Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799 – 1837 Duell)

  Russischer Dichter, der als der eigentliche Begründer der russischen Literatursprache gilt, in der kirchenslawische Sprachelemente mit der russischen Volkssprache verschmolzen werden. Seine Lyrik mit ihrem Reichtum an klanglichen und rhythmischen Formen, die gleichzeitig mit Klarheit des Ausdrucks und Verhaltenheit des Gefühls verbunden sind, ist unübertroffenes Vorbild der russischen Poesie. Aus diesem Grunde wird er von vielen als der größte russische Dichter betrachtet. Als Verfasser einiger kritischer politischer und satirischer Gedichte war Puschkin der persönlichen Zensur des Zaren Nikolaus’ I. unterstellt. Intrigen und Angriffe auf die Ehre seiner Frau Natalja Gontscharowa, mit der er seit 1831 verheiratet war, verwickelten ihn in ein Duell mit den französischen Emigranten George-Charles de Heeckeren d’Anthès, an dessen Folgen er zwei Tage danach starb. Über seinen Tod hat Michael Lermontow, der ihn sehr verehrte und nur vier Jahre später selbst in einem Duell zu Tode kam, das zu Herzen gehendes Gedicht »Der Tod des Dichters« verfasst.

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Inhaltsverzeichnis

Der Dämon
Der Prophet
  Der Engel
Die Madonna
 

Der Dämon
In jenen Tagen, als mir neu waren
alle Eindrücke des Daseins —
die Blicke der Mädchen, das Rauschen des Hains,
nachts das Singen der Nachtigall —,
als erhabene Gefühle,
Freiheit, Ruhm und Liebe
und die inspirierenden Künste
das Blut so stark erregten,
die Stunden der Hoffnungen und Wonnen
durch plötzliche Trauer überschattend —
damals begann mich ein böser Genius
heimlich zu besuchen.
Traurig waren unsere Begegnungen:
Sein Lächeln, der seltsame Blick,
seine verletzenden Worte
träufelten kaltes Gift in meine Seele.
Durch ständige Verleumdung
stellte er die Vorsehung auf die Probe;
er nannte das Schöne Einbildung;
er verachtete die Inspiration;
er traute nicht der Liebe, nicht der Freiheit;
spöttisch betrachtete er das Leben —
und nichts in der ganzen Natur
wollte er gutheißen.
S.37

Der Prophet
Von geistigem Durst gequält,
schleppte ich mich in der finsteren Wüste dahin,
und ein sechsflügeliger Seraph
erschien mir auf dem Kreuzweg;
mit Fingern leicht wie der Schlaf
berührte er meine Pupillen:
Es öffneten sich die erleuchteten Augensterne
wie bei einer erschrockenen Adlerin.
Er berührte meine Ohren,
und Lärm und Klang erfüllte sie:
Ich vernahm das Erzittern des Himmels
und den Himmelsflug der Engel,
die Bewegung der Meeresungeheuer unter Wasser
und das Wachsen der Rebe im Tal.
Und er hat sich zu meinem Mund herabgeneigt
und meine sündige Zunge herausgerissen,
schwatzhaft und hinterlistig,
und die Zunge der weisen Schlange
hat er mit blutiger Hand
in meinen erstarrenden Mund gelegt.
Und er hat mir die Brust mit dem Schwert gespalten,
das zuckende Herz herausgenommen
und eine feuerglühende Kohle
in meine geöffnete Brust gelegt.
Wie ein Leichnam lag ich in der Wüste,
und Gottes Stimme rief mich an:
»Erhebe dich, Prophet, und sieh, und vernimm,
erfülle dich mit meinem Willen,
und Länder und Meere durchwandernd,
entzünde mit dem Wort die Herzen der Menschen.«
S.57

Der Engel
Mit geneigtem Haupt stand in seinem Glanz
ein sanfter Engel an der Himmelspforte,
über dem Höllenschlund aber flog
der finstere und rebellische Dämon dahin.

Der Geist der Verneinung, der Geist des Zweifels
blickte auf den Geist des Reinen,
und zum ersten Mal fühlte er
unwillkürlich heiße Rührung.

»Leb wohl«, sprach er, »ich habe dich gesehen,
und nicht umsonst hast du mir geleuchtet:
nicht alles am Himmel habe ich gehaßt,
nicht alles auf der Welt habe ich verachtet.
S.67

Die Madonna
Nicht mit einer Vielzahl von Bildern alter Meister
wünschte ich je, meine Behausung zu schmücken,
damit der Besucher abergläubisch über sie erstaune,
wenn er das gewichtige Urteil der Kenner vernimmt.

In meinem einfachen Winkel, bei meinen gemächlichen Arbeiten,
wünschte ich mir, auf ewig der Betrachter eines Bildes zu sein,
eines einzigen: daß von der Leinwand, wie von den Wolken,
die heilige Jungfrau und unser göttlicher Erlöser —

Sie mit dem Ausdruck von Erhabenheit, Er mit dem Ausdruck der Vernunft im Blick —
auf mich herabsähen, sanftmütig, in ihrer Herrlichkeit und Glorie,
allein, ohne Engel, unter der Palme Zions.

Meine Wünsche haben sich erfüllt. Der Schöpfer
hat dich zu mir herabgesandt, dich, meine Madonna,
reinster Anmut reinstes Muster.
S.93
Aus: Alexander Puschkin, Gedichte, Russisch/Deutsch Übersetzt von Kay Borowsky und Rudolf Pollach. Anmerkungen von Kay Borowsky. Nachwort von Johanna Renate Döring-Smirnov
Reclams Universalbibliothek Nr. 3731. © 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages