Johann
Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
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Deutscher
Dichterfürst. 1765-68 betrieb der junge Goethe
ohne allzu große Begeisterung das Studium der Rechte in Leipzig, 1768 unterbrach er das Studium und kehrte
infolge Krankheit ins Elternhaus nach Frankfurt am Main zurück,
wo er sich mit Schriften Lessings und Rousseaus
vertraut machte und von Frl.
S. von Klettenberg mit
mystischer Lektüre (Pietismus) versorgt
wurde. 1770 beendigte er sein Studium in Straßburg, wo er den Sturm und Drang Dichtern
Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Maximilian Klinger u. a begegnete. Im Herbst lernte er hier Johann Gottfried von Herder kennen, der einen starken Einfluss auf ihn ausübte, in dem er ihm die Volkspoesie erschloss und das Dichten als Naturgewalt verdeutlichte,
die mit menschlicher Sprache das göttliche Urleben in individuellen,
historischen Formen ausdrückt. 1771—75 in Frankfurt (Beziehungen
zu Johann Heinrich Merck und dem Darmstädter Kreis;
1772 in Wetzlar); 1776 übersiedelte er nach Weimar, wo er als Geheimer Legationsrat in den weimarischen Staatsdienst
trat und dort bis zum Leiter der Finanzkammer aufstieg. In Weimar pflegte er Umgang mit der Herzogin Anna Amalia und
ihrem Sohn Carl August, Christoph Martin Wieland, Herder, Frau von Stein, Jacobi u. a.. 1786—88 unternahm er seine 1.
Italienreise. 1788 traf er zum ersten Mal mit Schiller zusammen, mit dem er seit 1794 zusammenarbeitete und in Freundschaft verbunden war. 1790 war seine 2. Italienreise und 1806 heiratete er Christiane Vulpies. Neben seiner
literarischen und politischen Tätigkeit verfasste das Universalgenie Goethe mehrere naturwissenschaftliche Arbeiten (über geologische u. mineralische Studien; Farbenlehre; Konzeption der Urpflanze; Entdeckung des Zwischenkieferknochens
bei Menschen). Von sich selbst sagte er in der Wir-Form, dass er naturforschend Pantheist, dichtend Polytheist und sittlich Monotheist ist. Goethe war mit allen geistigen Strömungen
seiner Zeit vertraut. 1791—1817 war er Leiter des Weimarer Hoftheaters. Die von Eckermann
aufgezeichneten Gespräche mit Goethe fanden in den Jahren 1823 bis 1832 statt. Goethe schuf neben Schiller
das Muster des klassischen deutschen Dramas. In seinem bedeutendsten
Werk, dem »Faust«, stellt sich
der Mensch in der Spannweite seiner Möglichkeiten dar: als »Knecht« und Empörer, der - im maßlosen Streben nach geistiger Ausdehnung (Gottesmensch) und sinnlichem Genuss - von
der Idee besessen ist, die Polarität von Ich und Welt in einer andauernden Ganzheit aufzuheben. In seinem unersättlichen
Erkenntnistriebe verfällt Faustens Liebe der Magie und damit dem
Teufel. Es ist ohne Zweifel ein dem deutschen Wesen naher Teufel, dem Faust sein Seelenheil aus Wissens- und Machtgier verschreibt.
Mit seiner Lyrik eröffnete Goethe der
deutschen Sprache ganz neue Aussagemöglichkeiten und mit dem »Wilhelm
Meister« schuf er das Vorbild für den Bildungsroman des 19. Jahrhunderts. Immens ist Goethes Einfluss in der deutschen Literatur und seine wegweisende Gestaltung im deutschen Geistesleben, groß war aber auch seine Wirkung im Ausland. |
Inhaltsverzeichnis
Wie einer ist,
so ist sein Gott;
Darum ward Gott so oft zu Spott. Zahme
Xenien
Entnommen aus: Prof. Dr. Ernst Lautenbach, Goethe.
Zitate . Redensarten . Sprichwörter (S.83). Verlag Werner Dausien . Hanau
Anschauende
Urteilskraft (1817)
Als ich die Kantische Lehre wo nicht zu durchdringen doch möglichst zu
nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre
schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken
bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte,
mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend
und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen
ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen,
eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheften
trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende,
diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann
aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht,
entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt
uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen
zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:
,,Wir können uns einen Verstand denken, der, weil
er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen,
der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist,
von dem Ganzen zu den Teilen. — Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen,
daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur,
daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen
Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit
auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen
Widerspruch enthalte.“
Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen
Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen
durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben
und an das erste Wesen annähern sollen, so dürft‘ es
wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen
einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen
würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb
auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt,
eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts
weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft,
wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig
zu bestehen.
Aphorismen
zur Naturwissenschaft
[41] Unsere Zustände schreiben wir bald Gott, bald dem Teufel zu und fehlen
ein- wie das anderemal: in uns selbst liegt das Rätsel, die wir Ausgeburt
zweier Welten sind. Mit der Farbe gehts ebenso: bald sucht man sie im Lichte,
bald draußen im Weltall und kann sie gerade da nicht finden, wo sie zu
Hause ist.
[57] Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche
begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen.
[58] Begreiflich ist jedes Besondere, das sich auf irgendeine Weise anwenden
läßt. Auf diese Weise kann das Unbegreifliche nützlich werden.
[60] Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt,
ist der Vollkommenheit am nächsten
[61] Das schönste Glück
des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche
ruhig zu verehren.
[62] Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu
lösen. Philosophie deutet auf die Geheimnisse der Vernunft und sucht sie
durchs Wort zu lösen. Mystik deutet auf die Geheimnisse der Natur und Vernunft
und sucht sie durch Wort und Bild zu lösen.
[63] Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich
alle Offenbarung.
Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft,
Auswahl. Herausgegeben von Michael Böhler
Reclams Universalbibliothek Nr. 9986 (S. 40, 43-44)
© 1977 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlags
Gleiches wird nur von Gleichem erkannt
Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen
Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde;
und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht
dem äußeren entgegentrete.
Hierbei erinnern wir uns der alten ionischen Schule, welche mit so großer
Bedeutsamkeit immer wiederholte: nur von Gleichem werde Gleiches erkannt, wie
auch der Worte eines alten Mystikers, die wir in deutschen Reimen folgendermaßen
ausdrücken möchten:
Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?
Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird
niemand leugnen, aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat
mehr Schwierigkeit. Indessen wird es faßlicher, wenn man behauptet, im
Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen
oder von außen erregt werde. Wir können in der Finsternis durch Forderungen
der Einbildungskraft uns die hellsten Bilder hervorrufen. Im Traume erscheinen
uns die Gegenstände wie am vollen Tage. Im wachenden Zustande wird uns
die leiseste äußere Lichteinwirkung bemerkbar, ja wenn das Organ
einen mechanischen Anstoß erleidet, so springen Licht und Farben hervor.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, S. 42f..
Digitale Bibliothek Band 4: Johann Wolfgang Goethe: Werke . Ausgewählt
von Mathias Bertram.
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin
Die
Natur
Der aphoristische Aufsatz erschien im Journal von
Tiefurt 1782
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen — unvermögend aus
ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hinein zu kommen. Ungebeten
und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich
mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.
Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht
wieder: Alles ist neu und doch immer das Alte.
Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit
uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie
und haben doch keine Gewalt über sie.
Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts
aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte
ist unzugänglich.
Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie?
— Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoff zu den
größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten
Vollendung — zur genauesten Bestimmtheit. immer mit etwas Weichem überzogen.
Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten
Begriff, und doch macht alles eins aus.
Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch
spielt sie‘s für uns, die wir in der Ecke stehen.
Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr. und doch rückt sie
nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig. und ist kein Moment Stillestehen in
ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen
gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre
Gesetze unwandelbar.
Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern
als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr
niemand abmerken kann.
Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches
Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt‘s mit vielen
so im Verborgenen, daß sie‘s zu Ende spielt, ehe sie‘s merken.
Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas
von ihrem Genie.
Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.
Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich
selbst. Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer
läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mit
zu teilen.
Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und anderen zerstört,
den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt
sie wie ein Kind an ihr Herz.
Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieblinge,
an die sie viel verschwendet und denen sie viel auf opfert. Ans Große
hat sie ihren Schutz geknüpft.
Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht,
woher sie kommen und wohin sie gehen.
Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie.
Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.
Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist
ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu haben.
Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte.
Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg‘ und schwer, und schüttelt
ihn immer wieder auf.
Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, daß sie alle
diese Bewegung mit so wenigem erreicht. Jedes Bedürfnis ist Wohltat; schnell
befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist‘s ein
neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.
Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an und ist alle Augenblicke
am Ziele.
Sie ist die Eitelkeit selbst, aber nicht für uns, denen sie sich zur größten
Wichtigkeit gemacht hat.
Sie läßt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über
sich richten, Tausende stumpf über sich hingehen und nichts sehen und hat
an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.
Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit
ihr, auch wenn man g e g e n sie wirken will.
Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst unentbehrlich.
Sie säumet, daß man sie verlange; sie eilet, daß man sie nicht
satt werde.
Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die
sie fühlt und spricht.
Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte
zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isoliert,
um alles zusammen zu ziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe
hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.
Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und
quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich,
kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft
kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise
sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine
Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig
gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist‘s, ihre List
nicht zu merken.
Sie ist ganz und doch immer unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie‘s
immer treiben.
Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen
und Termen und ist immer dieselbe.
Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue
mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach
nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen.
Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst
Anmerkung des Herausgebers
von Philos-Website
Das Fragment »Die Natur« wurde lange Goethe zugeschrieben und ist
deshalb auch in viele Werkausgaben aufgenommen worden. Als die Handschrift kurz
vor Goethes Tod in seine Hände gelangte, konnte er sich – wie aus
nachstehendem Text hervorgeht - nicht mehr daran erinnern, sie selbst verfasst
zu haben. Heute wird der Text eher für ein Werk des Schweizer Theologen
Georg Christoph Tobler (1757 – 1812) gehalten, das vermutlich aus der
Niederschrift von Gesprächen mit Goethe entstanden ist. Goethe hatte Tobler
1779 in Genf, und wieder 1781 in Weimar getroffen.
Erläuterung
zu dem aphoristischen Aufsatz »die Natur«.
Goethe an den Kanzler von Müller.
Jener Aufsatz ist mir vor kurzem aus der brieflichen Verlassenschaft der ewig
verehrten Herzogin A n n a A m a l i a mitgeteilt worden; er ist von einer wohlbekannten
Hand geschrieben, deren ich mich in den achtziger Jahren in meinen Geschäften
zu bedienen pflegte.
Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar
nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein,
zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte. Ich möchte die Stufe
damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch
nicht erreichten Superlativ zu äußern gedrängt ist. Man sieht
die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem den Welterscheinungen ein unerforschliches,
unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht
ist, und mag als Spiel, dem es bitterer Ernst ist, gar wohl gelten.
Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen
Triebräder aller Natur: der Begriff von P o l a r i t ä t und von
S t e i g e r u n g, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr
dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem
Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber
die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam
sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich‘s
der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie
derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden,
genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen.
In jenen Jahren, wohin gedachter Aufsatz fallen möchte, war ich hauptsächlich
mit vergleichender Anatomie beschäftigt und gab mir 1784 unsägliche
Mühe, bei anderen an meiner Überzeugung: dem Menschen dürfe der
Zwischenknochen nicht abgesprochen werden, Teilnahme zu erregen. Die Wichtigkeit
dieser Behauptung wollten selbst sehr gute Köpfe nicht einsehen, die Richtigkeit
leugneten die besten Beobachter, und ich mußte, wie in so vielen anderen
Dingen, im stillen meinen Weg für mich fortgehen.
Die Versatilität [Beweglichkeit, Wandelbarkeit] der
Natur im Pflanzenreiche verfolgte ich unablässig und es glückte mir
Anno 1787 in Sizilien, die Metamorphose der Pflanzen so im Anschauen wie im
Begriff zu gewinnen. Die Metamorphose des Tierreichs lag nahe dran und im Jahre
1790 offenbarte sich mir in Venedig der Ursprung des Schädels aus Wirbelknochen;
ich verfolgte nun eifriger die Konstruktion des Typus, diktierte das Schema
im Jahre 1795 an Max Jacobi in Jena und hatte bald die Freude, von deutschen
Naturforschern mich in diesem Fache abgelöst zu sehen.
Vergegenwärtigt man sich die hohe Ausführung, durch welche die sämtlichen
Naturerscheinungen nach und nach vor dem menschlichen Geiste verkettet worden,
und liest alsdann obigen Aufsatz, von dem wir ausgingen, nochmals mit Bedacht,
so wird man nicht ohne Lächeln jenen Komparativ, wie ich ihn nannte, mit
dem Superlativ, mit dem hier abgeschlossen wird, vergleichen und eines fünfzigjährigen
Fortschreitens sich erfreuen.
