Giovanni Battista Vico (1668 – 1744)

  Italienischer Geschichts- und Rechtsphilosoph, der seit 1699 Professor für Rhetorik in Neapel war. Vico hat ein dialektisches Zyklenmodell der Geistesgeschichte entworfen und ist mit seinem Zentralwerk »Principe di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni« (Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker) zum Begründer der Kulturwissenschaft geworden. Er deutete die Aufeinanderfolge der historischen Etappen als einen Kreislauf von der Barbarei zur Zivilisation und über die äußerste Verfeinerung und Korruption zum erneuten Rückfall in die Barbarei.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Die drei allgemeinen und ewigen Grundlagen aller menschlichen Natur
(Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Erstes Buch. Dritte Abteilung)
Um die Probe zu machen, ob die bisher als Elemente dieser Wissenschaft aufgezählten Sätze dem Stoff der Geschichte Form geben können, bitten wir den Leser zu bedenken, was bisher über die Grundlagen des göttlichen und menschlichen Wissens der Heiden geschrieben worden ist; und dann prüfe er, ob es mit jenen Sätzen in Widerspruch steht, mit allen. mit mehreren, oder auch nur mit einem; denn es ist bei einem von gleicher Bedeutung wie bei allen, da sie alle miteinander zusammenhängen. Wenn der Leser eine solche Zusammenstellung vornimmt, wird er ohne Zweifel merken, daß das früher Geschriebene alles Anführungen einer unklaren Erinnerung, alles Bilder einer schlecht geregelten Phantasie sind; daß nirgends das Verständnis daran teil hat, denn der Verstand ist müßig geblieben infolge der beiden Arten von törichter Anmaßung, die wir in den Grundsätzen erwähnt haben Da wir nun einerseits wegen der Anmaßung der Völker, daß ein jedes das älteste der Welt gewesen sein will, keine Hoffnung haben die Prinzipien dieser Wissenschaft bei den Philologen zu finden — andererseits, wegen der Anmaßung der Gelehrten, die glauben, daß das, was sie wissen, seit dem Beginn der Welt vollständig bekannt sei, auch keine Aussicht haben sie bei den Philosophen zu finden — so müssen wir, für diese Untersuchung, uns so benehmen, als gäbe es auf der Welt keine Bücher.

Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das
ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: dass diese historische Welt ganz gewi
ss von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben. Diese erstaunliche Wirkung wird hervorgebracht von der Armut des menschlichen Geistes, die wir schon im 63. Grundsatz erwähnten: dass er, aufgeschluckt und begraben vom Körper, von Natur geneigt ist nur die körperlichen Dinge wahrzunehmen, und einer allzugroßen Anstrengung und Mühe bedarf, um sich selbst zu begreifen; so wie das körperliche Auge zwar alle Gegenstände außer sich sieht, aber des Spiegels bedarf, um sich selbst zu erblicken. Da nun die Welt der Völker von den Menschen gegründet worden ist, so wollen wir zusehen, in welchen Dingen die Menschen zu allen Zeiten übereingestimmt haben und immer noch übereinstimmen; denn diese Dinge können uns die allgemeinen und ewigen Grundlagen geben, deren jede Wissenschaft bedarf, auf denen alle Völker entstanden sind und sich in staatlicher Ordnung erhalten.

Betrachten wir alle Völker, barbarische und zivilisierte, durch ungeheure Abstände des Ortes und der Zeit getrennte, auf verschiedene Art gegründete: so beobachten sie alle folgende drei menschliche Sitten: sie haben alle irgend eine Religion, sie schließen alle die Ehen in feierlicher Form, sie begraben alle ihre Toten; und auch bei den wildesten und rohesten Völkern gibt es keine menschlichen Handlungen, die mit ausgesuchteren Zeremonien und mit strenger geheiligten Formen begangen werden, als Religionsübungen, Ehen und Begräbnisse. Darum muss wegen des Grundsatzes, dass gleiche Ideen, die bei einander unbekannten Völkern allgemein entstehen, einen
gemeinsamen Untergrund von Wahrheit haben müssen, es für alle gelten, dass von diesen drei Dingen bei ihnen allen die menschliche Gesittung ausging, und dass sie darum von allen aufs Heiligste bewahrt werden müssen, damit die Welt nicht von Neuem verwildere und in den Urwaldzustand zurückfalle. Daher haben wir diese drei ewigen und allgemeinen Gebräuche als die drei ersten Prinzipien unserer Wissenschaft genommen.

Möge uns keiner der modernen Reisenden vorwerfen, unser erster Grundsatz sei falsch: sie erzählen nämlich, es gäbe in Brasilien, bei den Kaffern und anderen Gegenden der neuen Welt Völker, die in Gesellschaft leben ohne irgend welche Gotteskenntnis; von ihnen hat sich Bayle vielleicht überreden lassen, der in der Abhandlung vom Kometen behauptet, die Völker könnten ohne das Licht der Gottheit in Gerechtigkeit leben; so viel hat ja nicht einmal Polybius behauptet Das sind Märchen von Reisenden, die ihren Büchern durch abenteuerliche Berichte größeren Absatz verschaffen wollen. Denn es glauben alle Völker an eine vorsehende Gottheit; auf diese Art haben sich durch den ganzen Verlauf der Zeiten und durch die ganze Weite dieser historischen Welt nicht mehr als vier Hauptreligionen bilden können:

eine der Hebräer, daraus die

zweite der Christen, die beide an die Göttlichkeit eines unendlichen freien Geistes glauben; die

dritte
der Heiden, welche an eine Mehrheit von Göttern glauben, die aus Körper und freiem Geist zusammengesetzt vorgestellt werden — deshalb sagen sie, wenn sie die Gottheit, die die Welt regiert und bewahrt, bezeichnen wollen, dafür »die unsterblichen Götter«, di immortales; die

vierte und letzte ist die der Mohammedaner, die die Gottheit als einen unendlichen freien Geist in einem endlichen Körper auffassen; denn sie erwarten sinnliche Vergnügungen als Belohnung im jenseitigen Leben.

