Constantin Gutberlet (1837 – 1928)

 

Deutscher Philosoph und katholischer Theologe, Gründer und Herausgeber der Philosophischen Jahrbücher der Görres-Gesellschaft.


Siehe auch Kirchenlexikon


Inhaltsverzeichnis
Die mathematischen Grundlagen des teleologischen Gottesbeweises
Die geheimnisvolle Vereinigung von Leib und Seele
Es existiert ein unendlicher schöpferischer Geist: Gott.
Das Gottesbewußtsein der Menschheit
Der Optimismus

Die mathematischen Grundlagen des teleologischen Gottesbeweises
Meine erste philosophische Schrift war: »Das Unendliche mathematisch und metaphysisch betrachtet«, 1878, in der ich die Möglichkeit einer aktuell unendlichen Menge darzutun unternahm. Schon vorher war in der Zeitschrift »Natur und Offenbarung« eine längere Abhandlung erschienen, in der ich mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung die völlige Unmöglichkeit einer Entstehung der Weltordnung durch Zufall dartat; sie sollte die mathematischen Grundlagen des teleologischen Gottesbeweises aufzeigen.

Es ist ja jedem denkenden Menschen einleuchtend, daß durch Durcheinanderwirbeln so vieler kleinsten Teilchen, aus denen der ungeheure Kosmos besteht, ohne überlegende Intelligenz eine dauernde Ordnung mit so unzähligen Zweckmäßigkeiten nicht entstehen kann. Dieses spontane Urteil stützt sich auf die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, nach welchen etwas um so unwahrscheinlicher ist, je größer die Zahl der möglichen Fälle und je geringer die der günstigen ist.

Nach einer Schätzung der Zahl der Atome des Kosmos ergab sich eine so ungeheure, kaum vorstellbare Zahl der fast unendlich möglichen Kombinationen als Nenner des Wahrscheinlichkeitsbruches, daß die Zahl der günstigen Fälle, die der Zähler angibt, dagegen verschwindet, und somit der Bruch nach mathematischer Beurteilung = 0 gesetzt werden kann, was das Nichteintreten des Ereignisses bedeutet. Wenn man dagegen einwendet, die Verbindungen der Atome vollzögen sich nicht gesetzlos nach allen möglichen Richtungen, so ist zu erwidern, daß die Existenz von ordnenden Gesetzen ohne berechnende Intelligenz ganz genau so unwahrscheinlich, ja noch unwahrscheinlicher ist, als die Ordnung durch zufälliges Zusammentreffen der Elemente. Der Astronom Heis, damals Redakteur von »Natur und Offenbarung«, sprach sich lobend über diesen Versuch aus. In der Folge habe ich noch zahlreiche Beiträge mathematisch- und naturphilosophischen Inhalts zu der Zeitschrift geliefert, zeitweilig war ich deren Hauptstütze, so daß ich zur Zeit einer Krisis der Zeitschrift ersucht wurde, für die Erhaltung einzutreten. In der Folge wurde ich fortgesetzt darin von Isenkrahe angegriffen, und sie konnte sich nicht mehr halten.

Zur Beleuchtung meiner mathematischen Behandlung philosophischer Probleme führe ich noch ein Beispiel aus dieser Zeitschrift an. Es ist eine wichtige Frage für die theistische Weltanschauung, ob eine endliche Kraft schaffen, d. h. aus nichts etwas hervorbringen könne. Ich konnte hierin einen Beweis des hl. Thomas für die Unmöglichkeit ergänzen. Er sagt: Die Kraft muß um so größer sein, je weiter der Ausgangspunkt vom Endpunkt entfernt ist. Das Nichts ist vom Sein unendlich entfernt, also muß die Kraft, welche den Abstand überwinden soll, unendlich sein. Da wird doch sogleich der Einwand laut werden:

Von Null bis zu einer endlichen Größe ist der Abstand doch nur ein endlicher, nämlich gleich der endlichen Größe. Dieser Einwand löst sich, wenn man den Abstand nicht statisch, sondern dynamisch faßt, wie die Hervorbringung es verlangt. Die Kraft muß um so größer sein, je ungeeigneter der Stoff ist. Das darf nun nicht verstanden werden: um so viel mehr Kraft muß angewandt werden, sondern: so vielmal mehr. Die Proportion darf nicht eine arithmetische, sondern muß eine geometrische sein. Nennen wir den Stoff m und die Kraft v, so ist die hervorzubringende Wirkung darzustellen durch m v, nicht m + v; wäre letzteres, so könnte m + v werden = v; aber m v wird bei m x 0 = 0. Der Stoff addiert sich nicht einfach zur Kraft, sondern sie komplizieren sich zu einem Produkt.