Weimar, den 24. Mai 1828
Goethes Philosophie aus seinen Werken. Ein Buch für
jeden gebildeten Deutschen (S.47-52) Mit ausführlicher Einleitung herausgegeben
von Max Heynacher
Philosophische Bibliothek Band 109, Verlag von Felix Meiner / Leipzig 1922
Bedenken
und Ergebung
Wir können bei Betrachtung des Weltgebäudes in seiner weitesten Ausdehnung,
in seiner letzten Teilbarkeit uns der Vorstellung nicht erwehren, daß
dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wonach Gott in der Natur, die Natur in
Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge. Anschauung, Betrachtung,
Nachdenken führen uns näher an jene Geheimnisse. Wir erdreisten uns
und wagen auch Ideen; wir bescheiden uns und bilden Begriffe, die analog jenen
Uranfängen sein möchten.
Hier treffen wir nun auf die eigene Schwierigkeit, die nicht immer klar ins
Bewußtsein tritt, daß zwischen Idee und Erfahrung eine gewisse Kluft
befestigt scheint, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich
bemüht. Dessenungeachtet bleibt unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus [Kluft]
mit Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, Wahn und, wenn
wir sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden.
Endlich finden wir bei redlich fortgesetzten Bemühungen, daß der
Philosoph wohl möchte recht haben, welcher behauptet, daß keine Idee
der Erfahrung völlig kongruiere, aber wohl zugibt, daß Idee und Erfahrung
analog sein können, ja müssen.
Die Schwierigkeit, Idee und Erfahrung miteinander zu verbinden, erscheint sehr
hinderlich bei aller Naturforschung; die Idee ist unabhängig von Raum und
Zeit, die Naturforschung ist in Raum und Zeit beschränkt; daher ist in
der Idee Simultanes und Sukzessives [Gleichzeitiges und
Aufeinanderfolgendes] innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung
hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung, die wir der Idee gemäß
als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn
zu versetzen. Der Verstand kann nicht vereinigt denken, was die Sinnlichkeit
ihm gesondert überlieferte, und so bleibt der Widerstreit zwischen Aufgefaßtem
und Ideiertem [Gedachtem] immerfort unaufgelöst.
Deshalb wir uns denn billig zu einiger Befriedigung in die Sphäre der Dichtkunst
flüchten und ein altes Liedchen mit einiger Abwechslung erneuern:
So schauet mit bescheidnem Blick
Der ewigen Weberin Meisterstück,
Wie ein Tritt tausend Fäden regt.
Die Schifflein hinüber, herüber schießen,
Die Fäden sich begegnend hießen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt!
Das hat sie nicht zusammengebettelt,
Sie hat‘s von Ewigkeit angezettelt,
Damit der ewige Meistermann
Getrost den Einschlag werfen kann.
Bildungstrieb.
Über dasjenige, was in genannter wichtiger Angelegenheit getan sei, erklärt
sich Kant in seiner Kritik der Urteilskraft folgendermaßen:
,,In Ansehung dieser Theorie der Epigenesis
hat niemand mehr sowohl zum Beweise derselben als auch zur Gründung der
echten Prinzipien ihrer Anwendung, zum Teil durch die Beschränkung eines
zu vermessenen Gebrauchs derselben, geleistet als Herr Blumenbach.“
Ein solches Zeugnis des gewissenhaften Kant regte mich an, das Blumenbachische
Werk wieder vorzunehmen, das ich zwar früher gelesen, aber nicht durchdrungen
hatte. Hier fand ich nun meinen Caspar Friedrich Wolff als Mittelglied zwischen
Haller und Bonnet auf der einen und Blumenbach auf der andern Seite. Wolff mußte
zum Behuf seiner Epigenese ein organisches Element voraussetzen, woraus alsdann
die zum organischen Leben bestimmten Wesen sich ernährten. Er gab dieser
Materie eine vim essentialem, die sich zu allem fügt, was sich selbst hervorbringen
wollte und sich dadurch zu dem Range eines Hervorbringenden selbst erhob.
Ausdrücke der Art ließen noch einiges zu wünschen übrig;
denn an einer organischen Materie, und wenn sie noch so lebendig gedacht wird,
bleibt immer etwas Stoffartiges kleben. Das Wort Kraft bezeichnet zunächst
etwas nur Physisches, sogar Mechanisches, und das, was sich aus jener Materie
organisieren soll, bleibt uns ein dunkler, unbegreiflicher Punkt. Nun gewann
Blumenbach das Höchste und Letzte des Ausdrucks, er anthropomorphosierte
das Wort des Rätsels und nannte das, wovon die Rede war, einen nisus formativus,
einen Trieb, eine heftige Tätigkeit, wodurch die Bildung bewirkt werden
sollte.
Betrachten wir das alles genauer, so hätten wir es kürzer, bequemer
und vielleicht gründlicher, wenn wir eingestünden, daß wir,
um das Vorhandene zu betrachten, eine vorhergegangene Tätigkeit zugeben
müssen, und daß, wenn wir uns eine Tätigkeit denken wollen,
wir derselben ein schicklich Element unterlegen, worauf sie wirken konnte, und
daß wir zuletzt diese Tätigkeit mit dieser Unterlage als immerfort
zusammen bestehend und ewig gleichzeitig vorhanden denken müssen. Dieses
Ungeheure personifiziert, tritt uns als ein Gott entgegen, als Schöpfer
und Erhalter, welchen anzubeten, zu verehren und zu preisen wir auf alle Weise
aufgefordert sind.
Kehren wir in das Feld der Philosophie zurück und betrachten Evolution
und Epigenese nochmals, so scheinen dies Worte zu sein, mit denen wir uns nur
hinhalten. Die Einschachtelungslehre wird freilich einem Höhergebildeten
gar bald widerlich aber bei der Lehre eines Auf- und Annehmens wird doch immer
ein Aufnehmendes und Aufzunehmendes vorausgesetzt, und wenn wir keine Präformation
denken mögen, so kommen wir auf eine Prädelineation, Prädetermination,
auf ein Prästabilieren, und wie das alles heißen mag, was vorausgehen
müßte, bis wir etwas gewahr werden könnten.
So viel aber getraue ich mir zu behaupten, daß, wenn ein organisches Wesen
in die Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne
den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei.
Zum Schluß ein Schema, um weiteres Nachdenken aufzuregen:
Leben
Stoff. Vermögen,
Kraft, Gewalt, Streben, Trieb.
Form.
Bedenklichstes
Gar oft im Laufe des Lebens mitten in der größten Sicherheit des
Wandels bemerken wir auf einmal, daß wir in einem Irrtum befangen sind,
daß wir uns für Personen, für Gegenstände einnehmen ließen,
ein Verhältnis zu ihnen erträumten, das dem erwachten Auge sogleich
verschwindet; und doch können wir uns nicht losreißen, eine Macht
hält uns fest, die uns unbegreiflich scheint. Manchmal jedoch kommen wir
zum völligen Bewußtsein und begreifen, daß ein Irrtum so gut
als ein Wahres zur Tätigkeit bewegen und antreiben kann. Weil nun die Tat
überall entscheidend ist, so kann aus einem tätigen Irrtum etwas Treffliches
entstehen, weil die Wirkung jedes Getanen ins Unendliche reicht. So ist das
Hervorbringen freilich immer das Beste, aber auch das Zerstören ist nicht
ohne glückliche Folge.
Der wunderbarste Irrtum aber ist derjenige, der sich auf uns selbst und unsere
Kräfte bezieht, daß wir uns einem würdigen Geschäft, einem
ehrsamen Unternehmen widmen, dem wir nicht gewachsen sind, daß wir nach
einem Ziel streben, das wir nie erreichen können. Die daraus entspringende
Tantalisch-Sisyphische Qual empfindet jeder nur um desto bitterer, je redlicher
er es meinte. Und doch sehr oft, wenn wir uns von dem Beabsichtigten für
ewig getrennt sehen, haben wir schon auf unserm Wege irgend ein anderes Wünschenswerte
gefunden, etwas uns Gemäßes, mit dem uns zu begnügen wir eigentlich
geboren sind.
Goethes Philosophie aus seinen Werken. Ein Buch für
jeden gebildeten Deutschen (S.283-288) Mit ausführlicher Einleitung herausgegeben
von Max Heynacher
Philosophische Bibliothek Band 109, Verlag von Felix Meiner / Leipzig 1922
Meine
Vorstellung von der Gottheit
Ich mochte mir wohl eine Gottheit vorstellen,
die sich von Ewigkeit her selbst produziert; da sich aber Produktion
nicht ohne Mannigfaltigkeit denken läßt,
so mußte sie sich notwendig sogleich als ein Zweites
erscheinen, welches wir unter dem Namen des
Sohns anerkennen; diese beiden mußten nun den Akt
des Hervorbringens fortsetzen, und erschienen sich
selbst wieder im Dritten, welches nun ebenso bestehend
lebendig und ewig als das Ganze war. Hiermit war jedoch der Kreis
der Gottheit geschlossen, und es wäre ihnen selbst nicht möglich
gewesen, abermals ein ihnen völlig Gleiches hervorzubringen.
Da jedoch der Produktionstrieb immer fortging, so erschufen
sie ein Viertes, das aber
schon in sich einen Widerspruch hegte, indem es,
wie sie, unbedingt und doch zugleich
in ihnen enthalten und durch sie begrenzt sein sollte.
Dieses war nun Luzifer, welchem von nun an die
ganze Schöpfungskraft übertragen war, und von
dem alles übrige Sein ausgehen sollte. Er bewies sogleich seine
unendliche Tätigkeit, indem er die sämtlichen Engel
erschuf, alle wieder nach seinem Gleichnis, unbedingt, aber
in ihm enthalten und durch ihn begrenzt. Umgeben
von einer solchen Glorie vergaß er seines
höhern Ursprungs und glaubte ihn in sich selbst
zu finden, und aus diesem ersten Undank entsprang alles, was uns nicht
mit dem Sinne und den Absichten der Gottheit
übereinzustimmen scheint. Je mehr er sich nun in sich selbst konzentrierte,
je unwohler mußte es ihm werden, sowie allen den Geistern, denen er die
süße Erhebung zu ihrem Ursprung verkümmerte.
Und so ereignete sich das, was uns unter der Form
des Abfalls der Engel bezeichnet wird. Ein
Teil derselben konzentrierte sich mit Luzifer,
der andere wendete sich wieder gegen seinen Ursprung.
Aus dieser Konzentration der ganzen Schöpfung, denn sie war von
Luzifer ausgegangen und mußte ihm folgen, entsprang nun alles das,
was wir unter der Gestalt der Materie gewahr werden, was wir uns als schwer,
fest und finster vorstellen, welches aber, indem es, wenn auch nicht unmittelbar,
doch durch Filiation [»Abstammung«]
vom göttlichen Wesen herstammt,
ebenso unbedingt mächtig und ewig ist als der Vater
und die Großeltern. Da nun das ganze Unheil, wenn wir es
so nennen dürfen, bloß durch die einseitige Richtung Luzifers entstand;
so fehlte freilich dieser Schöpfung die bessere Hälfte: denn alles,
was durch Konzentration gewonnen wird, besaß sie, aber es fehlte ihr alles,
was durch Expansion allein bewirkt werden kann;
und so hätte die sämtliche Schöpfung durch immerwährende
Konzentration sich selbst aufreiben, sich mit ihrem Vater
Luzifer vernichten und alle ihre Ansprüche
an eine gleiche Ewigkeit mit der
Gottheit verlieren können.
Diesem Zustand sahen die Elohim eine Weile zu,
und sie hatten die Wahl, jene Äonen abzuwarten, in welchen das Feld wieder
rein geworden und ihnen Raum zu einer neuen Schöpfung geblieben wäre,
oder ob sie in das Gegenwärtige eingreifen und dem Mangel nach ihrer Unendlichkeit
zu Hilfe kommen wollten. Sie erwählten nun das letztere, und supplierten
durch ihren bloßen Willen in einem Augenblick den ganzen Mangel, den der
Erfolg von Luzifers Beginnen an sich trug. Sie gaben dem
unendlichen Sein die Fähigkeit, sich auszudehnen, sich gegen sie zu bewegen;
der eigentliche Puls des Lebens war wieder hergestellt, und Luzifer selbst konnte
sich dieser Einwirkung nicht entziehen. Dieses ist die Epoche, wo dasjenige
hervortrat, was wir als Licht kennen, und wo dasjenige begann, was wir mit dem
Worte Schöpfung zu bezeichnen pflegen. So sehr sich auch nun diese durch
die immer fortwirkende Lebenskraft der Elohim
stufenweise vermannigfaltigte; so fehlte
es doch noch an einem Wesen, welches die ursprüngliche
Verbindung mit der Gottheit wieder herzustellen geschickt wäre,
und so wurde der Mensch hervorgebracht,
der in allem der Gottheit ähnlich, ja gleich sein
sollte, sich aber freilich dadurch abermals in dem Falle
Luzifers befand, zugleich unbedingt und
beschränkt zu sein, und da dieser Widerspruch
durch alle Kategorien des Daseins sich an ihm manifestieren und ein vollkommenes
Bewußtsein sowie ein entschiedener Wille seine Zustände begleiten
sollte; so war vorauszusehen, daß er zugleich das
Vollkommenste und Unvollkommenste, das glücklichste und unglücklichste
Geschöpf werden müsse. Es währte nicht lange, so spielte er auch
völlig die Rolle des Luzifer.