Kein Volk hat an einen Gott geglaubt, der ganz Körper, oder an einen, der ganz Geist, aber kein freier, wäre. Darum dürfen weder die Epikuräer, die nichts anderes kennen als Körper, und mit dem Körper den Zufall; noch die Stoiker, die Gott darstellen als einen in unendlichem Körper unendlichen Geist, jedoch dem Schicksal unterworfen (welche also insofern mit den Spinozisten übereinstimmen) von Staat und Gesetzen reden; Benedikt Spinoza spricht vom Staat wie von einer Gesellschaft aus lauter Kaufleuten. Deshalb hatte Cicero recht, als er zu Atticus, weil der Epikuräer war, sagte, er könne nicht mit ihm über die Gesetze disputieren, wenn er ihm dies nicht zugestände, dass es eine göttliche Vorsehung gebe. So wenig sind jene beiden Sekten, die stoische und die epikuräische, mit der römischen Jurisprudenz vereinbar, die die göttliche Vorsehung als ihr wesentlichstes Prinzip aufstellte!

Die Ansicht ferner, dass das Zusammenwohnen freier Männer mit freien Weibern ohne Vermählungsfeierlichkeit keine Verderbnis enthalte, wird von allen Völkern der Welt durch die menschlichen Sitten selbst als irrig widerlegt; denn sie halten die Feierlichkeiten der Ehe aufs Sorgfältigste, und bezeugen damit, dass jenes ein tierisches Vergehen, wenn auch von niederem Grade, sei. Denn solche Erzeuger, die ja kein gesetzliches Band notwendig zusammenhält, kommen schließlich dahin, ihre natürlichen Kinder verderben zu lassen; da sie sich ja zu jeder Zeit trennen können, bleiben die Kinder, von beiden verlassen, dem Schicksal ausgesetzt, von den Hunden gefressen zu werden; und wenn öffentliche oder private Fürsorge sie nicht aufzöge, so müssten sie groß werden, ohne dass ihnen jemand Religion oder Sprache oder überhaupt irgend eine menschliche Sitte beibrächte. Daher würden sie, so viel an ihnen läge, aus dieser Welt der Völker, die mit so vielen edlen Künsten der Gesittung reich geschmückt ist, den großen uralten Wald wieder erstehen lassen, in dem die blöden Tiere des Orpheus wild und ruchlos irrend umherschweifen; bei denen die Söhne mit den Müttern, die Väter mit den Töchtern bestialische Gemeinschaft hatten; dies nämlich ist das infame nefas, der ruchlose Gräuel der gesetzlosen Welt, von dem Sokrates mit wenig passenden physischen Gründen beweisen wollte, er sei von er Natur verboten; vielmehr ist er verboten durch die menschliche Natur, denn diese Gemeinschaften werden von allen Völkern verabscheut.

Um schließlich die große Bedeutung der Begräbnisse für die menschliche Gesittung zu würdigen, stelle man sich einen tierischen Zustand vor, in dem die menschlichen Leichname unbegraben auf der Erde liegen blieben, um eine Speise der Raben und Hunde zu werden; sicherlich müsste mit solcher bestialischen Sitte übereinstimmen, dass man die Felder unbebaut ließe, geschweige dass man Städte bewohnte; dann würden die Menschen dahin kommen, wie Schweine Eicheln zu fressen, die sie zwischen den verfaulten Leichen ihrer toten Angehörigen auflesen könnten. Darum hat man sehr zu Recht die Begräbnisse uns mit dem erhabenen Ausdruck »foedera generis humani« [Feierliche Friedensbündnisse des Menschengeschlechts] erklärt; mit geringerer Feierlichkeit nennt sie Tacitus »humanitatis commercia«
[allgemeine Teilnahme am Menschenlos]. Übrigens ist es eine Anschauung, in der sicherlich alle heidnischen Völker übereinkamen: daß die Seelen ruhelos über der Erde blieben und um ihre unbegrabenen Körper umherirrten — dass sie folglich nicht zugleich mit den Körpern stürben, sondern unsterblich seien. Dass solche Übereinstimmung auch unter den antiken Barbaren bestanden habe, davon überzeugen uns die Völker Guineas, wie Ugo van Linschooten bezeugt; auch die Völker von Peru und Mexico, nach Acosta, de Indicis; die Bewohner von Virginia nach Aviot; diejenigen Neu-Englands nach Waitborn; die des Königreichs Siam nach Schouten . So sagt auch Seneca: »Wenn wir von der Unsterblichkeit sprechen, so ist uns dabei von nicht geringem Gewicht die Übereinstimmung der Menschen, die die Unterirdischen fürchten oder verehren; dieser allgemeinen Überzeugung bediene ich mich« (Epist. 117, 5f.).
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 206, Philosophisches Lesebuch. Texte zur neueren Philosophiegeschichte Erster Band: Von Bacon bis Hegel. Ausgewählt und erläutert von Hermann Glockner (S.114ff.)
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