Diese meine Vorliebe für mathematische Behandlung philosophischer Fragen hat bei Freunden der Mathematik großen Anklang gefunden; bei der weitverbreiteten Scheu vor Mathematik habe ich damit der Verbreitung meiner Werke eher geschadet; man konnte hören: »Das ist ja Mathematik«. Dem Gymnasialprofessor Isenkrahe, der eine neue Apologetik herbeiführen wollte und darum alle Gottesbeweise zu widerlegen suchte, gaben meine Ausführungen Veranlassung, seine Angriffe gerade vorzüglich gegen mich zu richten. S.50f.

Die geheimnisvolle Vereinigung von Leib und Seele
Die Seele ist es, welche den Organismus spezifiziert; aktuiert, zu dem macht, was er als lebendiger Organismus ist. Die enge, geheimnisvolle Einigung von Leib und Seele bietet der Philosophie die größte Schwierigkeit. Es ist nicht schwer, viele der vorgebrachten Erklärungsversuche zu widerlegen, aber schwer ist es, eine positive, befriedigende Erklärung zu geben. Schließlich ist man an einer Lösung verzweifelt und hat nur einen psycho-physischen Parallelismus zugegeben, der natürlich mit der Leugnung der Einheit identisch ist. Wenn nämlich seelische und leibliche Tätigkeiten unabhängig voneinander nebeneinander herlaufen, können sie es auch, die einen in Amerika, die anderen in Deutschland. Aber wie können sie ohne gegenseitige Beeinflussung so genau zueinander stimmen? Da muß man entweder zu der Leibnizischen prästabilierten Harmonie, oder zu der Spinozistischen Substanz oder zur Identität beider seine Zuflucht nehmen.

Der kausale Zusammenhang ist aber hier so offenbar, daß er nirgends sonst so einwandfrei nachgewiesen werden kann. In jedem Augenblick können wir konstatieren, daß mit einem bestimmten seelischen Wollen die entsprechende körperliche Bewegung der Glieder erfolgt, und umgekehrt eine körperliche Verletzung der Seele Schmerz verursacht, daß, je stärker oder schwächer das Antezedens auf der einen Seite ist, das Konsequenz auf der anderen Seite in gleichem Maße nachfolgt. Dies alles erklärt sich nur bei physischer Einheit von Leib und Seele, und diese begreift man am ehesten, wenn man die Seele als substantiale Form faßt, die den potentialen, unbestimmten Urstoff zu ihrem menschlichen Leibe bestimmt und aktuiert. Damit erledigt sich auch der Einwurf der Parallelisten, Körperliches könne auf Geistiges nicht einwirken; nach unserer Auffassung wirkt die Seele, wenn sie die Glieder bewegt, nicht auf Fremdes, sondern auf sich selbst in ihren Gliedern, und der Körper wirkt nicht auf die Seele, sondern wegen der innigen Einheit erfährt der beseelte Körper den schmerzlichen Einfluß, also die Seele mit dem Körper.

Gibt man aber die substantialen Formen in den Organismen zu, so müssen sie, wie es scheint, auch in der anorganischen Natur angenommen werden. Denn die Organismen entnehmen ihre Nahrung aus unorganischem Stoff und verwandeln ihn in lebendige Substanz. Dazu muß die Seele, um ihre Formwirksamkeit zu betätigen, die substantialen Formen der Nahrung vertreiben und sich an ihre Stelle setzen. Die moderne Physik kommt der scholastischen Philosophie darin entgegen, daß sie auch substantiale Veränderungen in den radioaktiven Stoffen nachweist und noch in den Atomen eine Zusammensetzung, nämlich Ionen und Elektronen, annimmt. Damit wird die Vorstellung von einer spezifischen Verschiedenheit der letzten Elemente durch eine spezifizierende substantiale Form weniger befremdend. Im Grunde folgt aber aus der Annahme einer substantialen Form in den Organismen eine solche nicht notwendig in den anorganischen Elementen. Denn es läßt sich leicht denken, daß ein einfaches Prinzip, wie die Seele, so innerlich in die Stoffe der Nahrung eindringen und sie beeinflussen kann, daß diese nicht zerlegt zu werden brauchen, wenn sie unter die Herrschaft der Seele beim Einverleiben in den Körper gelangen. Die Elektronen werden doch kaum mehr als zusammengesetzt gefaßt werden können. Dies gilt natürlich nur dann, wenn man die Wesensform nicht in dem strengen Sinne der Thomisten nimmt, nach welchen die Seele ganz und gar mit und aus dem unbestimmten Urstoffe den Leib aufbaut; diese müssen eine Zusammensetzung auch der Atome aus substantialer Form und Urstoff annehmen; aber sie lehnen jede Atomistik ab. S.53f.

