Juliana von Norwich (ca. 1342 – nach 1412)

  Englische Einsiedlerin und Mystikerin. Juliana berichtete von sechzehn Visionen, die sie während einer schweren Krankheit hatte, in der sie mit dem Tode rang. Von der Forschung werden sechs davon als bildhafte (imaginativ) Erlebnisse und die anderen als bildlose intellektuelle Eindrücke rein geistiger Natur gedeutet. Der Inhalt ihrer geistigen Gesichte, die ihr vom Herrn selbst gezeigt werden, dreht sich insbesondere um das Wesen der Liebe Gottes und sein Verhältnis zum Geschaffenen, zur menschlichen Seele, zur »Mutterschaft Gottes« in der Dreifaltigkeit und dem Leiden Christi.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Gott allein, Gott in allem, Dreifaltigkeit, Gott und die Seele, Göttlicher Friede, Suchen und Finden, Beten und Schauen,


Gott allein
Unser Herr zeigte mir ein geistiges Gesicht von seiner trauten Liebe. Ich sah, daß Er uns alles ist, was uns gut ist und uns förderlich. Er ist unser Kleid, das uns wohlig umhüllt und umwickelt und umwallt und umschließt aus zarter Liebe, so dass Er nimmer uns verlassen mag. Und ich sah in diesem Schauen, dass er alles ist, was gut ist, soweit ich es verstehen kann.

Und er zeigte mir einen kleinen Gegenstand, so groß wie eine Haselnuss auf meiner flachen Hand, wie es mir vorkam, und rund wie ein Ball. Und ich schaute es mit den Augen meines Geistes und dachte: Was mag es sein? Und es ward mir eine allgemeine Antwort:
»Das ist das geschaffene All«.
Ich wunderte mich, wie es bestehen könne: Denn für mein Denken mochte es sogleich in nichts vergangen sein, so klein war es.

Und es ward mir geantwortet in meinem Geiste
: »Es bleibt, und soll immer bleiben. Denn Gott liebt es. Und so hat alles Sein durch Gottes Liebe«.

An diesem kleinen Ding sah ich drei Eigenschaften:
Zum ersten, daß es Gott geschaffen, zum zweiten, daß Gott es liebt, zum dritten, daß Gott es erhält. Was also sah ich darin? – Wahrhaft den Schöpfer, den Erhalter, den Liebenden . . .

Dies kleine Ding, das geschaffen ist – mich dünkte, es müßte zu nichts vergangen sein, weil es so klein ist . . . Ach, wir suchen Ruhe in etwas so Kleinem, worin Ruhe nicht ist! Und kennen nicht unseren Gott, den Allmächtigen, Allweisen, Allguten – die wahre Ruhe.

Gott will, dass wir ihn kennen. Erliebt es, daß wir in ihm ruhen. Denn alles, was unter ihm ist, genügt uns nicht.

Gott in Allem
Danach sah ich Gott in einem Punkt – ich rede nach meinem Verstehen. Und in diesem Gesichte sah ich, daß Er in allen Dingen ist. Und ich sah mir Aufmerksamkeit, und ich sah und erkannte in diesem Gesicht, daß er alles wirkt, was da geschieht.

Und ich verwunderte mich in diesem Gesichte mit sanftem Schrecken und dachte bei mir: Was ist dann Sünde? Denn ich sah wahrhaft, daß Gott alles wirkt, es sei noch so klein. Und ich sah wahrlich, daß nichts durch Zufall geschieht oder aufs Geradewohl, sondern alles nach Gottes Weisheit. Und wenn es Zufall ist und aufs Geradewohl in den Augen der Menschen, so ist daran schuld unsere Blindheit und Kurzsichtigkeit . . .

Darum kann ich nur sagen: Alles, was geschieht ist wohlgetan. Denn Gott unser Herr tut alles. Und in all der Zeit ward mir keine Wirken der Kreatur sichtbar, sondern das Wirken Gottes des Herrn in den Kreaturen. Denn Er ist inmitten von allen Dingen, und alles wirkt Er – und Er tut gewiß keine Sünde.

