Adelbert von Chamisso, eigentl. Louis Charles Adélaide de Chamisso de Boncourt (1781 - 1838)

In Paris geborener deutscher Dichter und Naturforscher, der mit seiner Familie in den französischen Revolutionswirren nach Deutschland floh, wo er 1796 zum Pagen der Königin von Preußen avancierte und von 1798-1807 als preußischer Offizier diente. In den Jahren 1812-1815 studierte Chamisso Botanik und Medizin. 1815-1818 nahm er als Naturforscher an einer russischen Weltumseglung teil. Seine dabei gemachten Erfahrungen beschrieb er in dem 1821 erschienen Werk »Bemerkungen und Ansichten auf einer Entdeckungsreise«. Nach seiner Rückkehr wurde er Aufseher im am Botanischen Garten in Berlin und später Vorsteher des Herbariums. In der Biologie machte er sich einen Namen wegen der Entdeckung des Generationenwechsels (Metagenese) der Salpen (Manteltiere). Sein literarisches Werk umfasst u. a. Novellen und Balladen. In dem Märchen »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« schwingt unterschwellig die schmerzliche Empfindung seiner nie ganz überwundenen Vaterlandslosigkeit. Seine Lyrik erinnert an die Goethes, Uhlands und Bérangers. Sein Liederkreis »Frauenliebe und Frauenleben« ist von Robert Schumann vertont worden. 

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Inhaltsverzeichnis

An die Apostolischen
Evangelium St. Lucä 18, 10.
  Vom Pythagoräischen Lehrsatz  

An die Apostolischen

1.
Ev. Matth. c. 24.
Ja, überhand nimmt Ungerechtigkeit,
Und Not, Empörung, Haß, Verrat befährden.
Die falschen Christi wollen sich gebärden
Als mit dem Unrecht, nicht dem Recht, im Streit.
Bald aber, nach der Trübsal dieser Zeit,
Wird den Geschlechtern allen auf der Erden
Des Menschen Zeichen offenbaret werden
Mit großer Kraft und hoher Herrlichkeit.
Vom Feigenbaume lernt: an seinen Zweigen
Erkennet ihr des Sommers Anbeginn,
Wann steigt der Saft und Blätter schon sich zeigen.
Wo habt ihr, blöde Toren, doch den Sinn?
Ihr seht den Saft in alle Zweige steigen,
Und leugnet euch den Sommer immerhin!

2.
Ev. Matth. c. 15–23.
Senkt sich die Sonn' in klarer Herrlichkeit,
So sagt ihr: Morgen wird das Wetter gut;
Und hüllt der Morgen sich in trübe Glut,
Urteilt ihr: ein Gewitter ist nicht weit.
Könnt ihr denn nicht die Zeichen dieser Zeit
Auch deuten, wie ihr doch den Himmel thut?
Ihr Heuchler, Pharisäer, Otterbrut,
Wohl hat von euch Jesajas prophezeit:
Es spricht der Herr: dieweil ich es erfahren,
Daß, wenn sie mich bekennen mit dem Munde,
Sie mit dem Herzen ferne von mir sind,
Will seltsam ich mit diesem Volk verfahren,
Daß seiner Weisen Weisheit geh' zu Grunde
Und seiner Klugen Klugheit werde blind.

3.
Schiller.
Ihr wollt zurück uns führen zu den Tagen
Charakterloser Minderjährigkeit?
Ihr hängt umsonst an der Vergangenheit,
Ihr werdet nicht die Zukunft unterschlagen.
Es ist ein eitel, ein vergeblich Wagen,
Zu greifen ins bewegte Rad der Zeit,
Der Morgen graut, verscheucht die Dunkelheit
Und leuchtend stürzt hervor der Sonnenwagen.
Die, blind und taub, ihr Augen habt und Ohren,
Nicht Stimmen hören wollt, nicht Zeichen sehen,
Ich zittre nur für euch, ihr blöden Thoren!
Denn Gottes Ratschluß wird dennoch bestehen,
Die Frucht der Zeit zu ihrer Zeit geboren
Und das, was an der Zeit ist, doch geschehen.

4.
Die öffentliche Meinung schreit und klagt:
Ihr habt von mir erborget eure Kraft –
Durch mich geschah, was Großes ihr geschafft,
Durch mich gelang, was siegreich ihr gewagt.
Und nun ich euch erhöht, wollt ihr als Magd
Mich züchtigen mit Ruten und mit Haft,
Ihr schämt euch flüchtiger Genossenschaft
Und habt mir, eurer Herrin, widersagt?
Und doch, ihr hörtet meine Donner rollen,
Und der Koloß der Zeit war schon zerstoben
Von dessen Joch ich kam euch zu erlösen. –
Ihr Seifenblasen, die mein Hauch geschwollen,
Und flücht'gen Schimmers meine Huld gehoben,
Ihr eitle Seifenblasen – seid gewesen.

5.
Wer hat zum Schreier also dich bedungen?
Es möchten Lieder besser dir gedeihen,
Welchen auch gern das Ohr die Meisten leihen;
Hast du nicht sonst von Lieb und Wein gesungen?
Könnt' ich aus eh'rner Brust doch tausend Zungen
Mit Hauch beleben, alle wollt' ich weihen,
Gellend das eine, alte Lied zu schreien,
Bis in verschloss'nen Ohren es erklungen.
Es ist hoch an der Zeit, sie aufzuschrecken,
Die taumelnd um den Rand des Abgrunds wallen,
Ob schlafend nicht, dennoch nicht zu erwecken;
O, muß die schwache Stimme so verhallen!
Es drohet euch der Sturz, mir bloß das Schrecken;
Ein Vogel schwingt sich auf, wo Eichen fallen.

Evangelium St. Lucä 18, 10
Der Pharisäer trat im Tempel vor,
Stand zuversichtlich betend vor sich hin
Und richtete zu Gott den Blick empor:

Dir dank' ich, Herr, daß wohl ich anders bin
Als andre Menschen, welche fort und fort
Nur trachten nach unredlichem Gewinn;

Eh'brecher, Räuber, wie der Zöllner dort, –
Ich faste zweimal wöchentlich, entrichte
Den Zehnten und erfülle ganz dein Wort.

Der Zöllner mit gesenktem Angesichte
Stand fern und schlug an seine Brust und sprach:
Sei Gott mir Sünder gnädig im Gerichte.

Ich? – welchem von den Beiden sprech' ich nach?

Vom Pythagoräischen Lehrsatz
Die Wahrheit, sie besteht in Ewigkeit,
Wenn erst die blöde Welt ihr Licht erkannt;
Der Lehrsatz, nach Pythagoras benannt,
Gilt heute, wie er galt zu seiner Zeit.

Ein Opfer hat Pythagoras geweiht
Den Göttern, die den Lichtstrahl ihm gesandt;
Es thaten kund, geschlachtet und verbrannt,
Einhundert Ochsen seine Dankbarkeit.

Die Ochsen seit dem Tage, wenn sie wittern,
Daß eine neue Wahrheit sich enthülle,
Erheben ein unendliches Gebrülle;

Pythagoras erfüllt sie mit Entsetzen;
Und machtlos, sich dem Licht zu widersetzen,
Verschließen sie die Augen und erzittern.