Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768)

  Deutscher Philosoph und Theologe, der eine eine natürliche Vernunftreligion vertrat und scharfe Bibelkritik ausübte. Nur die Schöpfung der Welt ließ er als Wunder gelten.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis
Die Vollkommenheit des höchsten Wesens
Die Vernunft als Grundlage der Wahrheit der Schrift

Die Unmöglichkeit einer übernatürlichen Offenbarung Gottes

>>>Christus
Die Lehre Jesu


Die Vollkommenheit des höchsten Wesens

An sich lässt sich nichts Vollkommeneres denken, als ein Wesen, das ein selbständiges, ewiges Leben hat; ein Verstand, der alles Mögliche, und alles Möglichen mögliche Übereinstimmung, das ist, alle Wahrheit und Vollkommenheit aufs deutlichste einsieht; ein Wille, der aus der unendlichen Fülle seiner eigenen Zufriedenheit und Glückseligkeit, allen möglichen Lebendigen außer sich so viel Vollkommenheit und Lust mitzuteilen geneigt ist, als eines jeden Wesen in der Verknüpfung der Dinge leidet; eine Macht, durch welche die unermessliche Welt, in der herrlichsten Ordnung und Übereinstimmung, zu Wohnhäusern aller Lebendigen, hervorgebracht ist und beständig erhalten wird. Ein Wesen, von dem alles, was Odem hat, abhängt, und das in der Vollkommenheit seiner Werke, besonders in der Lust und Glückseligkeit der lebendigen Geschöpfe, seinen großen Zweck stets mit eigener Lust bewirkt sieht: dieser Begriff an sich erfüllt alles, was wir Großes und Herrliches denken können; er reizt uns zur Bewunderung, Hochachtung, Ehrfurcht und Liebe; er wird durch die aufmerksame Betrachtung der sichtbaren Werke in der Natur, und der darin offenbarten Weisheit und Güte, lebhaft, überführend und wirksam; er bildet unsern Verstand und Willen zu einer ähnlichen Vollkommenheit, so weit es unsere Natur leidet, dass wir nunmehr, von einem so großen Urbilde erfüllt und eingenommen, an nichts, was unedel, unflätig und boshaft ist, Geschmack und Belieben finden, und uns auch zu den Menschen, in deren Eigenschaften sich das Göttliche ausdrückt, am liebsten halten.
Aus: Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamburg: Bohn 1781.
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Herausgeber: Rüdiger Bubner
Band 5, Rationalismus. Herausgegeben von Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9915, S.347-348


Die Vernunft als Grundlage der Wahrheit der Schrift
Man kann ja wohl eine Kraft nicht besser beurteilen als nach den Regeln, wodurch sie von Natur bestimmt ist. Sind denn etwa die Regeln, welche die Vernunft wesentlich bestimmen, falsch und unrichtig? Ich meine, man werde die Grundregeln der Vernunft völlig mit den beiden Sätzen ausdrücken können: Ein jedes Ding ist das, was es ist: ein Ding kann nicht zugleich sein und nicht sein. ... Diese Regeln gelten nicht allein in der Weltweisheit und Mathematik, sondern in allen und jeden Wahrheiten, selbst in der Schrift und Theologie. Die Schrift sagt z[um] E[xempel]: Gott ist wahrhaftig: es ist unmöglich, daß Gott lüge, unmöglich, daß ihn etwas gereue. Warum? weil jenes mit dem Begriff von Gott und dessen wesentlicher Vollkommenheit übereinstimmt, dieses ihm widerspricht. So bedienen sich die Propheten der Regel des Widerspruchs, wenn sie den Juden die Ungereimtheit ihres heidnischen Götzendienstes vorstellen wollen; da sie einen Schöpfer verehrten, den sie selbst mit ihren Händen gemacht hatten; ein totes Holz und Stein statt des lebendigen Gottes. Götzen, die Augen hatten und doch nicht sahen, Ohren hatten und doch nicht hörten. Die Schrift legt demnach die Vernunft und ihre Regeln in dem, was des Geistes Gottes ist, zum Grunde der Wahrheit. So muß sie denn wohl nicht von Natur verdorben, sondern vielmehr selbst in der Erkenntnis Gottes brauchbar und eine gewisse Richtschnur sein, Wahres vom Falschen zu unterscheiden. Die Herrn Theologi bringen auch den rechten Verstand der Schriftörter, und das daraus aufgerichtete Lehrgebäude, durch lauter Vernunftschlüsse heraus:
und wenn sie einander des Irrtums beschuldigen, so muß ihnen die Vernunft die Waffen dazu leihen. ... Dann ruft man von allen Seiten, des Gegners Lehre sei der gesunden Vernunft zuwider. Nun, so ist ja denn die Vernunft, nach dem Geständnis aller Theologen, annoch von Natur gesund, und sie wird von ihnen selbst als eine solche in der Erkenntnis göttlicher Dinge gebraucht. Ist sie denn nur so lange gesund, als sie eines jeden System beizutreten scheinet? Warum soll sie denn blind und verdorben heißen, wenn sie das ganze System überhaupt nach eben denselben Regeln zu untersuchen anfängt? Wozu dient die Beschuldigung anders, als dem gemeinen Manne, d. i. allen, die keine Lehrer der Christenheit sind, ihren Gebrauch zu nehmen, und einen blinden Glauben sowohl in jeder Sekte als in dem ganzen Christentum einzuführen?