Die Absonderung vom Wohltäter
ist der eigentliche Undank, und so ward
jener Abfall zum zweitenmal eminent, obgleich die ganze
Schöpfung
nichts ist und nichts war, als ein Abfallen und Zurückkehren zum Ursprünglichen.
Man sieht leicht, wie hier die Erlösung
nicht allein von Ewigkeit
her beschlossen, sondern als ewig notwendig gedacht wird, ja daß
sie durch die ganze Zeit des Werdens
und Seins sich immer
wieder erneuern muß. Nichts ist in diesem Sinne natürlicher,
als daß die Gottheit selbst
die Gestalt des Menschen
annimmt, die sie sich zu einer Hülle
schon vorbereitet hatte, und daß sie die Schicksale
desselben auf kurze Zeit teilt, um durch diese Verähnlichung das
Erfreuliche zu erhöhen und das Schmerzliche zu mildern.
Die Geschichte
aller Religionen
und Philosophien
lehrt uns, daß diese große, den Menschen unentbehrliche
Wahrheit
von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei Weise, ja
in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß
überliefert worden; genug, wenn nur anerkannt wird, daß wir
uns in einem Zustande befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu
drücken scheint, dennoch Gelegenheit gibt, ja zur Pflicht
macht, uns zu erheben und die Absichten
der Gottheit dadurch zu erfüllen, daß wir, indem wir
von einer Seite uns zu verselbsten genötiget sind, von der andern in regelmäßigen
Pulsen uns zu entselbstigen nicht versäumen.
Aus: Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, Achtes Buch,
(Insel Verlag, Goethe Werke Fünfter Band, S.315-318)
Glaubensfragen
Wir sind naturforschend Pantheisten,
dichtend Polytheisten, sittlich
Monotheisten.
Nachlaß
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren
Ton ausgewählt von Richard Friedenthal (S.16) Deutscher Bücherbund
Stuttgart . Hamburg
»Ich glaube einen Gott«! dies
ist ein schönes löbliches Wort; aber Gott
anerkennen wo und wie er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit
auf Erden.
Gott, wenn wir hoch stehen, ist alles; stehen
wir niedrig, so ist er ein Supplement unserer Armseligkeit.
Nachlaß
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren
Ton ausgewählt von Richard Friedenthal (S.17) Deutscher Bücherbund
Stuttgart . Hamburg
Kein organisches
Wesen ist ganz der
Idee, die zugrunde liegt,
entsprechend; hinter jedem steckt die höhere Idee:
Das ist mein Gott,
das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir
können ihn nur ahnen, nicht schauen. Zu Müller,
7. 5. 1830
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren Ton ausgewählt
von Richard Friedenthal (S.19) Deutscher Bücherbund Stuttgart . Hamburg
Wenn man das Treiben und Tun der Menschen seit Jahrtausenden überblickt,
so lassen sich einige allgemeine Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraft
über ganze Nationen, wie über die Einzelnen ausgeübt haben, und
diese Formeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbrämungen
dieselben, sind die geheimnisvolle Mitgabe einer höheren
Macht ins Leben.
Wohl übersetzt sich jeder diese Formeln in die ihm eigentümliche Sprache,
paßt sie auf mannigfache Weise seinen beengten individuellen Zuständen
an und mischt dadurch oft so viel Unlauteres darunter, daß sie kaum mehr
in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu erkennen sind. Aber diese letztere
taucht doch immer wieder unversehens auf, bald in diesem, bald in jenem Volke,
und der aufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln
eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammen. Zu
Müller, 29. 4. 1818
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren
Ton ausgewählt von Richard Friedenthal (S.19f.) Deutscher Bücherbund
Stuttgart . Hamburg
Die Welt
soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen. Immer sind
die retardierenden Dämonen
da, die überall dazwischen- und überall entgegentreten, so
daß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam... Laß
die Menschheit dauern so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen,
die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Not, damit sie ihre Kräfte
entwickele. Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher
und tatkräftiger nicht, oder doch nur Epochen. Ich sehe die Zeit kommen,
wo Gott keine Freude
mehr an ihr hat, und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten
Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles
danach angelegt, und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest,
wann diese Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher
noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende
auch auf dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben.
Zu Eckermann, 23. 10. 1828
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren Ton ausgewählt
von Richard Friedenthal (S.20) Deutscher Bücherbund
Stuttgart . Hamburg
Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht,
es ist seiner Natur gemäß, und er darf auf religiöse Zusagen
bauen; wenn aber der Philosoph den Beweis für die Unsterblichkeit unserer
Seele aus einer Legende hernehmen will, so ist das sehr schwach und will nicht
viel heißen. Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus
dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke,
so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen,
wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag. Zu
Eckermann, 4. 2. 1829
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren
Ton ausgewählt von Richard Friedenthal (S.20) Deutscher Bücherbund
Stuttgart . Hamburg
Mein
Zutrauen zu Spinoza
Dichtung und Wahrheit, Vierter
Teil, Sechzehntes Buch
Wie man zu sagen pflegt: daß kein Unglück allein komme, so läßt
sich auch wohl bemerken, daß es mit dem Glück ähnlicher Weise
beschaffen sei; ja auch mit andern Umständen, die sich auf eine harmonische
Weise um uns versammeln; - es sei nun, daß ein Schicksal dergleichen auf
uns lege, oder daß der Mensch die Kraft habe, das, was zusammengehört,
an sich heranzuziehen.
Wenigstens machte ich diesmal die Erfahrung, daß alles übereinstimmte,
um einen äußeren und inneren Frieden hervorzubringen. Jener ward
mir zuteil, indem ich den Ausgang dessen gelassen abwartete, was man für
mich im Sinne hegte und vornahm; zu diesem aber sollte ich durch erneute Studien
gelangen.
Ich hatte lange nicht an Spinoza gedacht, und nun
ward ich durch Widerrede zu ihm getrieben. In unsrer Bibliothek fand ich ein
Büchlein, dessen Autor gegen jenen eigenen Denker heftig kämpfte,
und, um dabei recht wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenüber
gesetzt hatte, mit der Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, daß
er nämlich das Zeichen der Verwerfung und Verworrenheit im Angesicht trage.
Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht leugnen: denn der
Kupferstich war erbärmlich schlecht und eine vollkommne Fratze; wobei mir
denn jene Gegner einfallen mußten, die irgend jemand, dem sie mißwollen,
zuvörderst entstellen und dann als ein Ungeheuer bekämpfen.
Dieses Büchlein jedoch machte keinen Eindruck auf mich, weil ich überhaupt
Kontroversen nicht liebte; indem ich immer lieber von dem Menschen erfahren
mochte, wie er dachte, als von einem andern hören, wie er hätte denken
sollen. Doch führte mich die Neugierde auf den Artikel »Spinoza«
in Bayles Wörterbuch, einem Werke, das wegen
Gelehrsamkeit und Scharfsinn ebenso schätzbar und
nützlich, als wegen Klätscherei und Salbaderei lächerlich und
schädlich ist.
Der Artikel »Spinoza« erregte in mir
Mißbehagen und Mißtrauen. Zuerst sogleich wird der Mann als Atheist,
und seine Meinungen als höchst verwerflich angegeben;
sodann aber zugestanden, daß er ein ruhig nachdenkender
und seinen Studien obliegender Mann, ein guter
Staatsbürger, ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen;
und so schien man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben:
an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! - Denn wie will doch ein
Menschen und Gott gefälliges Leben aus verderblichen Grundsätzen entspringen?
Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich
gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes
durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß
ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals
zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft
wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem
ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.
Da über diesen Gegenstand so viel und auch in der neuern Zeit gestritten
worden, so wünschte ich nicht mißverstanden zu werden und will hier
einiges über jene so gefürchtete, ja verabscheute Vorstellungsart
einzurücken nicht unterlassen.
Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit,
Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis, alles
ruft uns zu, daß wir entsagen sollen. So manches, was uns innerlich
eigenst angehört, sollen wir nicht nach außen hervorbilden, was wir
von außen zu Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns entzogen,
dagegen aber so vieles aufgedrungen, das uns so fremd als lästig ist. Man
beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten, und ehe
wir hierüber recht ins klare sind, finden wir uns genötigt, unsere
Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben. Dabei
ist es aber hergebracht, daß man denjenigen nicht achtet, der sich deshalb
ungebärdig stellt, vielmehr soll man, je bittrer der Kelch ist, eine desto
süßere Miene machen, damit ja der gelassene Zuschauer nicht durch
irgend eine Grimasse beleidigt werde.
Diese schwere Aufgabe jedoch zu lösen, hat die Natur den Menschen mit reichlicher
Kraft, Tätigkeit und Zähigkeit ausgestattet. Besonders aber kommt
ihm der Leichtsinn zu Hilfe, der ihm unzerstörlich
verliehen ist. Hiedurch wird er fähig, dem Einzelnen in jedem Augenblick
zu entsagen, wenn er nur in dem andern nach etwas Neuem greifen darf; und so
stellen wir uns unbewußt unser ganzes Leben immer wieder her. Wir setzen
eine Leidenschaft an die Stelle der andern; Beschäftigungen, Neigungen,
Liebhabereien, Steckenpferde, alles probieren wir durch, um zuletzt auszurufen,
daß alles eitel sei. Niemand entsetzt sich vor diesem falschen, ja gotteslästerlichen
Spruch, ja man glaubt etwas Weises und Unwiderlegliches gesagt zu haben. Nur
wenige Menschen gibt es, die diese unerträgliche Empfindung vorausahnden,
und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal
im ganzen resignieren.
Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen,
Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich
sind, ja durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern
viel mehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich
etwas Übermenschliches
liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten,
für Gott- und Weltlose; ja man weiß nicht, was man ihnen alles
für Hörner und Klauen andichten soll.
Mein Zutrauen auf Spinoza
ruhte auf der friedlichen Wirkung, die er in mir hervorbrachte, und es vermehrte
sich nur, als man meine werten Mystiker des Spinozismus
anklagte; als ich erfuhr, daß Leibniz
selbst diesem Vorwurf nicht entgehen können, ja daß Boerhaave,
wegen gleicher Gesinnungen verdächtig, von der Theologie
zur Medizin übergehen müssen.
Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften
hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich bekennen mögen.
Denn daß niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten
dasselbe was der andere denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre
bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon
allzu deutlich eingesehn, und man wird dem Verfasser von »Werther«
und »Faust« wohlzutrauen, daß
er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst
den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der, als Schüler
von Descartes, durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel
des Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller
spekulativen Bemühungen zu sein scheint.
Was ich mir aber aus ihm zugeeignet, würde sich deutlich genug darstellen,
wenn der Besuch, den der ewige Jude
bei Spinoza abgelegt, und den ich als ein wertes
Ingrediens zu jenem Gedichte mir ausgedacht hatte, niedergeschrieben übrig
geblieben wäre. Ich gefiel mir aber in dem Gedanken so wohl, und beschäftigte
mich im stillen so gern damit, daß ich nicht dazu gelangte, etwas aufzuschreiben;
dadurch erweiterte sich aber der Einfall, der als vorübergehender Scherz
nicht ohne Verdienst gewesen wäre, dergestalt, daß er seine Anmut
verlor und ich ihn als lästig aus dem Sinne schlug. Insofern mir aber die
Hauptpunkte jenes Verhältnisses zu Spinoza unvergeßlich geblieben
sind, indem sie eine große Wirkung auf die Folge meines Lebens ausübten,
will ich so kurz und bündig als möglich eröffnen und darstellen.
Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen
Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte.
Alle Menschen sind hierin, unbewußt, vollkommen einig. Man bedenke,
wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf Willkür
deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt.
Wenn sich in Tieren etwas Vernunftähnliches hervortut, so können wir
uns von unserer Verwunderung nicht erholen: denn ob sie uns gleich so nahe stehen,
so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns getrennt und in das
Reich der Notwendigkeit verwiesen. Man kann es daher jenen Denkern nicht übernehmen,
welche die unendlich kunstreiche aber doch genau beschränkte Technik jener
Geschöpfe für ganz maschinenmäßig erklärten.
Wenden wir uns zu den Pflanzen, so wird unsre Behauptung noch auffallender bestätigt.
Man gebe sich Rechenschaft von der Empfindung, die uns ergreift, wenn die berührte
Mimosa ihre gefiederten Blätter paarweise zusammen faltet, und endlich
das Stielchen wie an einem Gewerbe niederklappt. Noch höher steigt jene
Empfindung, der ich keinen Namen geben will, bei Betrachtung des Hedysarum gyrans,
das seine Blättchen, ohne sichtlich äußere Veranlassung, auf
und nieder senkt und mit sich selbst, wie mit unsern Begriffen, zu spielen scheint.