Es existiert ein unendlicher schöpferischer Geist: Gott
Der Stoff (Materie) kann nicht aus sich sein. Er ist indifferent gegen Ruhe und Bewegung und kann sich nicht durch sich für den einen oder anderen Zustand bestimmen, und doch muß er in einem derselben existieren. Wenn er aus sich die Existenz hätte, so wäre dies also entweder in Ruhe oder in Bewegung. Wäre es die Ruhe, so verlangte sein Wesen Ruhe und er könnte nie bewegt werden; jedenfalls wäre dies gegen seine wesentliche Indifferenz für Ruhe oder Bewegung. Existierte er aus sich in Bewegung, so wäre dies gleichfalls gegen seine Indifferenz. Ebenso ist er indifferent gegen jede Geschwindigkeit, gegen jede Richtung und Form der Bewegung, gegen jeden Aggregationszustand: Und doch muß er, wenn er existiert, in einem derselben vor allen anderen auftreten; keiner hat vor dem anderen etwas in bezug auf Existenznotwendigkeit voraus. Jeder, in dem er vor den anderen existieren soll, ist gegen seine wesentliche Indifferenz gegen alle. Also muß ihm von außen einer, in dem er existieren soll, bestimmt werden. Diese äußere Ursache muß ihm mit der Existenz auch den bestimmten Existenzzustand verleihen. Diese Ursache kann kein anderer Stoff sein; denn für ihn gilt dasselbe wie für den hervorzubringenden Stoff. Also nur ein Geist kann den trägen Stoff ins Dasein setzen. Das kann er nicht aus seiner Substanz, die immateriell ist, er kann es nicht aus anderem Stoff, denn ein solcher existiert noch nicht, jedenfalls gilt für ihn dasselbe wie für den hervorzubringenden Stoff. Also muß er ihn aus nichts hervorbringen, schaffen, er ist Schöpfer. Zum Schöpfer gehört eine unendliche Kraft, also existiert ein unendlicher schöpferischer Geist: Gott.

Auch aus einem anderen Grunde kann der Stoff nicht aus sich sein. Ein Wesen, das den Grund seiner Existenz in sich hat, ist absolut unveränderlich. Denn seine Wesenheit verlangt die Existenz: Die Wesenheit ist realisiert. Nun aber ist die Wesenheit der Dinge notwendig, ewig, unveränderlich. So ist z. B. das Wesen des Menschen, das in dem Begriff, in der Definition: Sinnlichkeit—Geistigkeit ausgedrückt wird, ewig, unveränderlich. Also kann nichts, was veränderlich ist, kraft seines Wesens, nicht aus sich sein. Daß es auch nicht von Ewigkeit wegen seiner Veränderlichkeit sein kann, haben wir bereits gesehen. Es ist also in der Zeit geworden. Da konnte es aber in unendlich vielen Zeitpunkten anfangen. Darum mußte ihm der Anfang von einem äußeren Prinzip bestimmt werden, das den Zeitpunkt auswählte, also mit Überlegung, mit Freiheit handelte: ein Geist. Dieses gilt nicht bloß vom Stoffe, sondern von allem in der Welt, auch von den Geistern, denn auch sie sind der Veränderung unterworfen. Dieser höhere Geist muß aber unendlich sein; denn entweder traf er diese Bestimmung ohne alle Veränderung seinerseits oder mit Veränderung. Wenn letzteres, dann bedarf auch er einer Ursache, wenn ersteres, muß er unendlich sein. Denn nur eine unendliche Macht vermag durch einen Akt alles zu bewirken; ein endliches Agens muß für neue Tätigkeit neue Kraft entfalten; die unendliche Kraft reicht für alle ein für allemal hin. Wenn der Geist einer Ursache bedarf, dann bringt ihn diese entweder mit Veränderung hervor oder ohne Veränderung; in dem letzteren Falle ist sie unendlich, im ersteren Falle bedarf auch sie einer Ursache usw. in infinitum. Nun muß man einmal bei einem Unveränderlichen stehen bleiben, weil sonst die Bestimmung, die es treffen soll, stets bedingt bliebe und die Bedingung sich nicht erfüllte, also keine Bestimmung zur Existenz, und überhaupt keine Existenz zustande käme.

Auch die Endlichkeit der materiellen Welt beweist, daß sie nicht aus sich ist. Daß sie aber nicht unbegrenzt ist, beweise ich folgendermaßen. In einer unendlichen Welt könnten unendlich viele Wesen von hier aus ins Unendliche existieren. Wären sie lebende Wesen, Tiere, Menschen, die sich bewegen können, so könnte eine Anzahl, etwa 1000, hier bei uns aus der Reihe heraustreten, und die bleibenden ihre Stelle einnehmen. Alle in dieser Reihe bewegen sich auf uns zu. Dann fehlen dort in der angenommenen Unendlichkeit 1000. Also ist die Reihe dort nicht mehr ohne Ende; hier auch nicht. Die Reihe ist also an zwei Stellen begrenzt; also gewiß nicht grenzenlos, also auch nicht vorher; denn durch Hinzufügung von 1000 Gliedern wird eine endliche Reihe nicht unendlich. Also hat die Welt keine unendliche Ausdehnung; also ist sie nicht aus sich.