Aus: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Im Auftrag der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg hrsg. von Gerhard Alexander. Bd. 1. Frankfurt a.M.: lnsel.verlag 1972. S. 110f. (1. Teil, 1. Buch, 3. Kap., § 8).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.243f.)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Die Unmöglichkeit einer übernatürlichen Offenbarung Gottes

Wir kommen demnach zu dem andern Vordersatze unsers obangeführten Schlusses, welcher einen umständlichem Beweis erfordert: daß eine Offenbarung, so alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten, eine unmögliche Sache sei. Es würde nämlich eine solche Offenbarung entweder unmittelbar allen und jeden Menschen, oder nur etlichen geschehen müssen. In dem letzteren Falle würde sie entweder etlichen Menschen bei allen Völkern, oder bei etlichen Völkern, oder wohl gar nur bei einem offenbaret: und jedes von diesen geschähe entweder zu allen Zeiten, oder zu gewissen Zeiten, oder wohl gar nur zu einer Zeit. Die Art aber, wie es von den etlichen Menschen denen übrigen bekannt gemacht würde, geschähe entweder mündlich oder schriftlich.

Wenn wir nun erstlich ... setzen, daß Gott allen und jeden Menschen, zu allen Zeiten und an allen Orten, ein übernatürliches Erkenntnis unmittelbar offenbarete: so müßten wir zugleich annehmen, daß alle Augenblick und allenthalben bei allen Menschen Wunder geschähen. Denn eine Wirkung, die in der Natur keinen Grund hat, oder übernatürlich ist, ist ein Wunder. Daß aber Gott stets Wunder tun sollte, ist seiner Weisheit zuwider. Beständige Wunder stören die Ordnung und den Lauf der Natur beständig, welche doch Gott selbst weislich und gütig gesetzt hatte. Gott würde also sich selbst widersprechen und die Ordnung der Natur gewollt haben und noch beständig wollen; und doch beständig nicht wollen. Wäre es ja nötig, daß alle Menschen solche Erkenntnis hätten, so würde er es mit in die Ordnung der Natur befasset, und dem menschlichen Verstande ein natürliches Vermögen zu solchem Erkenntnisse erteilet haben. Daß er aber ein allen Menschen nötiges Erkenntnis in allen Menschen übernatürlich und unmittelbar wirken sollte, ist seiner Weisheit ebenso entgegen, und an sich ebenso ungereimt, als wenn ich spräche, daß er allen Menschen keine Augen hätte geben wollen, sondern jedem übernatürlicherweise und unmittelbar offenbarte, wo sie eine Höhe oder Tiefe, wo sie Feuer oder Wasser, wo sie Essen oder Trinken vor sich hätten Es ist also was Ungereimtes, und mit der Weisheit Gottes Streitendes, wenn er den Menschen ein mehrers Erkenntnis hätte nötig zu sein erachtet, als sie jetzt natürlich haben können, und doch natürlich gehabt haben; daß er solches durch beständige Wunder in einer unmittelbaren Offenbarung aller Orten und zu allen Zeiten bei allen und jeden übernatürlich hätte verrichten wollen.