Denke man sich einen Pisang, dem diese Gabe zugeteilt wäre, so daß
er die ungeheuren Blätterschirme für sich selbst wechselsweise niedersenkte
und aufhöbe, jedermann, der es zum erstenmal sähe, würde vor
Entsetzen zurücktreten. So eingewurzelt ist bei uns der Begriff unsrer
eignen Vorzüge, daß wir ein für allemal der Außenwelt
keinen Teil daran gönnen mögen, ja daß wir dieselben, wenn es
nur anginge, sogar unsresgleichen gerne verkümmerten.
Ein ähnliches Entsetzen überfällt uns dagegen, wenn wir den Menschen
unvernünftig gegen allgemein anerkannte sittliche Gesetze, unverständig
gegen seinen eignen und fremden Vorteil handeln sehen. Um das Grauen
loszuwerden, das wir dabei empfinden, verwandeln wir es sogleich in Tadel, in
Abscheu und wir suchen uns von einem solchen Menschen entweder wirklich oder
in Gedanken zu befreien.
Diesen Gegensatz, welchen Spinoza
so kräftig heraushebt, wendete ich aber auf mein eignes Wesen sehrwunderlich
an, und das Vorhergesagte soll eigentlich nur dazu dienen, um das, was folgt,
begreiflich zu machen. ...
Werke: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit,
S. 1068ff. Digitale Bibliothek Band 4: Goethe, S. 11006ff. (vgl. Goethe-HA Bd.
10, S. 75ff)
Studie
nach Spinoza
Der Begriff vom Dasein und der Vollkommenheit ist ein und ebenderselbe; wenn
wir diesen Begriff so weit verfolgen, als es uns möglich ist, so sagen
wir, daß wir uns das Unendliche denken.
Das Unendliche aber oder die
vollständige Existenz kann von uns nicht gedacht
werden.
Wir können nur Dinge denken, die entweder
beschränkt sind oder die sich unsre
Seele beschränkt. Wir haben also insofern einen Begriff vom Unendlichen,
als wir uns denken können, daß
es eine vollständige Existenz gebe, welche
außer der Fassungskraft
eines beschränkten Geistes ist.
Man kann nicht sagen, daß das Unendliche Teile
habe.
Alle beschränkte Existenzen sind im Unendlichen,
sind aber keine Teile des Unendlichen,
sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit.
Wir können uns nicht denken, daß etwas Beschränktes
durch sich selbst existiere, und doch existiert
alles wirklich durch sich selbst, obgleich die Zustände so verkettet sind,
daß einer aus dem andern sich entwickeln muß und es also scheint,
daß ein Dingvom andern hervorgebracht werde, welches aber nicht ist, sondern
ein lebendiges Wesen gibt dem andern Anlaß, zu sein, und nötigt es,
in einem bestimmten Zustand zu existieren.
Jedes existierende Ding hat also sein Dasein
in sich, und so auch die Übereinstimmung,
nach der es existiert.
Das Messen eines Dings ist eine grobe Handlung, die auf lebendige Körper
nicht anders als höchst unvollkommen angewendet
werden kann.
Ein lebendig existierendes Ding kann durch nichts
gemessen werden, was außer ihm ist, sondern
wenn esja geschehen sollte, müßte es den Maßstab
selbst dazu hergeben; dieser aber ist höchst
geistig und kann durch die Sinne nicht gefunden
werden; schon beim Zirkel läßt sich das Maß
des Diameters nicht auf die Peripherie anwenden. So hat man den Menschen
mechanisch messen wollen, die Maler haben den Kopf als den vornehmsten Teil
zu der Einheit des Maßes genommen, es läßt sich aber doch dasselbe
nicht ohne sehr kleine und unaussprechliche Brüche auf die übrigen
Glieder anwenden.
In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich
vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können,
und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum
Maß der Teile angewendet werden, und so nimmt, wie wir oben gesagt haben,
ein eingeschränktes lebendiges Wesen teil an der
Unendlichkeit oder vielmehr, es hat etwas Unendliches
in sich, wenn wir nicht lieber sagen wollen, dass wir den Begriff der
Existenz und der Vollkommenheit des eingeschränktesten lebendigen Wesens
nicht ganz fassen können und es also ebenso
wie das ungeheure
Ganze, in dem alle Existenzen begriffen sind, für unendlich
erklären müssen.
Der Dinge, die wir gewahr werden, ist eine ungeheure Menge, die Verhältnisse
derselben, die unsre Seele ergreifen kann, sind äußerst
mannigfaltig. Seelen, die eine
innre Kraft haben, sich auszubreiten, fangen
an zu ordnen, um sich die Erkenntnis
zu erleichtern, fangen an zu fügen und zu
verbinden, um zum Genuß zu gelangen.
Wir müssen also alle Existenz und Vollkommenheit in
unsre Seele dergestalt beschränken, daß
sie unsrer Natur und
unsrer Art zu denken
und zu empfinden angemessen werden; dann sagen
wir erst, daß wir eine Sache begreifen oder
sie genießen.
Wird die Seele ein Verhältnis gleichsam im Keime gewahr, dessen Harmonie,
wenn sie ganz entwickelt wäre, sie nicht
ganz auf einmal überschauen oder empfinden könnte, so nennen wir diesen
Eindruck erhaben, und es ist der herrlichste,
der einer menschlichen Seele
zuteile werden kann.
Wenn wir ein Verhältnis erblicken, welches in seiner ganzen
Entfaltung zu überschauen oder zu ergreifen das Maß unsrer
Seele eben hinreicht, dann nennen wir den Eindruck groß.
Wir haben oben gesagt, daß alle lebendig existierende
Dinge ihr Verhältnis in sich haben; den Eindruck also, den sie sowohl
einzeln als in Verbindung mit andern auf uns machen,
wenn er nur aus ihrem vollständigen Dasein
entspringt, nennen wir wahr, und wenn dieses
Dasein teils auf eine solche Weise beschränkt ist, daß wir es leicht
fassen können, und in einem solchen Verhältnis zu unsrer Natur stehet,
daß wir es gern ergreifen mögen, nennen wir den Gegenstand schön.
Ein Gleiches geschieht, wenn sich Menschen nach ihrer Fähigkeit ein Ganzes,
es sei so reich oder arm als es wolle, von dem Zusammenhange der Dinge gebildet
und nunmehr den Kreis zugeschlossen haben.
Sie werden dasjenige, was sie am bequemsten denken, worin sie einen Genuß
finden können, für das Gewisseste und Sicherste halten, ja man wird
meistenteils bemerken, daß sie andere, welche sich
nicht so leicht beruhigen und mehr Verhältnisse
göttlicher und menschlicher Dinge aufzusuchen und zu erkennen streben,
mit einem zufriedenen Mitleid ansehen und bei jeder Gelegenheit bescheiden
trotzig merken lassen, daß sie im Wahren eine Sicherheit
gefunden, welche über allen Beweis und Verstand
erhaben sei. Sie können nicht genug
ihre innere beneidenswerte Ruhe und Freude rühmen und diese Glückseligkeit
einem jeden als das letzte Ziel andeuten.
Da sie aber weder klar zu entdecken imstande sind, auf
welchem Weg sie zu dieser Überzeugung gelangen, noch was
eigentlich der Grund derselbigen sei, sondern bloß
von Gewißheit als Gewißheit sprechen,
so bleibt auch dem Lehrbegierigen wenig
Trost bei ihnen, indem er immer hören muß, das Gemüt
müsse immer einfältiger und einfältiger werden, sich nur
auf einen Punkt hin richten, sich aller mannigfaltigen
verwirrenden Verhältnisse entschlagen, und nur alsdenn könne
man aber auch um desto sicherer in einem Zustande sein Glück finden, der
ein freiwilliges Geschenk und eine besondere Gabe Gottes
sei.
Nun möchten wir zwar nach unsrer Art zu denken diese Beschränkung
keine Gabe nennen, weil ein Mangel nicht als eine
Gabe angesehen werden kann, wohl aber möchten wir es als eine
Gnade der Natur ansehen, daß sie, da der Mensch nur meist zu unvollständigen
Begriffen zu gelangen imstande ist, sie ihn doch mit einer solchen Zufriedenheit
[in] seiner Enge versorgt hat.
Digitale Bibliothek Band 4: Goethe, S. 8164 (vgl.
Goethe-BA Bd. 18, S. 140 ff.)
Notiz
anläßlich des Spinoza
Separatim de Deo, et natura rerum disserere difficile
et periculosum est, eodem modo quam si de corpore et anima sejunctim cogitamus;
animam non nisi mediante corpore, Deum non nisi perspecta natura cognoscimus,
hinc absurdum mihi videtur, eos absurditatis accusare, qui ratiocinatione maxime
philosophica Deum cum mundo conjunxere. Quae enim sunt, omnia ad essentiam Dei
pertinere necesse est, cum Deus sit unicum existens, et omnia comprehendat.
(Gott und die Natur der Dinge getrennt zu behandeln ist
schwer und gefährlich, ebenso wie wenn wir über Körper und Seele
gesondert nachdenken; die Seele erkennen wir nur vermittelst des Körpers,
Gott nur durch die Betrachtung der Natur. Daher scheint es mir unsinnig, diejenigen
des Unsinns zu bezichtigen, welche auf Grund überaus philosophischer Überlegung
Gott mit der Welt verbunden haben. Was auch immer existiert, es muß alles
mit Notwendigkeit zum Wesen Gottes gehören, weil Gott das einzige Seiende
ist und alles umfaßt.) S. 295
Aus: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden. Band 1: Auf
dem Wege zur Klassik, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei
441
Die
dreifache Ehrfurcht
Aus „Wilhelm Meisters
Wanderjahre": Erster Teil, II. Buch, l. Kapitel. (Vollständige Ausgabe
der Wanderjahre 1829; die Schilderung der „pädagogischen Provinz"
schon in der Ausgabe des ersten Teils von 1821.)
Nun stand Wilhelm am Tor eines mit hohen Mauern umgebenen Talwaldes; auf ein
gewisses Zeichen eröffnete sich die kleine Pforte, und ein ernster, ansehnlicher
Mann empfing unsern Freund. Dieser fand sich in einem großen, herrlich
grünenden Raum, von Bäumen und Büschen vielerlei Art beschattet,
kaum daß er stattliche Mauern und an¬sehnliche Gebäude durch
diese dichte und hohe Naturpflanzung hindurch bemerken konnte; ein freundlicher
Empfang von Dreien, die sich nach und nach herbeifanden, löste sich endlich
in, ein Gespräch auf, wozu jeder das Seinige beitrug, dessen Inhalt wir
jedoch in der Kürze zusammenfassen.
„Da Ihr uns Euren Sohn vertraut," sagten sie, „sind wir schuldig,
Euch tiefer in unser Verfahren hineinblicken zu lassen. Ihr habt manches Äußerliche
gesehen, welches nicht sogleich sein Verständnis mit sich führt; was
davon wünscht Ihr vor allem aufgeschlossen?"
„Anständige, doch seltsame Gebärden und Grüße hab'
ich bemerkt, deren Bedeutung ich zu erfahren wünschte; bei euch bezieht
sich gewiß das Äußere aufs Innere, und umgekehrt; laßt
mich diesen Bezug erfahren."
„Wohlgeborne, gesunde Kinder," versetzten jene, „bringen viel
mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig
hätte; dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, öfters entwickelt
sich's besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch
ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein
Mensch sei: Könnt Ihr es selbst finden, so sprecht es aus." Wilhelm
bedachte sich eine kurze Zeit und schüttelte sodann den Kopf.
Jene, nach einem anständigen Zaudern, riefen: „Ehrfurcht!"
Wilhelm stutzte. „Ehrfurcht!" hieß
es wiederholt. „Allen fehlt sie, vielleicht Euch selbst."
„Dreierlei Gebärde habt Ihr gesehen, und wir
überliefern eine dreifache Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenfließt
und ein Ganzes bildet, erst ihre höchste Kraft und Wirkung erreicht.
Das erste ist: Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. Jene Gebärde,
die Arme kreuzweis über die Brust, einen freudigen Blick gen Himmel, das
ist, was wir unmündigen Kindern auflegen und zugleich das Zeugnis von ihnen
verlangen, daß ein Gott da droben sei, der sich
in Eltern, Lehrern, Vorgesetzten abbildet und offenbart.
Das zweite: Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist. Die
auf den Rücken gefalteten, gleichsam gebundenen Hände, der gesenkte,
lächelnde Blick sagen, daß man die Erde wohl und heiter zu betrachten
habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gewährt unsägliche Freuden;
aber unverhältnismäßige Leiden bringt sie. Wenn einer sich körperlich
beschädigte, verschuldend oder unschuldig, wenn ihn andere vorsätzlich
oder zufällig verletzten, wenn das irdische Willenlose ihm ein Leid zufügte,
das bedenk' er wohl: denn solche Gefahr begleitet ihn sein Leben lang.