Es wäre auch der reinste metaphysische Zufall, daß gerade dieser endliche Grad der Vollkommenheit existierte, da doch unendlich viele andere gleich möglich sind, und dieser wirkliche gar keinen Vorzug vor den anderen in bezug auf Existenznotwendigkeit haben kann.

Jedem endlichen Wesen wird der Grad seiner Vollkommenheit durch eine Ursache, die es hervorbringt, bestimmt, aus sich kann es ihn nicht bestimmen. In der Tat können wir uns bei einer endlichen Welt nicht beruhigen; wer sie ungeschaffen annimmt, muß sie unendlich denken; nur so wird der Zufall, der Tod der Wissenschaft, ausgeschlossen. Nur wenn die Welt unendlich ist, kann man nicht sagen, aus gleichem Grunde könnten unzählig viele andere existieren. Denn das Unendliche kann nur einmal da sein. Existierten auch nur zwei, so wäre ihre Summe größer als das einzelne, also keines unendlich; denn im Begriff des Unendlichen liegt es, daß es kein Größeres als es selbst gibt. Also was aus sich ist, muß unendlich sein. Die uns gegebene Welt ist aber nicht unendlich, was sich auch schon ohne unsere Beweisführung aus der unmittelbaren Betrachtung ergibt. Sie ist ja zum Teil sehr unvollkommen, ja, Mängel und Schäden sind in ihr so groß und zahlreich, daß sie der Pessimismus für seine Zwecke ausbeuten kann. Ein Unendliches, also ein ens a se muß existieren, es kann nicht alles von einem anderen hervorgebracht sein; man muß einmal bei einem haltmachen, das den Grund des Seins in sich hat. Also existiert außer der Welt ein unendlich vollkommenes Wesen, das darum auch intelligent sein muß, ein unendlicher Geist: Gott.

Jedenfalls existiert in unserer Welt nicht alles, was existieren kann. Außer den 1500 Millionen Menschen, den Milliarden Tieren und Pflanzen könnten zahllose andere derselben Art existieren. Warum nur diese? Man wird antworten: Weil nur für die Existenz dieser die erzeugenden Ursachen da waren. Aber warum dies? Und diese Frage kehrt immer wieder, wenn man selbst unendlich viele vorhergehende Zeugungen durchgeht. Ein anderer Grund läßt sich nicht angeben, als sie sind aus der unendlichen möglichen Menge ausgewählt. Eine freie, also intelligente Ursache hat ihnen das Dasein verliehen.

Unmittelbar ergibt sich die Intelligenz des Weltprinzips aus der erstaunlichen Ordnung und Zweckmäßigkeit des Kosmos. Ich habe dies durch Wahrscheinlichkeitsrechnung mathematisch darzutun gesucht, nicht, weil ich dies für nötig erachte, sondern mehr als Argumentum ad hominem gegen die Mechanisten. Es liegen dieser Berechnung dieselben Richtlinien zugrunde, wie dem unmittelbaren Urteile des natürlichen Menschenverstandes, wenn er zwischen Zufall und ordnender Intelligenz zu urteilen hat. Und da braucht man nicht einmal die aller menschlichen Weisheit spottende allgemeine Gesetzmäßigkeit des Weltalls zu betrachten, sondern es reicht ein einzelnes lebendes Wesen, ein einzelnes Organ, wie das Auge, das Ohr hin, um auf der Stelle die Notwendigkeit einer zwecksetzenden Vernunft einzusehen. Mir wenigstens ist dies so evident, daß ich nicht begreife, wie so viele Feinde der Teleologie sich so große Mühe geben, die Naturordnung ohne den Schöpfer begreiflich zu machen.