Noch ungereimter aber ist es, wenn man setzete, daß die Offenbarung nur etlichen Personen bei jedem Volke, zu allen Zeiten, oder zu gewissen Zeiten, widerführe, damit es die andern Menschen von ihnen hören und glauben sollten. Denn einmal ist doch hier auch der Zweck, daß alle und jede Menschen das Erkenntnis bekommen sollen; und also ist hier eine ähnliche Ungereimtheit, daß solches nicht durch die Natur, sondern durch häufige Wunder geschieht. Aber darin ist hier die Ungereimtheit noch größer, daß alsdenn die Wunder den Zweck nicht einmal erhielten. Denn wenn ein jeder Mensch bei sich eine unmittelbare Offenbarung hat, und sie führet ein untrüglich Kennzeichen mit sich, welches ein jeder durch sein eigen Gefühl erkennen kann: so kann auch ein jeder das Erkenntnis bekommen und davon überzeugt werden. Wenn aber nur einige im Volke eine Offenbarung unmittelbar bekommen, und sie bezeugen andern Menschen, was ihnen offenbaret ist: so bekommen die andern Menschen diese Nachricht von Menschen. Es ist also nicht mehr eine göttliche Offenbarung, sondern ein menschlich Zeugnis von einer göttlichen Offenbarung. Wenn nun ein Mensch sowohl ein Mensch ist wie der andere; wenn ein jeder Mensch sich selbst und andere aus Einbildung, Übereilung und Irrtum betriegen kann, und aus Absichten öfters betrügen will: so ist dieses menschliche Zeugnis von einer göttlichen Offenbarung bei weiten so glaubwürdig nicht Wenn denn die Offenbarung auch nur zu einer gewissen Zeit geschähe, hernach aber durch Menschen fortgepflanzet werden sollte: so verlieret sie immer mehr von ihrer Glaubwürdigkeit, da sie von Hand zu Hand, von Mund zu Mund gehet ...

Es sind fast bei allen Völkern, selbst bei den Hebräern, etliche gewesen, die fälschlich eine Offenbarung, die fälschlich Wunder vorgegeben, und die darauf zum Teil auch eine Religion und Gottesdienst gebauet. Weil doch aber eine jede Offenbarung fast einer jeden widerspricht: so folget erstlich, daß sich Gott dieses Weges, nämlich bei vielen Völkern sich zu offenbaren, nicht wirklich bedienet habe. ... Nun ist noch wohl möglich, daß ein Mensch oder Zeuge mit seiner eigenen Aussage oder Lehre übereinstimmet; aber je mehr ein Ding durch vieler Menschen Mund oder Feder bezeuget wird, je mehr Widerspruch und Verschiedenheit scheinet darin zu sein. ...

Schickte Gott einen Propheten bei einem Volke: so wären leicht vierhundert falsche dagegen. ... Summa, je mehr Völker wären, bei welchen sich Gott offenbarete, je mehr würde sich Verschiedenheit, falscher Schein, Betrug, und also Zweifel, Irrungen, Ungewißheit und Widerspruch häufen. Es ist also der Weisheit Gottes entgegen, sich so zu offenbaren, und uns nicht möglich, eine solche zerstreute, vervielfältigte, und nur durch Mehrheit der Wunder weniger ausrichtende göttliche Offenbarung zu gedenken.

Wir müssen nun den letzten Fall, da sich Gott nur in einem Volke, zu gewissen Zeiten, durch gewisse Personen, teils mündlich, teils schriftlich offenbaren könnte, um desto genauer in Erwägung ziehen, weil eben dieses wirklich geschehen zu sein gesetzet, und dabei behauptet wird, daß darin der allen Menschen nötige Weg zur Seligkeit enthalten sei. ... Einmal geschiehet auch hier durch Wunder, und außerordentliche übernatürliche Wirkung, was durch den ordentlichen Weg der Natur hätte geschehen können. Fürs andere wird das offenbarte Erkenntnis dadurch, daß es über die Vernunft ist, dunkel und unbegreiflich; da es würde klar und verständlich gewesen sein, wenn es aus natürlich bekannten Wahrheiten hätte können hergeleitet werden. Fürs dritte folget daraus, daß es, um der Ursache willen, nicht allgemein kann angenommen werden: dem einen ist es zu hoch, er kann nichts davon verstehen: dem andern ein Ärgernis und Torheit. Zum vierten muß der göttliche Ursprung dieses Erkenntnisses selbst bei dem Volke, wo es offenbaret wird, ebenso zweifelhaft als bei allen andern Völkern bleiben: weil es doch auch da bloß durch ein menschlich Zeugnis dem Volke für eine göttliche Offenbarung ausgegeben wird, und es an falschen Propheten und Wundern nicht fehlet, wie man denn nicht leugnen kann, daß Moses und die Propheten, daß Christus und die Apostel zu ihren Zeiten unter ihrem Volke daher am meisten Widerspruch gefunden, und am meisten mit dem Unglauben zu kämpfen gehabt. Fünftens wird doch auch der Vortrag durch mehrerer Menschen Mund und Feder vielfältig: und daher müssen Irrungen und Zweifel, ja Rotten und Sekten entstehen: wie gleichfalls die Historie altes und neuen Testaments in dem jüdischen Volke bestätiget. Wenn man denn nun weiter gehet, und bedenket, wie diese Offenbarung von einem Volke zu allen übrigen auf dem ganzen Erdboden kommen soll, so, daß alle Menschen eine gegründete Überführung davon haben könnten: so häuft sich die Schwierigkeit dermaßen, daß es, nach der Natur und Beschaffenheit der Menschen, eine wahre Unmöglichkeit ist, daß alle Menschen auf dem Erdboden eine solche Offenbarung zu wissen bekommen, glauben, und also durch dieselbe selig werden könnten.