Aber aus dieser Stellung befreien wir unsern Zögling baldmöglichst,
sogleich wenn wir überzeugt sind, daß die Lehre dieses Grades genugsam
auf ihn gewirkt habe; dann aber heißen wir ihn sich ermannen, gegen Kameraden
gewendet nach ihnen sich richten. Nun steht er strack und kühn, nicht etwa
selbstisch vereinzelt; nur in Verbindung mit seinesgleichen
macht er Fronte gegen die Welt. Weiter wüßte wir nichts hinzuzufügen:
„Es leuchtet mir ein!" versetzte Wilhelm; „deswegen liegt die
Menge wohl so im Argen, weil sie sich nur im Element des Mißwollens und
Mißredens behagt; wer sich diesem überliefert, verhält sich
gar bald gegen Gott gleichgültig, verachtend gegen die Welt, gegen seinesgleichen
gehässig; das wahre, echte, unentbehrliche Selbstgefühl aber zerstört
sich in Dünkel und Anmaßung. Erlauben Sie mir dessen ungeachtet,"
fuhr Wilhelm fort, „ein einziges einzuwenden: Hat man nicht von jeher
die Furcht roher Völker vor mächtigen Naturerscheinungen und sonst
unerklärlichen, ahnungsvollen Ereignissen für
den Keim gehalten, woraus ein höheres Gefühl, eine reinere Gesinnung
sich stufenweise entwickeln sollte?"
Hierauf erwiderten jene: „Der Natur ist Furcht wohl
gemäß, Ehrfurcht aber nicht; man fürchtet ein bekanntes oder
unbekanntes mächtiges Wesen; der Starke sucht es zu bekämpfen, der
Schwache zu vermeiden, beide wünschen, es los zu werden, und fühlen
sich glücklich, wenn sie es auf kurze Zeit beseitigt haben, wenn ihre Natur
sich zur Freiheit und Unabhängigkeit einigermaßen wieder herstellte.
Der natürliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in
seinem Leben: von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er
in die Flucht getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist
leicht, aber beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. Ungern
entschließt sieh der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr entschließt
sich nie dazu; es ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden
muß, und der sich nur bei besonders Begünstigten aus sich selbst
entwickelt, die man auch deswegen von jeher für Heilige,
für Götter gehalten. Hier liegt die Würde, hier das Geschäft
aller echten Religionen, deren es auch nur dreie gibt, nach den Objekten, gegen
welche sie ihre An¬dacht wenden.“
Die Männer hielten inne, Wilhelm schwieg eine Weile nachdenkend; da er
in sich aber die Anmaßung nicht fühlte, den Sinn jener sonderbaren
Worte zu deuten, so bat er die Würdigen, in ihrem Vortrage fortzufahren,
worin sie ihm denn auch sogleich willfahrten.
„Keine Religion“, sagten sie, „die sich auf Furcht gründet,
wird unter uns geachtet. Bei der Ehrfurcht, die der Mensch in sich walten läßt,
kann er, indem er Ehre gibt, seine Ehre behalten; er ist nicht mit sich selbst
veruneint wie in jenem Falle.
Die Religion, welche auf Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, beruht,
nennen wir die ethnische; es ist die Religion der
Völker und die erste glückliche Ablösung von einer niedern Furcht;
alle sogenannten heidnischen Religionen sind von dieser Art, sie mögen
übrigens Namen haben, wie sie wollen.
Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet,
die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische:
denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere
zu sich herab, alles Niedere zu sich herauf ziehen, und nur in diesem Mittelzustand
verdient er den Namen des Weisen. Indem er nun das Verhältnis zu seinesgleichen
und also zur ganzen Menschheit, das Verhältnis zu allen übrigen irdischen
Umgebungen, notwendigen und zufälligen, durchschaut, lebt er im kosmischen
Sinne allein in der Wahrheit.
Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen; gegründet auf die Ehrfurcht
vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche,
weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart; es ist ein Letztes,
wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu,
die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren
Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung,
Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde
selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des
Heiligen zu verehren und liebzugewinnen! Hiervon finden sich freilich Spuren
durch alle Zeiten; aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist,
so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und man
darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist,
nicht wieder verschwinden kann, da sie sich einmal göttlich verkörpert
hat, nicht wieder aufgelöst werden mag.“
„Zu welcher von diesen Religionen bekennt ihr euch denn insbesondere?"
sagte Wilhelm.
„Zu allen dreien," erwiderten jene;
„denn sie zusammen bringen eigentlich die wahre
Religion hervor; aus diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht,
die Ehrfurcht vor sich selbst, und jene entwickeln sich abermals aus dieser,
so daß der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig
ist, daß er sich selbst für das Beste halten darf, was Gott und Natur
hervorgebracht haben, ja, daß er auf dieser Höhe verweilen kann,
ohne durch Dünkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden.“
„Ein solches Bekenntnis, auf diese Weise entwickelt, befremdet mich nicht,"
versetzte Wilhelm; „es kommt mit allem überein, was man im Leben
hie und da vernimmt, nur daß euch dasjenige vereinigt, was andere trennt."
Hiernach versetzten jene: „Schon wird dieses Bekenntnis von einem großen
Teil der Welt ausgesprochen, doch unbewußt.“
„Wie denn und wo?" fragte Wilhelm.
„Im Credo!" riefen jene laut.
„Denn der erste Artikel ist ethnisch und gehört
allen Völkern;
der zweite christlich, für die mit Leiden
Kämpfenden und in Leiden Verherrlichten;
der dritte zuletzt lehrt eine begeisterte
Gemeinschaft der Heiligen, welches heißt: der im höchsten
Grad Guten und Weisen.
Sollten daher die drei göttlichen Personen, unter deren Gleichnis und Namen
solche Überzeugungen und Verheißungen ausgesprochen sind, nicht billigermaßen
für die höchste Einheit gelten?"
„Ich danke," versetzte jener, „daß ihr mir dieses, als
einem Erwachsenen, dem die drei Sinnesarten nicht fremd sind, so klar und zusammenhängend
aussprechen wollen, und wenn ich nun zurückdenke, daß ihr den Kindern
diese hohe Lehre erst als sinnliches Zeichen, dann mit einigem symbolischen
Anklang überliefert und zuletzt die oberste Deutung ihnen entwickelt, so
muß ich es höchlich billigen!“
S.84-88
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher
der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925
Urworte.
Orphisch
Nachstehende fünf Stanzen sind schon im zweiten Heft der »Morphologie«
abgedruckt, allein sie verdienen wohl einem größeren Publikum bekannt
zu werden; auch haben Freunde gewünscht, daß zum Verständnis
derselben einiges geschähe, damit dasjenige, was sich hier fast nur ahnen
läßt, auch einem klaren Sinne gemäß und einer reinen Erkenntnis
übergeben
sei.
Was nun von älteren und neueren orphischen Lehren überliefert worden,
hat man hier zusammenzudrängen, poetisch-kompendios, lakonisch vorzutragen
gesucht. Diese wenigen Strophen enthalten viel Bedeutendes in einer Folge, die,
wenn man sie erst kennt, dem Geiste die wichtigsten Betrachtungen
erleichtert.
Daimôn, Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Der Bezug der Überschrift auf die Strophe selbst bedarf einer Erläuterung.
Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt
unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person, das Charakteristische,
wodurch sich der Einzelne von jedem andern bei noch so großer Ähnlichkeit
unterscheidet. Diese Bestimmung schrieb man dem einwirkenden Gestirn
zu, und es ließen sich die unendlich mannigfaltigen Bewegungen und Beziehungen
der Himmelskörper unter sich selbst und zu der Erde gar schicklich mit
den mannigfaltigen Abwechselungen der Geburten in Bezug stellen. Hiervon sollte
nun auch das künftige Schicksal des Menschen ausgehen, und man möchte,
jenes erste zugebend, gar wohl gestehen, daß angeborne Kraft und Eigenheit
mehr als alles übrige des Menschen Schicksal bestimme.
Deshalb spricht diese Strophe die Unveränderlichkeit
des Individuums mit wiederholter Beteuerung aus. Das noch so entschieden
Einzelne kann als ein Endliches gar wohl zerstört, aber, solange sein Kern
zusammenhält, nicht zersplittert noch zerstückelt werden, sogar durch
Generationen hindurch.
Dieses feste, zähe, dieses nur aus sich selbst zu
entwickelnde Wesen kommt freilich in mancherlei Beziehungen, wodurch
sein erster und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in
seinen Neigungen gehindert wird, und was hier nun eintritt, nennt unsere Philosophie
Tychê, das Zufällige
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ist's bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.
Zufällig ist es
jedoch nicht, daß einer aus dieser oder jener Nation, Stamm oder Familie
sein Herkommen ableite: denn die auf der Erde verbreiteten Nationen sind so
wie ihremannigfaltigen Verzweigungen als Individuen anzusehen, und die Tyche
kann nur bei Vermischung und Durchkreuzung eingreifen. Wir sehen das wichtige
Beispiel von hartnäckiger Persönlichkeit solcher Stämme an der
Judenschaft; europäische Nationen, in andere
Weltteile versetzt, legen ihren Charakter nicht ab, und nach mehreren hundert
Jahren wird in Nordamerika der Engländer, der
Franzose, der Deutsche gar
wohl zu erkennen sein; zugleich aber auch werden sich bei Durchkreuzungen die
Wirkungen der Tyche bemerklich machen, wie der
Mestize an einer klarern Hautfarbe zu erkennen ist. Bei der Erziehung, wenn
sie nicht öffentlich und nationell ist, behauptet Tyche
ihre wandelbaren Rechte. Säugamme und Wärterin, Vater oder Vormund,
Lehrer oder Aufseher, so wie alle die ersten Umgebungen an Gespielen, ländlicher
oder städtischer Lokalität, alles bedingt die Eigentümlichkeit
durch frühere Entwickelung, durch Zurückdrängen oder Beschleunigen;
der Dämon freilich hält sich durch alles
durch, und dieses ist denn die eigentliche Natur,
der alte Adam und wie man es nennen mag, der, so
oft auch ausgetrieben, immer wieder
unbezwinglicher zurückkehrt.
In diesem Sinne einer notwendig aufgestellten Individualität
hat man einem jeden Menschen seinen Dämon zugeschrieben, der ihm
gelegentlich ins Ohr raunt, was denn eigentlich zu tun sei, und so wählte
Sokrates den Giftbecher, weil ihm ziemte zu sterben.
Allein Tyche läßt nicht nach und wirkt
besonders auf die Jugend immerfort, die sich mit ihren Neigungen, Spielen, Geselligkeiten
und flüchtigem Wesen bald da-, bald dorthin wirft und nirgends Halt noch
Befriedigung findet. Da entsteht denn mit dem wachsenden Tage eine ernstere
Unruhe, eine gründlichere Sehnsucht; die Ankunft eines neuen Göttlichen
wird erwartet.
Erôs, Liebe
Die bleibt nicht aus! - Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.
Hierunter ist alles begriffen, was man von der leisesten Neigung bis zur
leidenschaftlichsten Raserei nur denken möchte; hier verbinden sich
der individuelle Dämon und die verführende
Tyche miteinander; der Mensch scheint nur sich zu gehorchen, sein eigenes
Wollen walten zu lassen, seinem Triebe zu frönen, und doch sind es Zufälligkeiten,
die sich unterschieben, Fremdartiges, was ihn von seinem Wege ablenkt; er glaubt
zu erhaschen und wird gefangen, er glaubt gewonnen zu haben und ist schon verloren.
Auch hier treibt Tyche wieder ihr Spiel, sie lockt
den Verirrten zu neuen Labyrinthen, hier ist keine Grenze des Irrens: denn der
Weg ist ein Irrtum. Nun kommen wir in Gefahr, uns
in der Betrachtung zu verlieren, daß das, was auf das Besonderste angelegt
schien, ins Allgemeine verschwebt und zerfließt. Daher will das rasche
Eintreten der zwei letzten Zeilen uns einen entscheidenden Wink geben,
wie man allein diesem Irrsal entkommen und davor lebenslängliche Sicherheit
gewinnen möge.
Denn nun zeigt sich erst, wessen der Dämon
fähig sei; er, der selbständige, selbstsüchtige,
der mit unbedingtem Wollen in die Welt griff und nur mit Verdruß
empfand, wenn Tyche da oder dort in den Weg trat, er fühlt nun, daß
er nicht allein durch Natur bestimmt und gestempelt sei; jetzt wird er in seinem
Innern gewahr, daß er sich selbst bestimmen könne, daß er den
durchs Geschick ihm zugeführten Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen,
sondern auch sich aneignen und, was noch mehr ist, ein
zweites Wesen eben wie sich selbst mit ewiger, unzerstörlicher Neigung
umfassen könne.
Kaum war dieser Schritt getan, so ist durch freien Entschluß die
Freiheit aufgegeben; zwei Seelen sollen sich in einen Leib, zwei Leiber
in eine Seele schicken, und indem eine solche Übereinkunft sich einleitet,
so tritt zu wechselseitiger liebevoller Nötigung
noch eine dritte hinzu; Eltern und Kinder müssen sich abermals zu einem
Ganzen bilden, groß ist die gemeinsame Zufriedenheit, aber größer
das Bedürfnis. Der aus so viel Gliedern bestehende Körper krankt gemäß
dem irdischen Geschick an irgendeinem Teile, und anstatt daß er sich im
Ganzen freuen sollte, leidet er am Einzelnen, und dem ohngeachtet wird ein solches
Verhältnis so wünschenswert als notwendig gefunden. Der Vorteil zieht
einen jeden an, und man läßt sich gefallen, die Nachteile zu übernehmen.
Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm, eine Völkerschaft hat sich
zusammengefunden und wird gewahr, daß auch dem Ganzen fromme, was der
Einzelne beschloß, sie macht den Beschluß unwiderruflich durchs
Gesetz; alles, was liebevolle Neigung freiwillig gewährte, wird nun Pflicht,
welche tausend Pflichten entwickelt, und damit alles ja für Zeit und
Ewigkeit abgeschlossen sei, läßt weder Staat noch Kirche noch
Herkommen es an Zeremonien fehlen. Alle Teile sehen sich durch die bündigsten
Kontrakte, durch die möglichsten Öffentlichkeiten vor, daß ja
das Ganze in keinem kleinsten Teil durch Wankelmut und Willkür gefährdet
werde.
Anagkê, Nötigung
Da ist's denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
Keiner Anmerkungen bedarf wohl diese Strophe weiter; niemand ist, dem nicht
Erfahrung genugsame Noten zu einem solchen Text darreichte, niemand, der sich
nicht peinlich gezwängt fühlte, wenn er nur erinnerungsweise sich
solche Zustände hervorruft, gar mancher, der verzweifeln möchte, wenn
ihn die Gegenwart also gefangenhält. Wie froh eilen wir daher zu den letzten
Zeilen, zu denen jedes feine Gemüt sich gern den Kommentar sittlich und
religios zu bilden übernehmen wird.
Elpis, Hoffnung
Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärt'ge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen;
Ein Flügelschlag - und hinter uns Äonen!
Aus: Goethe, WA I, Band 41, S.215f.
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden.
Band 2: 1786 - 1832, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei 347
(S.325ff.)
Das
Dämonische
Die persönliche Tapferkeit, die den Helden auszeichnet, ist die Base auf
der sein ganzes Wesen ruht, der Grund und Boden aus dem es hervorsproßt.
Er kennt keine Gefahr, und verblendet sich über die größte die
sich ihm nähert. Durch Feinde die uns umzingeln schlagen wir uns allenfalls
durch; die Netze der Staatsklugheit sind schwerer zu durchbrechen. Das Dämonische
was von beiden Seiten im Spiel ist, in welchem Konflikt das Liebenswürdige
untergeht und das Gehaßte triumphiert, sodann die Aussicht, hieraus ein
Drittes hervorgehe das dem Wunsch aller Menschen entsprechen werde.
Dieses ist es wohl, was dem Stücke, frei nicht gleich bei seiner Erscheinung,
aber doch später und rechten Zeit die Gunst verschafft hat, deren es noch
jetzt genießt. Und so will ich denn auch hier, um mancher geliebten Leser
willen, mir selbst vorgreifen und weil ich nicht weiß, ob ich sobald wieder
zur Rede gelange, etwas aussprechen, wovon ich mich erst später überzeugte.
Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen
manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwürdigste ausspricht;
so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und
bildet eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte doch sie durchkreuzende
Macht, so daß man die eine für Zettel, die andere für den Einschlag
könnte gelten lassen. Für Phänomene welche hiedurch hervorgebracht
werden, gibt es unzählige Namen: denn alle Philosophieen und Religionen
haben prosaisch und poetisch dieses Rätsel zu lösen und die Sache
schließlich abzutun gesucht, welches ihnen noch fernerhin unbenommen bleibe.
Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische,
wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. Während
meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne
beobachten können. Es sind nicht immer die
vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch
Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus,
und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja
sogar über die Elemente, und wer kann sagen wie weit sich eine solche Wirkung
erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts
gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene
oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen
angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihres Gleichen, und sie
sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem
sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare
aber ungeheure Spruch entstanden sein, memo contra
deum nisi deus ipse.
Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und
Wahrheit, Vierter Teil, Zwanzigstes Buch
Veni
Creator Spiritus
Der herrliche Kirchengesang »Veni Creator Spiritus«
ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; deswegen er auch geist- und kraftreiche
Menschen gewaltig
anspricht. Goethe, Maximen und Reflexionen
Veni Creator
Spiritus
»Komm heiliger Geist, du schaffender,
Und alle Seele suche heim;
Mit Gnadenfülle segne sie,
Die Brust, die du geschaffen hast.
Du heißest Tröster, Paraklet.
Des höchsten Gottes Hochgeschenk,
Lebend`ger Quell und Liebesglut
Und Salbung heil`ger Geisteskraft.
Du siebenfält`ger Gnadenschatz,
Gottes Du Finger Gottes rechter Hand;
Von ihm versprochen und geschickt,
Der Kehle Stimm`und Rede gibst.
Den Sinnen zünde Lichter an,
Den Herzen frohe Mutigkeit,
Daß wir im Körper Wandelnden
Bereit zum Handel`n sei'n, zum Kampf!
Den Feind bedränge, treib ihn fort,
Daß uns des Friedens wir erfreun,
Und so an deiner Führerhand
Dem Schaden überall entgehn.
Vom Vater uns Erkenntnis gib,
Erkenntnis auch vom Sohn zugleich,
Die wir in beiderseit`gem Geist
Zu allen Zeiten gläubig flehn.
Darum sei Gott dem Vater Preis,
Dem Sohne, der vom Tod erstand,
Dem Paraklet, dem wirkenden,
Von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Goethe, Übersetzung des Veni Creator Spiritus
Der
Kult der heiligen Sakramente
Fehlt es dem protestantischen Kultus im ganzen an Fülle, so untersuche
man das einzelne, und man wird finden, der Protestant hat zu wenig Sakramente,
ja er hat nur eins, bei dem er sich tätig erweist, das Abendmahl: denn
die Taufe sieht er nur an anderen vollbringen, und es wird ihm nicht wohl dabei.
Die Sakramente sind das Höchste der Religion,
das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und
Gnade. In dem Abendmahle sollen die irdischen Lippen ein göttliches
Wesen verkörpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen
teilhaftig werden. Dieser Sinn ist in allen christlichen Kirchen ebenderselbe,
es werde nun das Sakrament mit mehr oder weniger Ergebung in das Geheimnis,
mit mehr oder weniger Akkommodation an das, was verständlich ist, genossen;
immer bleibt es eine heilige, große Handlung, welche sich in der Wirklichkeit
an die Stelle des Möglichen oder Unmöglichen, an die Stelle desjenigen
setzt, was der Mensch weder erlangen noch entbehren kann. Ein solches Sakrament
dürfte aber nicht allein stehen; kein Christ kann es mitwahrer Freude,
wozu es gegeben ist, genießen, wenn nicht der symbolische oder sakramentliche
Sinn in ihm genährt ist. Er muß gewohnt sein, die
innere Religion des Herzens und die der äußeren Kirche als vollkommen
eins anzusehen, als das große allgemeine Sakrament, das sich wieder in
so viel andere zergliedert und diesen Teilen seine
Heiligkeit, Unzerstörlichkeit und Ewigkeit mitteilt.
Hier reicht ein jugendliches Paar sich einander die Hände, nicht zum vorübergehenden
Gruß oder zum Tanze; der Priester spricht
seinen Segen darüber aus, und das Band ist unauflöslich. Es
währt nicht lange, so bringen diese Gatten ein Ebenbild an die Schwelle
des Altars; es wird mit heiligem Wasser gereinigt und der Kirche dergestalt
einverleibt, daß es diese Wohltat nur durch den ungeheuersten Abfall verscherzen
kann.
Das Kind übt sich im Leben an den irdischen Dingen selbst heran, in himmlischen
muß es unterrichtet werden. Zeigt sich bei der Prüfung, daß
dies vollständig
geschehen sei, so wird es nunmehr als wirklicher Bürger, als wahrhafter
und freiwilliger Bekenner in den Schoß der Kirche aufgenommen, nicht ohne
äußere Zeichen der Wichtigkeit dieser Handlung. Nun
ist er erst entschieden ein Christ, nun kennt er erst die Vorteile,
jedoch auch die Pflichten. Aber inzwischen ist ihm als Menschen manches Wunderliche
begegnet, durch Lehren und Strafen ist ihm aufgegangen, wie bedenklich es mit
seinem Innern aussehe, und immerfort wird noch von Lehren und von Übertretungen
die Rede sein; aber die Strafe soll nicht mehr stattfinden. Hier ist ihm nun
in der unendlichen Verworrenheit, in die er sich, bei dem Widerstreit natürlicher
und religiöser Forderungen, verwickeln muß, ein herrliches Auskunftsmittel
gegeben, seine Taten und Untaten, seine Gebrechen und seine Zweifel einem würdigen,
eigens dazu bestellten Manne zu vertrauen, der ihn zu beruhigen, zu warnen,
zu stärken, durch gleichfalls symbolische Strafen zu züchtigen
und ihn zuletzt, durch ein völliges Auslöschen
seiner Schuld, zu beseligen und ihm rein und abgewaschen die
Tafel seiner Menschheit wieder zu übergeben weiß. So, durch mehrere
sakramentliche Handlungen, welche sich wieder, bei genauerer Ansicht, in sakramentliche
kleinere Züge verzweigen, vorbereitet und rein beruhigt,
knieet er hin, die Hostie zu empfangen; und daß ja das
Geheimnis dieses hohen Akts noch gesteigert werde, sieht er den Kelch nur in
der Ferne, es ist kein gemeines Essen und Trinken,
was befriedigt, es ist eine Himmelsspeise,
die nach himmlischem Tranke durstig macht.
Jedoch glaube der Jüngling nicht, daß es damit abgetan sei; selbst
der Mann glaube es nicht! Denn wohl in irdischen Verhältnissen gewöhnen
wir uns zuletzt,
auf uns selber zu stehen, und auch da wollen nicht immer Kenntnisse, Verstand
und Charakter hinreichen; in himmlischen Dingen dagegen lernen wir nie
aus. Das höhere Gefühl in uns, das sich oft selbst nicht einmal recht
zu Hause findet, wird noch überdies von so viel Äußerem bedrängt,
daß unser eignes
Vermögen wohl schwerlich alles darreicht, was zu Rat, Trost und Hülfe
nötig wäre. Dazu aber verordnet findet sich nun auch jenes Heilmittel
für das ganze
Leben, und stets harrt ein einsichtiger, frommer
Mann, um Irrende zurecht zu weisen und Gequälte zu erledigen.
Und was nun durch das ganze Leben so erprobt worden, soll an der Pforte des
Todes alle seine Heilkräfte zehnfach tätig erweisen. Nach einer von
Jugend
auf eingeleiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der Hinfällige jene symbolischen,
deutsamen Versicherungen mit Inbrunst an, und ihm wird da, wo jede irdische
Garantie verschwindet, durch eine himmlische für alle Ewigkeit ein seliges
Dasein zugesichert. Er fühlt sich entschieden überzeugt, daß
weder ein feindseliges Element, noch ein mißwollender Geist ihn hindern
könne, sich mit einem verklärten Leibe zu umgeben, um in unmittelbaren
Verhältnissen zur Gottheit an den unermeßlichen Seligkeiten teilzunehmen,
die von ihr ausfließen.
Zum Schlusse werden sodann, damit der ganze Mensch
geheiligt sei, auch die Füße gesalbt und gesegnet.
Sie sollen, selbst bei möglicher Genesung, einen Widerwillen empfinden,
diesen irdischen, harten, undurchdringlichen Boden zu berühren. Ihnen soll
eine wundersame Schnellkraft mitgeteilt werden, wodurch sie den Erdschollen,
der sie bisher anzog, unter sich abstoßen. Und so ist durch einen glänzenden
Zirkel gleichwürdig heiliger Handlungen, deren Schönheit von uns nur
kurz angedeutet worden, Wiege und Grab, sie mögen zufällig noch so
weit auseinander gerückt liegen, in einem stetigen Kreise verbunden.
Aber alle diese geistigen Wunder entsprießen nicht, wie andere Früchte,
dem natürlichen Boden, da können sie weder gesäet noch gepflanzt
noch gepflegt werden. Aus einer anderen Region muß man sie herüberflehen,
welches nicht jedem, noch zu jeder Zeit gelingen würde.
Hier entgegnet uns nun das höchste dieser Symbole aus alter frommer Überlieferung.
Wir hören, daß ein Mensch vor dem andern von oben
begünstigt, gesegnet und geheiligt werden könne. Damit aber dies ja
nicht als Naturgabe erscheine, so muß diese große, mit einer schweren
Pflicht verbundene Gunst von einem Berechtigten auf den anderen übergetragen,
und das größte Gut, was ein Mensch erlangen kann, ohne daß
er jedoch dessen Besitz von sich selbst weder erringen, noch ergreifen könne,
durch geistige Erbschaft auf Erden erhalten und verewigt werden.
Ja, in der Weihe des Priesters ist alles zusammengefaßt,
was nötig ist, um diejenigen heiligen Handlungen wirksam zu begehen, wodurch
die Menge begünstigt wird, ohne daß sie irgend eine andere Tätigkeit
dabei nötig hätte, als die des Glaubens und des unbedingten Zutrauens.
Und so tritt der Priester in der Reihe seiner
Vorfahren und Nachfolger, in dem Kreise seiner Mitgesalbten,
den höchsten Segnenden darstellend, um so herrlicher auf, als es nicht
er ist, den wir verehren, sondern sein Amt, nicht sein Wink, vor dem wir die
Kniee beugen, sondern der Segen, den er erteilt, und der um desto heiliger,
unmittelbarer vom Himmel zu kommen scheint, weil ihn das irdische Werkzeug nicht
einmal durch sündhaftes, ja lasterhaftes Wesen schwächen oder gar
entkräften könnte.
Wie ist nicht dieser wahrhaft geistige Zusammenhang im Protestantismus zersplittert!
indem ein Teil gedachter Symbole für apokryphisch und nur wenige für
kanonisch erklärt werden, und wie will man uns durch das Gleichgültige
der einen zu der hohen Würde der anderen vorbereiten?
Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
II
Gott
und Welt
Eins
und Alles (1821)
Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst‘gem Fordern, strengem Sollen,
sich aufzugeben, ist Genuß.
Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich‘s nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebend‘ges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farb‘gen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht‘s Momente still.
Das Ew‘ge regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
Goethes Philosophie aus seinen Werken. Ein Buch für
jeden gebildeten Deutschen (S.288-289)
Mit ausführlicher Einleitung herausgegeben von Max Heynacher .Philosophische
Bibliothek Band 109, Verlag von Felix Meiner / Leipzig 1922
Prooemion
Im Namen dessen, der Sich selbst erschuf
Von Ewigkeit in schaffendem Beruf;
In Seinem Namen, der den Glauben schafft,
Vertrauen, Liebe, Tätigkeit und Kraft;
In Jenes Namen, der, so oft genannt,
Dem Wesen nach blieb immer unbekannt:
So weit das Ohr, so weit das Auge reicht,
Du findest nur Bekanntes, das Ihm gleicht,
Und deines Geistes höchster Feuerflug
Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug;
Es zieht dich an, es reißt dich heiter fort,
Und wo du wandelst, schmückt sich Weg und Ort;
Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit,
Und jeder Schritt ist Unermeßlichkeit.
Was wär‘ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt‘s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.
Im Innern ist ein Universum auch;
Daher der Völker löblicher Gebrauch,
Daß jeglicher das Beste, was er kennt,
Er Gott, ja seinen Gott benennt,
Ihm Himmel und Erden übergibt,
Ihn fürchtet, und womöglich liebt.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Gott und die Welt, Prooemion,
(Insel Verlag, Goethe Werke Erster Band, S.221f.)
Vermächtnis
(1829)
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ew‘ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig; denn Gesetze
Bewahren die lebend‘gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank‘ es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.
Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen;
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Den Sinnen hast du dann zu trauen;
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reich begabter Welt!
Genieße mäßig Füll‘ und Segen!
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr, —
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
Und wie von altersher im stillen
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen;
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.
Goethes Philosophie aus seinen Werken. Ein Buch für
jeden gebildeten Deutschen (S.298-299)
Mit ausführlicher Einleitung herausgegeben von Max Heynacher. Philosophische
Bibliothek Band 109, Verlag von Felix Meiner / Leipzig 1922
Weltseele
Verteilet euch nach allen Regionen
Von diesem heil'gen Schmaus!
Begeistert reißt euch durch die nächsten Zonen
Ins All und füllt es aus!
Schon schwebet ihr in ungemeßnen Fernen
Den sel'gen Göttertraum
Und leuchtet neu, gesellig, unter Sternen
Im lichtbesäten Raum.
Dann treibt ihr euch, gewaltige Kometen,
Ins Weit' und Weitr' hinan.
Das Labyrinth der Sonnen und Planeten
Durchschneidet eure Bahn.
Ihr greifet rasch nach ungeformten Erden
Und wirket schöpfrisch jung,
Daß sie belebt und stets belebter werden,
Im abgemeßnen Schwung.
Und kreisend führt ihr in bewegten Lüften
Den wandelbaren Flor
Und schreibt dem Stein in allen seinen Grüften
Die festen Formen vor.
Nun alles sich mit göttlichem Erkühnen
Zu übertreffen strebt;
Das Wasser will, das unfruchtbare, grünen,
Und jedes Stäubchen lebt.
Und so verdrängt mit liebevollem Streiten
Der feuchten Qualme Nacht!
Nun glühen schon des Paradieses Weiten
In überbunter Pracht.
Wie regt sich bald, ein holdes Licht zu schauen,
Gestaltenreiche Schar,
Und ihr erstaunt auf den beglückten Auen
Nun als das erste Paar,
Und bald verlischt ein unbegrenztes Streben
Im sel'gen Wechselblick.
Und so empfangt mit Dank das schönste Leben
Vom All ins All zurück.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Gott und die Welt, Prooemion,
(Insel Verlag, Goethe Werke Erster Band, S.223ff.)
Vermischte
Gedichte
Bei der Betrachtung von Schillers Schädel
Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte,
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß, Orakelsprüche spendend!
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
Und in die freie Luft, zu freien Sinnen
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre. 1826
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren
Ton ausgewählt von Richard Friedenthal (S.36)
Deutscher Bücherbund Stuttgart . Hamburg
Prometheus
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus noch ein,
Kehrt ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht
alle Blütenträume reiften?
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Vermischte Gedichte,
2. Sammlung, (Insel Verlag, Goethe Werke Erster Band, S.60f.)
Die Engel stritten
für uns Gerechte,
Zogen den kürzern in jedem Gefechte;
Da stürzte denn alles drüber und drunter,
Dem Teufel gehörte der ganze Plunder.
Nun ging es an ein Beten und Flehen!
Gott ward bewegt, herein zu sehen.
Spricht Logos, dem die Sache klar
Von Ewigkeit her gewesen war:
Sie sollten sich keineswegs genieren,
Sich auch einmal als Teufel gerieren,
Auf jede Weise den Sieg erringen
Und hierauf das Tedeum singen.
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen,
Und siehe die Teufel waren geschlagen.
Natürlich fand man hinterdrein,
Es sei recht hübsch, ein Teufel zu sein. um 1815
Entnommen aus Goethe-Weisheiten im ernsten und heiteren
Ton ausgewählt von Richard Friedenthal (S.63) Deutscher Bücherbund
Stuttgart . Hamburg
Wer nie sein Brot
mit Tränen aß,
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein:
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Werke: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)
Das
Göttliche
Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.
Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch;
Sein Beispiel lehr uns
Jene glauben.
Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös' und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.
Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen,
Vorübereilend,
Einen um den andern.
Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen,
Schuldigen Scheitel.
Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.
Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.
Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.
Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.
Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!
Werke:
Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)
Die
Geheimnisse
Ein Fragment
Ein wunderbares Lied ist euch bereitet;
Vernehmt es gern, und jeden ruft herbei!
Durch Berg' und Täler ist der Weg geleitet:
Hier ist der Blick beschränkt, dort wieder frei,
Und wenn der Pfad sacht in die Büsche gleitet,
So denket nicht, daß es ein Irrtum sei;
Wir wollen doch, wenn wir genug geglommen,
Zur redeten Zeit dem Ziele näher kommen.
Doch glaube keiner, daß mit allem Sinnen
Das ganze Lied er je enträtseln werde:
Gar viele müssen vieles hier gewinnen,
Gar manche Blüten bringt die Mutter Erde;
Der eine flieht mit düsterm Blick von hinnen,
Der andre weilt mit fröhlicher Gebärde:
Ein jeder soll nach seiner Lust genießen,
Für manchen Wandrer soll die Quelle fließen.
Ermüdet von des Tages langer Reise,
Die auf erhabnen Antrieb er getan,
An einem Stab nach frommer Wandrer Weise
Kam Bruder Markus, außer Steg und Bahn,
Verlangend nach geringem Trank und Speise,
In einem Tal am seinen Abend an,
Voll Hoffnung, in den waldbewachsnen Gründen
Ein gastfrei Dach für diese Nacht zu finden.
Am steilen Berge, der nun vor ihm stehet,
Glaubt er die Spuren eines Wegs zu sehn,
Er folgt dem Pfade, der in Krümmen gehet,
Und muß sich steigend um die Felsen drehn;
Bald sieht er sich hoch übers Tal erhöhet,
Die Sonne scheint ihm wieder freundlich schön,
Und bald sieht er mit innigem Vergnügen
Den Gipfel nah vor seinen Augen liegen.
Und neben hin die Sonne, die im Neigen
Noch prachtvoll zwischen dunkeln Wolken thront;
Er sammelt Kraft, die Höhe zu ersteigen,
Dort hofft er seine Mühe bald belohnt.
Nun, spricht er zu sich selbst, nun muß sich zeigen,
Ob etwas Menschlichs in der Nähe wohnt!
Er steigt und horcht und ist wie neugeboren:
Ein Glockenklang erschallt in seinen Ohren.
Und wie er nun den Gipfel ganz erstiegen,
Sieht er ein nahes, sanft geschwungnes Tal.
Sein stilles Auge leuchtet von Vergnügen,
Denn vor dem Walde sieht er auf einmal
In grüner Au ein schön Gebäude liegen,
Soeben triffts der letzte Sonnenstrahl:
Er eilt durch Wiesen, die der Tau befeuchtet,
Dem Kloster zu, das ihm entgegen leuchtet.
Schon sieht er dicht sich vor dem stillen
Orte,
Der seinen Geist mit Ruh und Hoffnung füllt,
Und auf dem Bogen der geschloßnen Pforte
Erblickt er ein geheimnisvolles Bild.
Er steht und sinnt und lispelt leise Worte
Der Andacht, die in seinem Herzen quillt,
Er steht und sinnt: Was hat das zu bedeuten?
Die Sonne sinkt; und es verklingt das Läuten!
Das Zeichen sieht er prächtig aufgerichtet,
Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht,
Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet,
Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht,
Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet,
Das in so mancher Siegesfahne weht:
Ein Labequell durchdringt die matten Glieder,
Er sieht das Kreuz, und schlägt die Augen nieder.
Er fühlet neu, was dort für Heil
entsprungen,
Den Glauben fühlt er einer halben Welt;
Doch von ganz neuem Sinn wird er durchdrungen,
Wie sich das Bild ihm hier vor Augen stellt:
Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen.
Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?
Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten
Das schroffe Holz mit Weichheit zu begleiten.
Und leichte Silber-Himmelswolken schweben,
Mit Kreuz und Rosen sich empor zu schwingen,
Und aus der Mitte quillt ein heilig Leben
Dreifacher Strahlen, die aus einem Punkte dringen;
Von keinen Worten ist das Bild umgeben,
Die dem Geheimnis Sinn und Klarheit bringen.
Im Dämmerschein, der immer tiefer grauet,
Steht er und sinnt und fühlet sich erbauet.
Er klopft zuletzt, als schon die hohen Sterne
Ihr helles Auge zu ihm niederwenden.
Das Tor geht auf, und man empfängt ihn gerne
Mit offnen Armen, mit bereiten Händen.
Er sagt, woher er sei, von welcher Ferne
Ihn die Befehle höhrer Wesen senden.
Man horcht und staunt. Wie man den Unbekannten
Als Gast geehrt, ehrt man nun den Gesandten.
Ein jeder drängt sich zu, um auch zu
hören,
Und ist bewegt von heimlicher Gewalt,
Kein Odem wagt den seltnen Gast zu stören,
Da jedes Wort im Herzen widerhallt.
Was er erzählet, wirkt wie tiefe Lehren
Der Weisheit, die von Kinderlippen schallt:
An Offenheit, an Unschuld der Gebärde
Scheint er ein Mensch von einer andern Erde.
Willkommen, ruft zuletzt ein Greis, willkommen,
Wenn deine Sendung Trost und Hoffnung trägt!
Du siehst uns an; wir alle stehn beklommen,
Obgleich dein Anblick unsere Seele regt:
Das schönste Glück, ach! wird uns weggenommen,
Von Sorgen sind wir und von Furcht bewegt.
Zur wichtgen Stunde nehmen unsre Mauern
Dich Fremden auf, um auch mit uns zu trauern:
Denn, ach, der Mann, der alle hier verbündet,
Den wir als Vater, Freund und Führer kennen,
Der Licht und Mut dem Leben angezündet,
In wenig Zeit wird er sich von uns trennen;
Er hat es erst vor kurzem selbst verkündet.
Doch will er weder Art noch Stunde nennen:
Und so ist uns sein ganz gewisses Scheiden
Geheimnisvoll und voller bittrer Leiden.