Auch auf theistischer Seite tritt eine starke Strömung hervor, welche die Gottesbeweise für unzulänglich erklärt und ein unmittelbares Schauen und Erleben des Göttlichen behauptet. Angeregt wurde diese Denkweise in neuester Zeit durch Bergson und Husserl, die den Intuitionismus und Phänomenalismus zur Grundlage ihrer Erkenntnistheorie machen. Husserl hat das große Verdienst, daß er gegen den Kantianismus die objektive, notwendige Geltung der Prinzipien wieder in ihr Recht einsetzt. Gegenüber einer oberflächlichen Auffassung der scholastischen Abstraktionstheorie betont er die unmittelbare Erfassung des Wesens. Wenn man die Abstraktion so faßt, daß durch Absehen von den zufälligen Eigenschaften eines Gegenstandes das Wesen erkannt werde, so wird dabei übersehen, daß dazu noch eine übersinnliche Erfassung des Wesens notwendig ist, und zwar nicht durch Absehen von den sinnlichen Eigenschaften, sondern mit Hilfe derselben. Gestützt auf den Grundsatz: Wie etwas sich äußert, so muß es auch innerlich beschaffen sein, bilden wir uns den geistigen Begriff auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung oder Vorstellung des Gegenstandes. Bei wissenschaftlicher Begriffsbildung gehen wir allerdings die einzelnen Eigenschaften des Gegen¬standes durch, lassen dann alle beiseite, von denen wir zeigen können, daß sie nicht wesentlich sind, bis auf eine, die dann zum Wesen gehört. Nicht zuzugestehen ist das unmittelbare Schauen der Wesenheit, wie es Husserl lehrt.

Für das Schauen der Wesenheit Gottes beruft man sich auf Augustinus, der in der über uns thronenden notwendigen Wahrheit Gott zu schauen glaubt. Das trifft nicht ganz zu; denn er anerkennt ein Wesen über der Wahrheit. Nur wenn man ihm ganz platonische Gedanken, Realität der Begriffe, zuschreibt, kann man behaupten, er habe ohne Zuhilfenahme des Kausalitätsprinzips ein unmittelbares Schauen Gottes gelehrt. Aber ohne dieses Prinzip ist sein Gottesbeweis hinfällig. Darum habe ich versucht, den Schluß in dem augustinischen Beweise nach dem Kausalitätsprinzip aufzuzeigen. Die Wahrheit steht wie eine höhere Macht über uns, sie beherrscht mit Allgewalt alle Geister. Aber ein rein Mögliches wie die Wahrheit kann eine solche Gewalt nicht ausüben; also muß eine höhere existierende Gewalt durch die Wahrheit diese Herrschaft ausüben. Die Wahrheit ist aber unendlich, notwendig, ewig. Also muß auch die höhere existierende Macht notwendig, ewig, unendlich — Gott sein.

Man wird dagegen einwenden: die Nötigung, die wir von der Wahrheit erleiden, beruht auf der Natur des Geistes, dessen Objekt die Wahrheit ist. Aber die Nötigung ist nicht rein subjektiv, die Wahrheit tritt uns objektiv mit Allgewalt gegenüber. Das zeigt sich besonders bei den ethischen Prinzipien, die nicht bloß den Verstand, sondern auch den Willen nötigen, verpflichten. In der Verpflichtung tritt uns das Gute mit einer so absoluten Gewalt entgegen, daß wir unter keinen Umständen es mißachten, das Böse tun dürfen, auch wenn uns alle möglichen Güter geboten, alle möglichen Übel angedroht würden. Also hat die sittliche Handlung einen unendlichen Wert. Dieser liegt aber nicht in ihr, auch nicht in dem Menschenwohl, nicht im Kulturfortschritt, die sie fördert, nicht in dem Vernunftbefehl, nicht in der Angemessenheit für die menschliche Natur. Alles dieses hat nur einen beschränkten, endlichen Wert. Also muß das sittlich Gute mit einem unendlichen Gute in Verbindung stehen, ein allmächtiger Wille muß uns gebieten. S.58ff.

Das Gottesbewußtsein der Menschheit
Das allgemeine, mehr oder weniger deutliche Gottesbewußtsein der Menschheit deutet an, daß es eine Äußerung der menschlichen Natur ist. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die äußeren Einflüsse, welche die Menschen zu allgemeinen Irrungen verleitet haben, hier wegfallen. Der Augenschein z. B., der zur Annahme der Bewegung des Himmels und Stillstandes der Erde führte, spricht hier eher gegen einen unsichtbaren Gott. Leidenschaften haben einen Gott, der das Böse bestraft, eher zu fürchten, als ihn sich zu erdichten; alle sündigen und fürchten die Strafe. Aber die Furcht vor den gewaltigen Naturkräften und deren Unkenntnis soll die Götter erzeugt haben. Von erdichteten Kräften ist doch keine Hilfe zu erwarten. Übrigens fürchten die Naturvölker nicht nur Gott, sondern schreiben ihm auch Wohltaten, z. B. den Regen, zu. Der Urmensch hat auch die notwendige Naturerkenntnis, welche zur Anerkennung eines höheren Wesens führt. Er kann sich der großartigen Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Natur nicht verschließen; sie drängt sich jedem mit Verstand begabten Menschen auf. Es ist ein natürliches Bedürfnis der Vernunft, nach der Ursache der auffallenden Erscheinungen zu fragen. Er weiß auch aus täglicher Erfahrung, daß ohne Ordner keine Ordnung entsteht, ohne Überlegung ein Zweck nicht erreicht wird. Damit ist der Syllogismus gegeben Ein geordnetes Werk verlangt einen Ordner. In der Welt herrscht die großartigste Ordnung und Zweckmäßigkeit. Also existiert ein höherer, sehr intelligenter Ordner. Die beiden Prämissen muß der Mensch miteinander verbinden; dazu drängt ihn das Kausalbedürfnis, das schon im Kinde sich durch die fortwährenden Fragen nach dem Warum und Wozu kundgibt; es wird also dem noch kindlichen Urmenschen nicht fehlen. Er stellt allerdings diesen Syllogismus nicht in logischer Form an, aber seine Gedanken lassen sich darauf zurückführen.

Das ist also der Prozeß der Gotteserkenntnis, von der Vernunft vollzogen, nicht von vernunftwidrigen Einflüssen geleitet. Wenn solche ausgeschlossen sind, dann urteilt die Vernunft aus sich heraus; das allgemeine Urteil der Menschheit stammt aus der gemeinsamen Natur, aus dem reinen Quell der Vernunft. Wenn ein solches Urteil irrig wäre, dann hätte die menschliche Vernunft eine innere Tendenz zum Irrtum, eine Annahme, die die allgemeine Skepsis proklamiert.

Diesen so einfachen und dem vernünftig denkenden Menschen so natürlichen Schluß mußte der noch unverdorbene, unmittelbar aus der Hand des Schöpfers hervorgegangene Urmensch vollziehen. Nach theistischer Auffassung konnte nur ein Gott den Menschen zum mindesten der Seele nach ins Dasein setzen. Die unmittelbaren, von den Geschöpfen noch nicht beeinflußten Werke Gottes sind vollkommen. Wie er also sein Geschöpf nicht im Zustande kindlicher Hilflosigkeit dem Körper nach hervorbringen durfte, so noch weniger in geistiger Beschränktheit. Seine Geisteskräfte mußten so ausgebildet sein, daß er ein menschenwürdiges Leben führen konnte, vor allem in sittlich-religiöser Beziehung, wozu er ins Dasein gesetzt wurde. Die Erziehung, welche dem jungen Menschen durchaus notwendig ist, fehlte ihm; sie mußte ihm sein göttlicher Lehrmeister ersetzen. Er war auch, wie zum leiblichen Stammvater des Menschengeschlechts, so zum Lehrmeister seiner Nachkommen bestimmt; darum mußte er sogar ein hervorragendes Wissen besitzen.

Doch wir brauchen die früheren besseren sittlich-religiösen Zustände nicht mehr bloß zu erschließen, die neuere Ethnologie und Religionsgeschichte hat sie als tatsächlich konstatiert und sogar die einzelnen Etappen des Abfalls aufgezeigt. W. Schmidt, der Herausgeber des »Anthropos« hat sich große Verdienste um die Lösung dieses interessanten und wichtigen Problems erworben. Die in neuerer Zeit näher bekannt gewordenen Pygmäenvölker Australiens zeichnen sich durch ihre reineren Vorstellungen von Gott aus. Daß diese aus einer besseren Vorzeit stammen, zeigt die Flora und Fauna ihres Landes. Diese gehören einer früheren geologischen Periode an. Die Beuteltiere, wie das Kängeruh, die die Australien eigentümlich sind, weisen darauf hin, daß das Land schon in frühester Zeit von dem asiatischen Festlande abgeschnitten wurde, und seitdem die Organismen die Entwicklung mit dem asiatischen Hauptstrom nicht mitmachten. Die Bewohner wurden so zu einer Zeit isoliert, wo noch reinere Vorstellungen von Gott in Asien herrschten. Schmidt unterscheidet Kulturkreise, welche durch die einem jeden Kreise eigentümlichen Waffen, Geräte usw. charakterisiert sind. Mit dem Fortschritt derselben geht immer ein Rückschritt in Moral und Religion Hand in Hand. Das ist ganz verständlich. Mit dem Fortschritt der Menschheit auf weltlichem Gebiete hält der sittlich-religiöse nicht gleichen Schritt. Kunst und Wissenschaft, Technik fördern das Wohlergehen des Menschen, die jenseitigen Werte liegen dem Weltmenschen fern, sie fordern sogar Opfer und Entsagung; sie müssen immer von jedem neu erworben und geübt werden.