So sah ich in Wahrheit, daß Sünde nicht eine Wirklichkeit ist. Denn in all dem war Sünde nicht sichtbar . . . Menschen halten diese Taten für gut und jene für böse. Unser Herr aber sieht es anders. Denn wie alles, was überhaupt Sein hat, aus Gottes Schöpferhand ist, so gehört alles, was geschieht, eigentlich Gottes Tun an.

Es ist leicht zu verstehen, daß das Beste gut getan ist. So wahrlich aber die höchste und beste Tat gut getan ist, so wahrlich ist’s auch die mindeste, und alles in der Eigenschaft und Ordnung, die unser Herr ihm zugewiesen hat von anfangloser Ewigkeit. Denn es ist kein Wirkender als Er . . .
Darum hat die selige Dreieinigkeit ein stetes Wohlgefallen an all ihren Werken.


All das hat mir Gott gezeigt auf selige Weise, da Er mir offenbarte: »Siehe, ich bin Gott. Siehe, ich bin in allem. Siehe, ich wirke alles. Siehe, ich zog niemals meine Hand zurück von meinen Werken und werde es in Ewigkeit nicht tun. Siehe, ich lenke alles zu dem Ziele, zu dem ich es bestimmt habe von anfangloser Ewigkeit – lenke es mit derselben Macht, Weisheit, Liebe, mit der ich es geschaffen habe, Wie könnte etwas verloren sein«?

Gottes Wort wird recht behalten in allen Dingen. Nun ist ein Punkt unseres Glaubens, daß viele Geschöpfe werden verdammt werden. Wie die Engel, die ihres Stolzes wegen aus dem Himmel stürzten und nun Feinde sind, so noch viele auf der Welt, die außerhalb des Glaubens der heiligen Kirche sterben, d. i. die Heiden sind oder die christliche Religion empfangen haben, aber ein unchristliches Leben führen und außerhalb der Liebe sterben. All diese werden zur Hölle verdammt sein ohne Ende, wie die heilige Kirche mich glauben lehrt.

Wenn dem so ist, wie kann da alles und jedes gut sein, wie doch der Herr mir gezeigt hat? Darauf hatte ich nur eine Antwort, indem mir vom Herrn gezeigt ward:
»Was unmöglich ist für dich, ist nicht unmöglich für mich! Ich werde mein Wort wahr machen in allem und ich werde alles gut machen«.

So ward ich durch Gottes Huld unterwiesen, dass ich mich fest an den Glauben halten solle, wie ich es früher verstanden, d. i. daß ich feststehen und ernstlich glauben solle, daß alles und jedes gut sein werde, wie unser Herr es mir zeigte. Des Herrn Gottes Walten ist es, der es vollbringen wird, und mit diesem seinem Walten wird er wahr machen sein Wort in allem und wird gut machen alles, was nicht gut ist. Welches aber sein Walten sei und wie es werde verwirklicht werden, das weiß keine Kreatur unter Christus, und wird es nicht wissen, bis es geschehen.

»Ich will gut machen alles, was es nicht ist« - so hat mich der Herr belehrt. Er gab mir damit zwei Seiten zu verstehen:

Auf der einen ist es unser Heiland und unser ewiges Heil. Diese Seite, die glückliche, gleicht einer offenen lichten Landschaft, so schön und rein und üppigen Lebens voll. Alle Menschen, die guten Willens sind und es je sein werden, sind einbegriffen in dieser Seite. Hierzu sind wir bestimmt von Gott und gezogen und beraten und innerlich unterwiesen durch den Heiligen Geist und äußerlich durch die heilige Kirche durch ein und dieselbe Gnade. Und hiermit sollen wir nach dem Willen des Herrn und befassen und sollen uns freuen in Ihm; denn auch Er freut sich in uns. Und je mehr wir davon aufnehmen in Ehrfurcht und Demut, desto mehr Wohlgefallen bringt es uns ein bei Ihm und Förderung für uns selbst. Und so mögen wir unseren Anteil erkennen im Herrn und uns freuen in Ihm.