... wer von Menschen nichts fordern will, was über menschliches Vermögen ist, wird gestehen müssen, daß ... ein zuverlässiger Glaube an die Offenbarung eine für den allergrößten Teil des menschlichen Geschlechts ganz unmögliche Sache sei: da die Nachricht und Urkunden der Offenbarung erst müssen an alle Menschen gebracht, und in alle Sprachen der Welt übersetzt sein, da ein jeder muß zu verständigen Jahren kommen sein, nach solcher Offenbarung zu forschen vorgängige Lust bekommen, und durch kein Vorurteil oder Gewalt davon abgehalten werden; da ein jeder muß das Buch habhaft werden und lesen können, und so er‘s lieset, verstehen und erklären, und durch eigene Einsicht ein Lehrgebäude herausziehen können: und wenn er dieses getan hat, von der Richtigkeit der Übersetzung, von der unverfälschten Bewahrung der Bücher, und von den rechten Urhebern derselben, überführt sein, und alsdann von der Wahrheit der Geschichte und Lehrsätze, und von der Göttlichkeit der Weissagungen und Wunder unparteiisch urteilen: so daß ein jeder dazu, wenn ihm auch alle Urkunden könnten in die Hände gebracht werden, gar viele Sprachen, Altertümer, Historie, Geographie, Chronologie, Belesenheit, Erklärungs-Kunst, Weltweisheit und andere Wissenschaften, Witz und Übung der Vernunft, Ehrlichkeit und Freiheit im Denken besitzen müßte: wenn er nicht blindlings glauben, sondern wissen will, was, und an wen, und warum er‘s glaubet: welches unter Millionen des ganzen menschlichen Geschlechts kaum von einem zusammen kann gefordert werden. ...

Man nehme demnach an, was man will: einen Glauben an die Offenbarung, der sich auf zureichende Untersuchung und Überführung gründet, oder der bloß mit dem, was Eltern und Lehrer, was Katechismus und Bibel sagen, zufrieden ist: so ist in beiden Fällen klar, daß eine Offenbarung, welche alle und jede Menschen ohne Entschuldigung annehmen könnten und müßten, eine schlechterdings unmögliche Sache sei. Da nun Gott nach seiner Weisheit und Güte, wenn er alle Menschen selig haben will, dasjenige nicht zum notwendigen und einzigen Mittel der Seligkeit machen kann, welches denen allermeisten schlechterdings unmöglich fällt, zu bekommen, anzunehmen und zu gebrauchen: so muß gewiß die Offenbarung nicht nötig, und der Mensch für keine Offenbarung gemacht sein. Es bleibt der einzige Weg, dadurch etwas allgemein werden kann, die Sprache und das Buch der Natur, die Geschöpfe Gottes, und die Spuren der göttlichen Vollkommenheiten, welche darin als in einem Spiegel allen Menschen, so gelehrten als ungelehrten, so Barbaren als Griechen, Juden und Christen, aller Orten und zu allen Zeiten, sich deutlich darstellen.

[Hermann Samuel Reimarus:] [Zweytes Fragment: Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten.] In: Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann 3., aufs neue durchges. und verni. Aufl. bes. durch Franz Muneker. Bd. 12. Leipzig: Göschen, 1897. 5. 316£, 3 19—322, 356f
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.245-250)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages