Nicolas Malebranche (1638 - 1715)
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Französischer
Philosoph, der als philosophisch und theologisch ausgebildeter
Oratioraner den Rationalismus von René Descartes
teilte. Malebranche fasste aber das Leib-Seele-Verhältnis im Sinne des Okkasionalismus auf. Sein Hauptgedanke ist, dass alle Erkenntnis letztlich ein »Schauen in Gott«, eine »Vision en Dieu« darstellt.
Die folgenden Texte stammen aus Malebranches »Méditations
chrétienne«, einem literarisch und didaktisch gelungenen Dialog zwischen Jesus und der Seele. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Ursprung der mechanischen Bewegung
Ursprung der willkürlichen Bewegung
Ursprung
der mechanischen Bewegung
Du bist völlig davon überzeugt, dass Gott allein die Körper bewegt, und zwar durch dieselbe Tätigkeit, durch die er sie hervorbringt
oder sukzessiv an verschiedenen Orten erhält; und du beginnst zu glauben,
dass in der materiellen Welt nur dann Veränderungen erfolgen, wenn
sich die Teilchen bewegen, die sie zusammensetzen. Also siehst du wohl, dass
Gott als wahre Ursache und
als allgemeine Ursache alles tut. Aber neben der
allgemeinen gibt es eine unendliche Zahl besonderer Ursachen; neben der wahren
Ursache gibt es natürliche und solche, die du als »okkassionelle« bezeichnen musst, um die gefährliche Zweideutigkeit auszuschließen,
die durch den falschen Naturbegriff der Philosophen entsteht. Höre mir
aufmerksam zu!
Um die materielle Welt zu bilden und zu erhalten, hat Gott bestimmte allgemeine Gesetze über die Mitteilung der Bewegungen erlassen (ich sage dir nicht
erst, welche es sind, weil das für dich nicht notwendig ist); und er handelt
beständig nach diesen Gesetzen. Wenn ein Körper einen anderen mit
einem bestimmten Grad von Schnelligkeit anstößt, dann bewegt sich
der angestoßene stets auf dieselbe Weise. Du kannst dich dieser Wahrheit durch tausend und aber tausend Experimente vergewissern. Du könntest sie
so gar erlernen, wenn du deine Idee von einem unendlich
weisen Gott, von einer allgemeinen Ursache, von einer unveränderlichen Natur aufmerksam befragtest: denn das Verhalten Gottes muss den Charakter seiner Attribute tragen. Aber die abstrakten Prinzipien verwirren dich,
denn gewöhnlich ist es leichter, die Ursache durch die Wirkungen als die
Wirkungen durch die Natur der Ursache zu beurteilen. Wenn unter der genannten
Voraussetzung ein Körper in Bewegung ist, dann hat er gewiss die Kraft,
infolge der Gesetze über die Mitteilung der Bewegungen,
die Gott beständig befolgt, einen anderen in Bewegung zu versetzen. Man
kann sagen, dass dieser Körper die physische oder
natürliche Ursache der Bewegung ist, die er mitteilt,
weil er infolge der Naturgesetze handelt. Aber er ist keineswegs ihre wahre
Ursache. Er ist überhaupt keine natürliche Ursache im Sinne der Philosophie
der Heiden: er ist, absolut gesehen, bloß eine okkasionelle Ursache, die durch ihren Stoß die Wirksamkeit des allgemeinen Gesetzes determiniert,
nach welchem eine allgemeine Ursache, eine unveränderliche Natur und eine
unendliche Weisheit handeln muss, die alle Folgen aller möglichen
Gesetze voraussieht und die ihre Absichten zur Herstellung der weisesten, einfachsten
und fruchtbarsten entdeckbaren Beziehung zwischen den Gesetzen und dem Werk,
das sie hervorbringen müssen, zu gestalten weiß. Aber ich werde dir
das eines Tages ausführlicher erklären.
Man kann schließlich sagen, die Sonne sei die allgemeine Ursache einer
unendlichen Zahl von Wohltaten, die Gott uns erweist. Denn durch ihre Wärme
macht sie die Erde und alle Lebewesen fruchtbar; und durch ihr Licht macht sie
uns fähig, uns auf tausend Weisen der Gegenstände erfreuen zu dürfen,
die uns umgeben. Doch hat sie aus sich selber keinerlei Kraft. Sie ist lediglich
Materie, die bloß infolge der Bewegung, die sie beseelt, über Kraft verfügt, und Gott allein ist die wahre Ursache dieser Bewegung. Die Sonne
ist die Ursache von tausend und aber tausend wunderbaren Wirkungen, aber ihre
okkasionelle oder eben ihre natürliche Ursache, und zwar
infolge der Naturgesetze über
die Mitteilung der Bewegung. Denn, mein Sohn, behalte das gut: Gott teilt seine Macht den Geschöpfen nur insofern mit, als er sie zu okkasionellen Ursachen einsetzt, damit sie bestimmte Wirkungen hervorbringen, und zwar infolge
der Gesetze, die er erlässt, um seine Absichten gleichförmig
und beständig und mit den einfachsten und seiner Weisheit sowie seiner
übrigen Attribute würdigsten Mitteln durchzuführen.S.161-163
Ursprung
der willkürlichen Bewegung
Höre, mein Sohn. Der Mensch kann seinen Arm nicht bewegen, wenn nicht die
Animalgeister aus bestimmten Muskeln in die Gegenmuskeln strömen; wenn
sie diese nicht aufblasen und verkürzen und so die Knochen, mit denen sie
durch Sehnen verbunden sind, an sich heranziehen. Mit einem Wort, der Arm kann
sich nur bewegen, wenn eine Veränderung in den Teilen zustande kommt, die
ihn zusammensetzen. Aber ein Bauer oder ein Taschenspieler, der gar nicht weiß,
ob er Muskeln und Animalgeister hat bzw. was geschehen
muss, wenn sich sein Arm bewegen soll, der bewegt ihn nichtsdestoweniger
genauso kundig wie der geschickteste Anatom.
Kann man etwas tun, ja kann man es wollen, wenn man nicht weiß, wie man
es tut? Kann man wollen, dass die Animalgeister in bestimmte Muskeln strömen, ohne dass man weiß, ob man Animalgeister und Muskeln hat? Man kann die Finger bewegen wollen, weil man sie sieht und
weil man weiß, dass man Finger hat. Aber kann man Animalgeister in
Bewegung setzen wollen, die man überhaupt nicht sieht und die man überhaupt
nicht kennt? Kann man sie zu genauso unbekannten Muskeln transportieren wollen,
und zwar durch die Rohrleitungen genauso unsichtbarer Nerven, und dabei schnell
und unfehlbar genau denjenigen Nerv auswählen, der zu dem Finger führt,
den man bewegen will? Aber selbst wenn man es will, mein Sohn — diese
Animalgeister sind Körper.
Erinnere dich an das, was ich dir bereits sagte: Ihre Bewegungskraft ist die Tätigkeit Gottes, der sie erschaffen hat und der sie sukzessiv
an verschiedenen Orten erhält; und der Wille des Menschen vermag gegen
Gottes Tätigkeit nichts. Also kann er nicht den kleinsten dieser Animalgeister von seiner Stelle versetzen. Er kann ihn nur dorthin bringen,
wo Gott ihn hinbringt, wo Gott ihn erschafft oder ihn erhält. Folglich
sind deine Wünsche oder deine Bemühungen nicht die wahren Ursachen,
die durch eigene Wirksamkeit die Bewegung deiner Glieder hervorrufen; denn deine
Glieder bewegen sich lediglich vermittelst dieser Animalgeister.
Folglich sind sie nur okkasionelle Ursachen, die Gott eingesetzt hat, um die
Wirksamkeit jener Gesetze der Vereinigung der Seele und des Leibes zu determinieren,
durch welche du das Vermögen besitzest, die Glieder deines Körpers
zu bewegen. Und Gott hat diese Gesetze aus mehreren bemerkenswerten Gründen
erlassen, die nichtsdestoweniger alle zu seinem großen Werk in Beziehung stehen. Er hat sie erlassen, um die Geister mit den Körpern und vermittelst
dieser Körper mit den sie umgebenden Geistern zu vereinigen; um sie dadurch
insgesamt miteinander zu vereinigen und Staaten und besondere Gesellschaften
zu bilden; um sie so zu Wissenschaft, Lehre und Religion zu befähigen und
dadurch Jesus Christus und seinen Gliedern tausend Mittel zu liefern, den Glauben auszubreiten, die Menschen zu lehren und sie zu heiligen; und um auf diese Weise
das große Werk, die zukünftige Kirche, zu erbauen.
Weil diese eine Vielfalt von Verdiensten und Opfern voraussetzt, mussten
die Menschen ein Opferlamm haben, um es Gott darzubringen und sich vermittelst
seiner auf tausend verschiedene Weisen selbst zu opfern. Das alles wird, wie
du siehst, erst infolge dieser Gesetze durchführbar, und zwar auf eine einfache, allgemeine, gleichförmige und beständige Weise, die der
Weisheit, der Unveränderlichkeit und der anderen göttlichen Attribute würdig ist. Nichts, mein Sohn, ist deines Bemühens und deiner
Forschung würdiger als die genaue Kenntnis dieser Gesetze. Ihre Einfachheit
und ihre Fruchtbarkeit ist wunderbar. S.165-167
Aus: Oeuvres complètes. Hrsg. von André
Robinet. Bd. 11. Paris: Vrin, 1966. S. 53—55, 62f.. Übers. von Rainer
Specht
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung,
Herausgeber: Rüdiger Bubner Band 5, Rationalismus, Herausgegeben von Rainer
Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9915 © 1979 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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