Die andere Seit ist verborgen und uns in Dunkel gehüllt. Das ist alles, was nicht zu unserem Heil ist. Es ist das Geheimnis des Herrn. Es ist Sache seiner königlichen Majestät, seien eigenen Ratschluß zu haben in göttlicher Ruhe. Seine Diener aber sollen in Gehorsam und Ehrfurcht darauf verzichten, seinen Ratschluß zu wissen . . . Ich bin gewiß, wenn wir wüßten, wie sehr wir Ihm wohlgefallen und uns selber erleichtern würden, wenn wir es Ihm anheimstellen wollten, wir würden es tun. Die Heiligen im Himmel wollen nichts wissen, als was der Her ihnen zeigt. Ihre Lieb und Sehnsucht ist geordnet nach dem Willen des Herrn. So sollten auch wir es halten, daß unser Wille dem seinen gleichförmig sei. Dann werden wir nichts wünschen und wollen als nur den Willen des Herrn, wie jene es tun. Denn wir sind allemal eins in Gott.

So lernte ich, dass ich allein mich freuen soll in unserem göttlichen Erlöser Jesus, und Ihm vertrauen für alles.

Ich wünschte einmal von einem Menschen, den ich lieb hatte, zu wissen, ob er beharren würde auf dem guten Wege, den er, ich hoffe es, durch Gottes Gnade begonnen hat. In diesem sonderlichen Verlangen ließ ich mich gehen, denn ich wußte es damals nicht besser. Da ward mir, gleichsam auf freundlichem Wege, in meiner Vernunft die Antwort:


»Nimm es im allgemeinen und schaue auf die Güte des Herrn. Wie dir gesagt worden ist Denn mehr Gottesverehrung ist darin, Ihn in allem zu sehen als in irgend einem Besonderem«!

Dem mußte ich beistimmen und ich erkannte, daß eine größere Huldigung darin liegt für Gott, sich zu begnügen mit einem allgemeinen Wissen, als auf etwas Besonderes erpicht zu sein. Würde ich weise handeln nach dieser Erkenntnis, so würde ich um nichts im besonderen fröhlich sein, noch sonderlich mißvergnügt über irgendein ding. Denn »alles wird gut sein«.

Fülle der Freude ist es, Gott in allem zu finden. Denn durch dieselbige selige Macht und Weisheit und Liebe, mit der Er alles geschaffen, lenkt unser guter Herr auch immerfort alles zum gleichen Ziele und wird es hinführen zu sich und wenn es Zeit ist, werden wir es schauen.


Dreifaltigkeit
Ich hörte ein süßes Wort:»Ich bin es«!

»Ich bin es, die Macht und die Güte der Vaterschaft,
Ich bin es, die Weisheit und innige Menschenliebe der Mutterschaft,
Ich bin es, das Licht und die Gnade, das ist die allheilige Liebe.
Ich bin die Dreifaltigkeit, ich bin die Einheit; ich bin es, die hocherhabene Güte in allen Dingen.
Ich bin es, der dich sehen macht, ich bin aller wahrhaften Sehnsüchte endloses Gut«. -
-

Ich sah das Wirken der ganzen Heiligen Dreifaltigkeit. In diesem Schauen sah und erkannte ich diese drei Eigenschaften: Vaterschaft, Mutterschaft, Herrschaft, im einen Gott.

In dem allmächtigen Vater haben wir unser Sein und unsere Seligkeit, haben unser gutes Wesen und unsere vorbestimmte Form. Und in der zweiten Person haben wir unser Sein, in Gottes Wissen und Weisheit, haben von ihm unser leibliches Wesen und unsere Wiederherstellung und das Heil:
Er ist uns Mutter, Bruder und Heiland. Und in unserem guten Herrn, dem Heiligen Geiste, haben wir unser Verdienen und liebreiche Nachsicht für unser Leben und Tun und überströmende, endlose Erfüllung all unseres Sehnens in seiner wunderbaren Menschenfreundlichkeit, aus seiner Gnaden Fülle.

In unserem Vater also, dem allmächtigen Gott, unser Sein, in unserer Mutter der Erbarmung, Jesus Christus, unsere Wiederherstellung und Erneuerung, so dass in ihm eins wird unsere Vielheit zum vollkommenen Menschen; und durch des Heiligen Geistes Gnadengeschenk unsere Vollendung.


So ist unser Wesen in unserem Vater-Gott, dem Allmächtigen. Und ist unser Wesen in unserem Mutter-Gott, dem Allweisen, und ist unser Wesen in unserem Herr-Gott, dem Heiligen Geist, der Allgüte – unser Wesen ganz in jeder Person der Heiligen Dreifaltigkeit, die ist ein einiger Gott.

Unser Geist gründet in Gott, der wesenhaft Güte ist. Von dieser wesenhaften Güte entspringt in uns und strömet Erbarmen und Gnade, die alles wirkt und unsere Freude vollendet.

Das sind die Grundlagen, in denen wir unser Sein, unser Wachstum und unsere Vollendung haben. Denn all unser Leben umfasst diese drei: fürs erste das Sein, fürs zweite das Wachstum, fürs dritte die Vollendung. Das erste ist Güte, das zweite Barmherzigkeit, das dritte Gnade
.

In Güte, da haben wir unser Leben und Sein. Und in Barmherzigkeit und Gnade, da haben wir unser Wachstum und unsere Vollendung. Drei Eigenschaften sind es der einen Gutheit. Wo eine wirkt, da wirken alle für uns. Die sind es, die wir verstehen sollen nach Gottes Willen, danach verlangend aus ganzem Herzen und mit all unseren Kräften, um sie mehr und mehr zu erkennen bis zu der Zeit, da wir vollendet sein werden.
Sie völlig zu erkennen und klar zu schauen, das heißt nichts anderes als ewig glückselig zu sein. Im Himmel soll es uns werden. Aber nach Gottes Willen sollen wir hier den Anfang damit machen, seine Liebe zu kennen.

Dies ist unseres Lebens Ziel: zu lieben unseren Gott, in dem wir alle unser Sein haben, in Ehrfurcht ihm dankend und rühmend den Schöpfer, und mächtig preisend ihn, der Erbarmung und Güte Mutter, und unseren Herrn, den Heiligen Geist, für seine Hilfe und Gnade.

Denn in diesen drei ist all unser Leben: Güte, Barmherzigkeit, Gnade.

Gott und die Seele
Es ist kein geschaffenes Wesen, das zu wissen imstande wäre, wie stark, wie süß, wie zart unser Schöpfer uns liebt. Darum sollen wir mit seiner Gnade und Hilfe in einem immerwährenden Staunen stehen des geistigen Schauens in dieser hohen, unaussprechlichen, grenzenlosen Liebe, die unser Herr zu uns trägt gemäß seiner Güte.

Wir sollen wissen, daß das Edelste, was Gott je geschaffen, der Mensch ist. Und das reichste Wesen und der Tugend Hochbild ist die gebenedeite Seele Christi. Alle die Seelen, die gerettet werden im Himmel ewiglich, sind geschlungen in diesen Knoten und geeint in dieser Einheit und geheiligt in dieser Heiligkeit. Bei der großen unendlichen Liebe, die Gott zu allen Menschen hat, soll keine Scheidung sein in Liebe zwischen der hochheiligen Seele Christi und der letzten Seele, die soll gerettet werden.

Wo die heilige Seele Christi ist, da ist das Wesen aller der Seelen, die sollen gerettet werden durch Christus.

Süßer Schauer der Freude ist es, daß Gott in unseren Seelen wohnt. Süßer noch ist der heilige Schauer, daß unsere Seele wohnt in Gott. Sie ist geschaffen, Gottes Wohnstatt zu sein, und die
Wohnstatt unserer Seele hinwieder ist Gott, der Ungeschaffene.