Epochemachend war für die Naturphilosophie die Abstammungslehre Darwins, für die Psychologie war es die Psychophysik Fechners. Mit ungeteilter Befriedigung, mit einer gewissen Begeisterung habe ich die »Elemente der Psychophysik« begrüßt. Nachdem die mathematische Behandlung psychischer Phänomene durch Herbart sich als unhaltbar erwiesen, war es mir eine Freude, eine auf exakte Experimente gestützte mathematische Formel für das Verhältnis von Reiz und Empfindung zu erhalten. Je stärker der Reiz, desto stärker auch die Empfindung, aber nicht in gleichem Tempo: die Empfindung wächst langsamer. Durch fortgesetzte Hebungen von Gewichten fand nun Fechner, daß der Reiz in geometrischem Verhältnis wachsen muß, damit die Empfindung in arithmetischem Verhältnis sich verstärke, kürzer: Die Intensität der Empfindung ist gleich dem Logarithmus der Stärke des Reizes. Mit großem Interesse und Fleiß habe ich mich mit der neuen Wissenschaft beschäftigt, auch eine Ableitung der logarithmischen Formel auf algebraischem Wege gegeben, während Fechner die Ableitung durch Differentialrechnung durchführte, die nicht allen zugänglich ist. Bald unterwarf Fechner auch rein psychische Tätigkeiten dem Experiment und erhob so die Psychophysik zu der »experimentellen Psychologie«. An Widersprüchen von seiten der Psychologen fehlte es nicht, gegen welche ich ihn verteidigte. Fechner konnte sie allgemein zurückweisen durch den Hinweis auf den Turmbau zu Babel: Seine Gegner widersprechen sich gegenseitig. Das trifft teilweise auch jetzt zu: Die Resultate und Deutungen gehen noch vielfach auseinander.

Im Jahre 1905 habe ich die bis dahin angestellten experimentellen Untersuchungen und Resultate in einem größeren Werke »Psychophysik« mitgeteilt. Einen breiten Raum nimmt darin die Kritik der Weltauffassung Fechners ein. Er überträgt das Verhältnis von Leib und Seele auf das Universum und muß so das göttliche Wesen pantheistisch fassen. In einer Erwiderung gab er mir mathematische und physikalische Kenntnisse zu, verwarf aber mein »System« und die von mir behaupteten unbewußten Seelentätigkeiten, die wohl in mein System passen möchten. Nicht zuliebe eines Systems habe ich sie aufgestellt, sondern weil ich sie als Tatsache in mir vorfinde. Beim Sprechen und Singen setze ich die zu den verschiedenen Tönen notwendigen Muskeln in Tätigkeit, ohne auch nur die geringste Kenntnis von ihnen zu haben. Die Klangfarbe eines Tones hängt von den Obertönen ab.

Jahrtausendelang haben die Menschen die Klangfarbe und damit die Obertöne gehört, ohne irgendwelche Kenntnis von ihnen zu haben. Seitdem ist das »Unbewußte« Gemeingut der Psychologen geworden, in dem »Unterbewußtsein« muß es herhalten, um die außerordentlichen Phänomene des Fernsehens, Fernwirkens usw. zu erklären. S.68ff.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt. Verlag von Felix Meiner 1923


Der Optimismus
Im geraden Gegensatz zum Pessimismus behauptet Leibniz, dass diese Welt die beste sei. Er wurde zu einer so absonderlichen, den offenbarsten Tatsachen widersprechenden Meinung durch seine falsche Anschauung von der Willensfreiheit verleitet. Wenn nämlich der freie Wille, wie er glaubt, immer das größere Gut wählen muß, so hat Gott aus allen möglichen Welten die beste ausgewählt. Diese optimistische Weltanschauung fällt auch mit der Klarstellung des Wesens der Willensfreiheit überhaupt, wovon in der Psychologie. Hier kann noch speziell bemerkt werden, dass der Leibnizsche Optimismus auch alle Kontingenz in der Welt beseitigt und so in seinen Konsequenzen mit dem Determinismus und Fatalismus zusammenfällt.

Denn da nach den Leibnizschen Prinzipien der hinreichende Grund, warum Eines vor dem Andern ausgewählt wird, in diesem selbst liegen muss, und also das Gewählte weder ein kleineres noch ein ebenso großes Gut sein kann, als da Nichtgewollte, so hat Gott darum die Erschaffung der Welt der Nichterschaffung vorgezogen, weil Ersteres besser ist als Letzteres. Wenn aber dies, dann konnte er die Nichterschaffung nicht wollen: die Schöpfung ist notwendig. Aus gleichem Grunde hat er diese Welt mit diesen Wesen und diesem Verlaufe gewählt, weil Alles dieses besser ist, als das kontradiktorische Gegenteil. So konnte er aber nicht Dieses, sondern musste bestimmt diese Weltdinge und diesen Weltlauf wollen. Darum ist die ganze Welt und das Geschehen in ihr notwendig so angeordnet, wie sie ist und konnte nicht anders angeordnet sein; d. h. Alles in der Welt erfolgt mit unabänderlicher Notwendigkeit. Also führt der Optimismus konsequent zum Fatalismus.

