösung, die Vergebung all unserer Sünden, die tatsächliche
göttliche Vergebung, Anrechnung der Sünden und doch Vergebung! Es
sind ganz verschiedene, einander entgegengesetzte und ausschließende Religionen,
die eine, welche wie Christus selbst die Vergebung
an seinen Tod und seine Auferstehung bindet, die andere, in welcher man
sich selbst die Sünde vergibt (228).
Enthalten in: Textbuch zur deutschen systematischen
Theologie und ihrer Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, Band I 1530 –
1934 von Richard H. Grützmacher 4.Auflage, 1955 C. Bertelsmann Verlag Gütersloh
(S.165-167)