Es ist eine hohe Weisheit, innerlich zu sehen und zu wissen, daß Gott, unser Schöpfer, in unserer Seele wohnt. Höher noch ist die Weisheit und innerlicher, wenn wir wissen und sehen, daß unsere Seele, das geschaffene Wesen, wesenhaft wohnt in Gott.

Von diesem Wesen, durch Gott, sind wir auch, was wir sind.

Ich sah keine Scheidung zwischen Gott und unserem Wesen, sondern als wäre alles Gott. Und doch verstand ich wohl, daß unser Wesen in Gott ist, daß Gott Gott ist und unser Wesen Gottes Geschöpf...

Dies ist die rechte Weisheit und wahrhafter Glaube und sichere Kraft unseres Seins, zu wissen, daß wir in Gott sind und er in uns, der da unsichtbar ist. Und diese Glaubenskraft mit allem andern, was Gott uns schenkt, wirkt große Dinge in uns. Da wirkt Christus in uns voll Gnade und wir sind ihm lieblich geeint durch die Gnadengabe des Heiligen Geistes, und von diesem Wirken Christi ist es, daß wir Kinder Christi sind, Christen in unserem Leben.

Gott ist uns näher denn unsere eigene Seele. Er ist der Grund, darin die Seele gründet. Er ist das Bindeglied, das zusammenhält unser Wesen und unser physisches Sein, so daß sie niemals zu trennen sind. In Gott ruht unsere Seele in wahrer Ruhe. In Gott steht unsere Seele in sicherer Kraft. In Gott ist unsere Seele innig verwurzelt in ewiger Liebe.


Göttlicher Friede
Gottes Gegenwart in allen Dingen ist es, die eine wunderbare Sicherheit in gläubigem Vertrauen wirkt und eine sichere Hoffnung angesichts seiner großen Liebe, bei aller Furcht, die süß und wonnig ist. Es ist Gottes Wille, daß ich mich ihm in Liebe so verbunden sehe, als hätte er für mich allein getan, was er getan. Und so soll jede Seele denken von seiner Liebe . . . Nichts sollen wir fürchten als ihn. Wir sollen wissen, daß alle Macht der Feinde eingeschlossen ist in der Hand unserer Freunde. Die Seele, die dies weiß, fürchtet nichts als ihn allein, den sie liebt. Alle andere Furcht sieht sie für ungeregelte Schwäche an und für leibliche Krankheit und Einbildung.

Mögen wir deshalb noch so viel Pein und Weh und Unbehagen haben, daß es uns vorkommt, wir seien keines Gedankens mehr fähig als nur, daß wir mitten darin sind im Leiden und es verkosten — wir können dennoch leicht darüber hinweggehen und es für nichts achten. Warum? Wir sollen Gott erkennen, und wenn wir ihn erkennen und lieben und in Ehrfurcht ihn fürchten, so werden wir Geduld haben und in großem Frieden sein. Und alles, was er tut, wird uns lieb sein aus ganzem Herzen.


Solches offenbarte mir der Herr mit den Worten: »Was könnte dir denn zu tragen peinlich sein für eine Weile, wo du doch siehst, daß es mein Wille ist und meine Verherrlichung?«— Und wiederum: »Klage dich nicht selber an, als ob deine Trübsal und dein Weh ganz deine Schuld sei! Denn ich will nicht, daß du gedrückt und über die Maßen traurig seist. Ich sage dir, du magst es halten wie immer, du wirst immer zu leiden haben. Darum will ich, daß du weise die Buße erkennest, die du in dir selber hast, und da
ss du dein Leiden in Demut auf dich nehmest zur Buße! Dann wirst du recht einsehen, dass dieses ganze Leben eine Prüfung zum Heil ist!«

Unser Ort ist Gefängnis, unser Leben Buße. Um Heilung zu schaffen nach seinem Willen, sollen wir fröhlich sein. Denn wir haben ein Mittel des Heils: daß unser Herr bei uns ist und uns behütet und heimführt zur Fülle der Freude.


Suchen und Finden
Einst wünschte ich mehr Licht, um klarer zu schauen. Und es ward mir geantwortet in meiner Vernunft: »Wenn Gott dir mehr zeigen will, wird es dir Licht sein. Du bedarfst keines Dinges als nur seiner«.

So sah ich ihn denn und suchte ihn. Denn wir sind jetzt so blind und unweise, daß wir Gott nicht suchen können bis zur Stunde, da er in seiner Güte sich uns zu erkennen gibt. Und wenn wir durch seine Gnade etwas von ihm erkennen, so spornt uns die gleiche Gnade, daß wir suchen mit großem Verlangen, um ihn zu schauen zu größerer Seligkeit.

So sah ich ihn denn und suchte ihn. Ich hatte ihn und entbehrte ihn. Das ist und wird immer bleiben, so glaube ich, unser tägliches Werk in diesem Leben.

Das allerunmöglichste ist: Gnade suchen und Barmherzigkeit, ohne sie schon zu haben. Denn alles, was unser guter Herr uns suchen läßt, hat er uns zugedacht von Ewigkeit. Daraus mögen wir sehen, daß unser Suchen nicht Ursache ist der Gnade und Huld, die Gott uns erweist, sondern allein seine Güte.


Die Klarheit des Findens ist von seiner Gnade, wenn es ihm gefällt. Das Suchen in Glaube, Hoffnung Liebe gefällt unserem Herrn, wie das Finden der Seele gefällt und sie mit Freude erfüllt.

So erkannte ich zu meiner Belehrung, dass Suchen ebenso gut ist wie Schauen, solange es ihm gefällt, die Seele in Mühen zu lassen. Es ist Gottes Wille, daß wir suchen, um zum Schauen zu gelangen, und er wird sich offenbaren nach seiner Güte, wenn er will.

In dem Maße, wie die Seele zum Schauen gelangt, wird er selbst sie belehren. Und das ist die höchste Verehrung Gottes und der höchste Gewinn für die Seele, ihr größter Fortschritt in Demut und aller Tugend: die Gnade und Führung des Heiligen Geistes.

Eine Seele, die Gott allein sich ergibt mit wahrem Glauben, sei es im Suchen oder im Schauen, die übt die adeligste Gottesverehrung, deren der Mensch fähig ist.


Beten und Schauen
Durch Gebet wird die Seele eins mit Gott. Unser Herr sprach zu mir: »Bete von ganzem Herzen, innerlich, auch wenn es nicht recht dir schmecken will! Es ist nützlich genug, auch wenn du es gar nicht fühlst. Bete von ganzem Herzen, innerlich, auch wenn du nichts fühlst und nichts siehst und obschon du meinst, du könntest es nicht! Denn in Trockenheit und Leere, in Krankheit und Schwäche gefällt mir gar wohl dein Gebet, obschon du meinst, du habest gar nichts davon. All dein lebendiges Beten liegt vor meinen Augen«.

In der Tat, wenn wir nicht sehen, fühlen wir Not und Ursache, zu Jesus zu beten, weil wir schwach sind und unfähig in uns selber ... Doch wenn unser liebreicher Herr aus besonderer Gnade sich unserer Seele zeigt, so haben wir, was wir ersehnen. Dann sehen wir gar nicht mehr, was wir weiter erbitten könnten. All unser Geist mit ganzer Kraft ist darauf gerichtet, ihn anzuschauen.

Das ist, wie ich glaube, ein hohes, undurchdringliches Beten. Denn der ganze Grund unseres Betens ist, eins zu werden in Sehen und Schauen mit ihm, uns freuend in ihm ehrfürchtigen Schauerns und großer Süße und Wonne, so daß wir um nichts anderes bitten mögen, als was er uns eingibt zu dieser Zeit.

Solange wir eine Not spüren, wofür wir bitten, folgt uns der Herr, indem er unserer Sehnsucht hilft. Wenn wir aber durch seine besondere Gnade ihn klar schauen dürfen und nichts mehr fühlen von unseren Nöten, dann folgen wir ihm, und
er zieht uns an sich in Liebe.

Denn ich sah, dass seine wunderbare, überströmende Güte all unsere Kräfte erfüllt, und ich sah sein beständiges Wirken in allen Dingen, so göttlich, so weise, so mächtig, dass es all unsere Vorstellung überragt und alles, was wir davon meinen oder denken können. Bei solcher Erkenntnis können wir nichts anderes, denn ihn anschauen und uns erfreuen mit hoher, inniger Sehnsucht, daß wir allesamt eins sein möchten in ihm und seine Regung verspüren und uns freuen möchten in seiner Liebe und selig seien in seiner Güte.

So sollen wir denn mit seiner süßen Gnade durch unser demütiges, beharrliches Beten eins mit ihm werden, schon jetzt in diesem Leben durch mancherlei innere Führung seiner geistlichen Schauungen und Empfindungen, die er uns zumißt, je nachdem unsere Einfalt es tragen kann. Und so geschieht es und soll geschehen durch die Gnade des Heiligen Geistes, bis wir sterben werden vor Sehnsucht in seiner Liebe. Dann werden wir alle eingehen zum Herrn
, klar erkennend uns selbst und vollkommen Gott besitzend, und werden ewig geborgen sein in Gott, nun endlich wahrhaft ihn schauend und vollkommen erspürend in geistigem Hören und wonnigem Schmecken, werden ihn schauen von Angesicht zu Angesicht, einfältig und vollkommen. Die geschaffene Kreatur wird schauen und endlos betrachten Gott, ihren Schöpfer.

Hienieden kann keiner Gott schauen und hernach leben in diesem sterblichen Leben. Wenn Gott aus besonderer Gnade hienieden sich zeigen will, gibt er dem Geschöpf eine Kraft, sich über sich selbst zu erheben, und bemißt das Schauen nach seinem Willen, und so mag es nützlich sein
Wahrheit sieht Gott, Weisheit betrachtet ihn, und als drittes gesellt sich hinzu die wunderbare Freude in Gott, die Liebe
. Wo Wahrheit und Weisheit, da sprießt auch Liebe aus ihnen beiden wahrhaftig — und alles aus Gottes Wirken. Denn Gott ist unendliche, höchste Wahrheit, unendliche, höchste Weisheit, unendliche, höchste, ungeschaffene Liebe. Des Menschen Seele, Geschöpf in Gott, hat die gleichen Eigenschaften geschöpflich. Sie wächst allmählich in ihren wahren Beruf hinein: Gott zu schauen, Gott zu betrachten, Gott zu lieben.

Darum hat Gott Wohlgefallen an seinem Geschöpf und dieses an Gott in endlosen Staunen, und in diesem Staunen erschaut es Gott, seinen Herrn und Schöpfer, so hoch, so groß und so gut im Vergleich zu sich selbst, dem geschaffenen Wesen, daß ihm alles Geschaffene gleich wie ein Nichts erscheint.
Aber der liebliche Glanz der Wahrheit und Weisheit läßt uns erkennen und schauen, daß wir aus Liebe geschaffen sind und für Liebe, worin Gott uns ewig bewahrt.

Durch das Schauen an sich bin ich nicht gut, sondern wenn ich Gott mehr liebe. Ich sage dies nicht für solche, die weise sind; sie wissen es schon. Ich sage es für euch, die ihr einfältig seid, zur Freude und zur Ermutigung. Denn wir sind eins in Liebe.

Wahrlich, die Dinge wurden mir nicht gezeigt, weil Gott mich mehr liebte als die geringste Seele, die in seiner Gnade ist. Ich bin gewiß, es sind viele, die niemals Gesichte und Offenbarungen haben als nur die gewöhnliche Lehre der heiligen Kirche, und lieben Gott mehr als ich. Wenn ich mich selbst suche, so bin ich nichts. Im allgemeinen aber, so hoffe ich, bin ich in Einheit der Liebe mit meinen Mitchristen, und in dieser Einheit beruht das Leben aller, die da gerettet werden. Denn Gott, so glaube ich, ist die Allheit des Guten
. S.484ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München