Gott musste nicht nur nicht, sondern konnte nicht einmal die beste Welt erschaffen. Denn die beste d. h. die vollkommenste wäre die, in der alle möglichen Wesen in allen möglichen Gattungen und Arten, in allen möglichen Mengen existierten. Nun können aber nicht alle Möglichkeiten gleichzeitig verwirklicht werden; denn z. B. die entgegengesetzten Zustände können nicht gleichzeitig Wirklichkeit gewinnen.

Leibniz verlangt in seiner optimistischen Welt- und Naturauffassung, dass alle Stufen der Vollkommenheit realisiert, dass alle leeren Räume ausgefüllt seien. Zwischen den abgestuften Monaden besteht immer nur ein unendlich kleiner Unterschied in der Vollkommenheit, sie stehen räumlich nur unendlich wenig von einander ab.

Aber wenn alle Räume erfüllt sind, dann ist Bewegung in der Welt nicht mehr möglich.


Alle existierenden Wesen sind einander entweder gleich, oder sind durch einen endlichen Vollkommenkeitsgrad unterschieden. Das unendlich Kleine kann nicht existieren; es gehört der idealen Ordnung an.

Wenn die Abstufung der Weltwesen auch im allgemeinen eine stetige ist, es gibt darin doch so stark markierte Sprünge, dass nicht ein endlicher sondern ein unendlich weiter, ein wesentlicher Unterschied zwischen den Gliedern diesseits und jenseits der Übergangsstelle besteht. Die lebenden Organismen unterscheiden sich wesentlich, nicht bloß graduell, von den Mineralien, die Tiere wesentlich von den Pflanzen, der Mensch wesentlich von den Tieren. Der Abstand schließlich des Unendlichen selbst von dem höchsten Endlichen ist recht eigentlich ein unendlicher.

Es musste Gott als aus allen möglichen Welten eine von bestimmter Vollkommenheit frei auswählen, und die frei ausgewählte kann allerdings in mannigfacher Beziehung die beste genannt werden.

a. Weil sie auf den höchsten und edelsten Zweck, für den nur ein Wesen bestimmt sein kann, gerichtet ist, auf Gottes unendliche Vollkommenheit. Wenn sie nun auch nur in einem bestimmten endlichen Grade Gottes Ehre verkündet, so ist sie doch

b. zur Erreichung dieses von Gott fixierten Grades auf das beste eingerichtet und erreicht denselben mit absolut fehlerloser Genauigkeit. Denn der Weise muss die besten Mittel zur Erreichung seiner Ziele anwenden. Und wenn vielleicht in Anbetracht der unergründlichen Macht und Weisheit des Schöpfers noch viele andere Welteinrichtungen denkbar sind, welche Gott in gleichem Grade wie die gegenwärtige verherrlichen würden, so gibt es doch keine bessere zu diesem bestimmten Zwecke als die gegenwärtige. Dieselbe ist ein so harmonisches, zweckmäßiges Ganze, dass demselben nichts hinzugefügt, von demselben nichts Wesentliches weggenommen werden kann.

c. Der hl. Thomas fügt hinzu: Gott konnte die Welt nicht besser machen in dem Sinne, dass er sie nicht auf bessere Weise machen konnte; denn die Erschaffung der Welt ist der Ausfluss der höchsten Macht, Weisheit und Güte.

Manche fügen noch bei, dass die Welt auch in diesem Sinne die beste sei, als in ihr alle möglichen Wesen nach Gattungen und Arten vertreten seien. Wenn diese Auffassung nun auch von einer »besten Welt« noch gar weit entfernt ist, da über der höchsten Gattung der Geister bis zu Gott hinauf noch eine ganze Unendlichkeit sich erhebt und eine neue Unendlichkeit sich zwischen dem niedrigsten Wesen und dem Nichts auftut, ja zwischen allen existierenden Gattungen und Arten Unendlichkeiten von Gattungen und Arten liegen können, so zeigen doch solche mit leidenschaftslosem Auge angestellten Betrachtungen, wie durchaus unsinnig und verlogen der Pessimismus die Welt auffasst; je genauer wir die ganze Welt studieren und von dem allein wahren theistischen Standpunkte aus erklären, um so mehr werden auch wir, wie der Herr angesichts der neuen Schöpfung sagen müssen, »dass Alles sehr gut ist«. S.276ff.
Aus: Die Theodicee von Dr. Constantin Gutberlet, Münster 1897. Druck und Verlag der Theissing`schen Buchhandlung