Du siehest alle hier mit grauen Haaren,
Wie die Natur uns selbst zur Ruhe wies:
Wir nahmen keinen auf, den, jung an Jahren,
Sein Herz zu früh der Welt entsagen hieß.
Nachdem wir Lebens Lust und Last erfahren,
Der Wind nicht mehr in unsre Segel blies,
War uns erlaubt, mit Ehren hier zu landen,
Getrost, daß wir den sichern Hafen fanden.
Dem edlen Manne, der uns hergeleitet,
Wohnt Friede Gottes in der Brust;
Ich hab ihn auf des Lebens Pfad begleitet
Und bin mir alter Zeiten wohl bewußt;
Die Stunden, da er einsam sich bereitet,
Verkünden uns den nahenden Verlust.
Was ist der Mensch, warum kann er sein Leben
Umsonst, und nicht für einen Bessern geben?
Dies wäre nun mein einziges Verlangen!
Warum muß ich des Wunsches mich entschlagen?
Wie viele sind schon vor mir hingegangen!
Nur ihn muß ich am bittersten beklagen.
Wie hätt er sonst so freundlich dich empfangen!
Allein er hat das Haus uns übertragen,
Zwar keinen noch zum Folger sich ernennet,
Doch lebt er schon im Geist von uns getrennet.
Und kommt nur täglich eine kleine Stunde,
Erzählet, und ist mehr als sonst gerührt:
Wir hören dann aus seinem eignen Munde,
Wie wunderbar die Vorsicht ihn geführt;
Wir merken auf, damit die sichre Kunde
Im kleinsten auch die Nachwelt nicht verliert;
Auch sorgen wir, daß einer fleißig schreibe,
Und sein Gedächtnis rein und wahrhaft bleibe.
Zwar vieles wollt ich lieber selbst erzählen,
Als ich jetzt nur zu hören stille bin;
Der kleinste Umstand sollte mir nicht fehlen,
Noch hab ich alles lebhaft in dem Sinn;
Ich höre zu und kann es kaum verhehlen
Daß ich nicht stets damit zufrieden bin:
Sprech ich einmal von allen diesen Dingen,
Sie sollen prächtiger aus meinem Munde klingen.
Als dritter Mann erzählt ich mehr und
freier,
Wie ihn ein Geist der Mutter früh verhieß,
Und wie ein Stern bei seiner Taufe Feier
Sich glänzender am Abend-Himmel wies,
Und wie mit weiten Fittichen ein Geier
Im Hofe sich bei Tauben niederließ,
Nicht grimmig stoßend und, wie sonst, zu schaden:
Er schien sie sanft zur Einigkeit zu laden.
Dann hat er uns bescheidentlich verschwiegen,
Wie er als Kind die Otter überwand,
Die er um seiner Schwester Arm sich schmiegen,
Um die entschlafne fest gewunden fand:
Die Amme floh und ließ den Säugling liegen,
Er drosselte den Wurm mit sichrer Hand;
Die Mutter kam und sah mit Freudebeben
Des Sohnes Taten und der Tochter Leben.
Und so verschwieg er auch, daß eine
Quelle
Vor seinem Schwert aus trocknem Felsen sprang,
Stark wie ein Bach, sich mit bewegter Welle
Den Berg hinab bis in die Tiefe schlang;
Noch quillt sie fort so rasch, so silberhelle,
Als sie zuerst sich ihm entgegendrang,
Und die Gefährten, die das Wunder schauten,
Den heißen Durst zu stillen kaum getrauten.
Wenn einen Menschen die Natur erhoben,
Es ist kein Wunder, wenn ihm viel gelingt;
Man muß in ihm die Macht des Schöpfers loben,
Der schwachen Ton zu solcher Ehre bringt.
Doch wenn ein Mann von allen Lebensproben
Die sauerste besteht, sich selbst bezwingt,
Dann kann man ihn mit Freuden andern zeigen
Und sagen: Das ist er, das ist sein eigen!
Denn alle Kraft dringt vorwärts in
die Weite,
Zu leben und zu wirken hier und dort;
Dagegen engt und hemmt von jeder Seite
Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort.
In diesem innern Sturm und äußern Streite
Vernimmt der Geist ein schwer verstanden Wort:
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.
Wie frühe war es, daß sein Herz
ihn lehrte,
Was ich bei ihm kaum Tugend nennen darf:
Daß er des Vaters strenges Wort verehrte
Und willig war, wenn jener rauh und scharf
Der Jugend freie Zeit mit Dienst beschwerte,
Dem sich der Sohn mit Freuden unterwarf,
Wie, elternlos und irrend, wohl ein Knabe
Aus Not es tut um eine kleine Gabe.
Die Streiter mußt er in das Feld begleiten,
Zuerst zu Fuß bei Sturm und Sonnenschein,
Die Pferde warten und den Tisch bereiten
Und jedem alten Krieger dienstbar sein.
Gern und geschwind lief er zu allen Zeiten
Bei Tag und Nacht als Bote durch den Hain;
Und so gewohnt, für andre nur zu leben,
Schien Mühe nur ihm Fröhlichkeit zu geben.
Wie er im Streit mit kühnem, munterm
Wesen
Die Pfeile las, die er am Boden fand,
Eilt' er hernach, die Kräuter selbst zu lesen,
Mit denen er Verwundete verband;
Was er berührte, mußte gleich genesen,
Es freute sich der Kranke seiner Hand.
Wer wollt ihn nicht mit Fröhlichkeit betrachten!
Und nur der Vater schien nicht sein zu achten.
Leicht, wie ein segelnd Schiff, das keine
Schwere
Der Ladung fühlt und eilt von Port zu Port,
Trug er die Last der elterlichen Lehre:
Gehorsam war ihr erst- und letztes Wort.
Und wie den Knaben Lust, den Jüngling Ehre,
So zog ihn nur der fremde Wille fort;
Der Vater sann umsonst auf neue Proben,
Und wenn er fordern wollte, mußt er loben.
Zuletzt gab sich auch dieser überwunden,
Bekannte tätig seines Sohnes Wert;
Die Rauhigkeit des Alten war verschwunden,
Er schenkt' auf einmal ihm ein köstlich Pferd;
Der Jüngling ward vom kleinen Dienst entbunden,
Er führte statt des kurzen Dolchs ein Schwert:
Und so trat er geprüft in einen Orden,
Zu dem er durch Geburt berechtigt worden.
So könnt ich dir noch tagelang berichten,
Was jeden Hörer in Erstaunen setzt;
Sein Leben wird den köstlichsten Geschichten
Gewiß dereinst von Enkeln gleichgesetzt;
Was dem Gemüt in Fabeln und Gedichten
Unglaublich scheint und es doch hoch ergetzt,
Vernimmt es hier und mag sich gern bequemen,
Zwiefach erfreut, für wahr es anzunehmen.
Und fragst du mich, wie der Erwählte
heiße,
Den sich das Aug der Vorsicht ausersah,
Den ich zwar oft, doch nie genugsam preise,
An dem so viel Unglaubliches geschah?
Humanus heißt der Heilige, der Weise,
Der beste Mann, den ich mit Augen sah;
Und sein Geschlecht, wie es die Fürsten nennen,
Sollst du zugleich mit seinen Ahnen kennen. –
Der Alte sprachs und hätte mehr gesprochen,
Denn er war ganz der Wunderdinge voll,
Und wir ergetzen uns noch manche Wochen
An allem, was er uns erzählen soll;
Doch eben ward sein Reden unterbrochen,
Als gegen seinen Gast das Herz am stärksten quoll.
Die andern Brüder gingen bald und kamen,
Bis sie das Wort ihm von dem Munde nahmen.
Und da nun Markus nach genoßnem Male
Dem Herrn und seinen Wirten sich geneigt,
Erbat er sich noch eine reine Schale
Voll Wasser, und auch die ward ihm gereicht.
Dann führten sie ihn zu dem großen Saale,
Worin sich ihm ein seltner Anblick zeigt.
Was er dort sah, soll nicht verborgen bleiben,
Ich will es auch gewissenhaft beschreiben.
Kein Schmuck war hier, die Augen zu verblenden,
Ein kühnes Kreuzgewölbe stieg empor,
Und dreizehn Stühle sah er an den Wänden
Umher geordnet, wie im frommen Chor,
Gar zierlich ausgeschnitzt von klugen Händen;
Es stand ein kleiner Pult an jedem vor.
Man fühlte hier der Andacht sich ergeben,
Und Lebensruh und ein gesellig Leben.
Zu Häupten sah er dreizehn Schilde
bangen,
Denn jedem Stuhl war eines zugezählt;
Sie schienen hier nicht ahnenstolz zu prangen,
Ein jeder schien bedeutend und gewählt.
Und Bruder Markus brannte vor Verlangen,
Zu wissen, was so manches Bild verhehlt;
Im mittelsten erblickt er jenes Zeichen
Zum zweitenmal, ein Kreuz mit Rosenzweigen.
Die Seele kann sich hier gar vieles bilden,
Ein Gegenstand zieht von dem andern fort;
Und Helme hängen über manchen Schilden,
Auch Schwert und Lanze sieht man hier und dort;
Die Waffen, wie man sie von Schlachtgefilden
Auflesen kann, verzieren diesen Ort:
Hier Fahnen und Gewehre fremder Lande
Und, seh ich recht, auch Ketten dort und Bande!
Ein jeder sinkt vor seinem Stuhle nieder,
Schlägt auf die Brust, in still Gebet gekehrt;
Von ihren Lippen tönen kurze Lieder,
In denen sich andächtig Freude nährt;
Dann segnen sich die treu verbundnen Brüder
Zum kurzen Schlaf, den Phantasie nicht stört;
Nur Markus bleibt, indem die andern gehen,
Mit einigen im Saale schauend stehen.
So müd er ist, wünscht er noch
fort zu wachen,
Denn kräftig reizt ihn manch und manches Bild:
Hier sieht er einen feuerfarbnen Drachen,
Der seinen Durst in wilden Flammen stillt;
Hier einen Arm in eines Bären Rachen,
Von dem das Blut in heißen Strömen quillt;
Die beiden Schilder hingen, gleicher Weite,
Beim Rosenkranz zur recht- und linken Seite.
Du kommst hierher auf wunderbaren Pfaden,
Spricht ihn der Alte wieder freundlich an;
Laß diese Bilder dich zu bleiben laden,
Bis du erfährst, was mancher Held getan;
Was hier verborgen, ist nicht zu erraten,
Man zeige denn es dir vertraulich an.
Du ahnest wohl, wie manches hier gelitten,
Gelebt, verloren ward, und was erstritten.
Doch glaube nicht, daß nur von alten
Zeiten
Der Greis erzählt, hier geht noch manches vor;
Das, was du siehst, will mehr und mehr bedeuten;
Ein Teppich deckt es bald und bald ein Flor.
Geliebt es dir, so magst du dich bereiten:
Du kamst, o Freund, nur erst durchs erste Tor;
Im Vorhof bist du freundlich aufgenommen,
Und scheinst mir wert, ins Innerste zu kommen.
Nach kurzem Schlaf in einer stillen Zelle
Weckt unsern Freund ein dumpfer Glockenton,
Er rafft sich auf mit unverdroßner Schnelle,
Dem Ruf der Andacht folgt der Himmelssohn.
Geschwind bekleidet, eilt er nach der Schwelle,
Es eilt sein Herz voraus zur Kirche schon,
Gehorsam, ruhig, durch Gebet beflügelt;
Er klinkt am Schloß, und findet es verriegelt.
Und wie er horcht, so wird in gleichen Zeiten
Dreimal ein Schlag auf hohles Erz erneut,
Nicht Schlag der Uhr und auch nicht Glockenläuten,
Ein Flötenton mischt sich von Zeit zu Zeit;
Der Schall, der seltsam ist und schwer zu deuten,
Bewegt sich so, daß er das Herz erfreut,
Einladend ernst, als wenn sich mit Gesängen
Zufriedne Paare durcheinander schlängen.
Er eilt ans Fenster, dort vielleicht zu
schauen,
Was ihn verwirrt und wunderbar ergreift;
Er sieht den Tag im fernen Osten grauen,
Den Horizont mit leichtem Duft gestreift.
Und – soll er wirklich seinen Augen trauen? –
Ein seltsam Licht, das durch den Garten schweift:
Drei Jünglinge mit Fackeln in den Händen
Sieht er sich eilend durch die Gänge wenden.
Er sieht genau
die weißen Kleider glänzen,
Die ihnen knapp und wohl am Leibe stehn,
Ihr lockig Haupt kann er mit Blumenkränzen,
Mit Rosen ihren Gurt umwunden sehn;
Es scheint, als kämen sie von nächtgen Tänzen,
Von froher Mühe recht erquickt und schön.
Sie eilen nun und löschen, wie die Sterne,
Die Fackeln aus und schwinden in die Ferne.
Faust
Faust . Der Tragödie
erster Teil
Nacht
Was
die Welt im Innersten zusammenhält
FAUST. Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!
Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr'
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum -
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel -
Dafür ist mir auch alle Freud' entrissen,
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
Auch hab' ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr' und Herrlichkeit der Welt;
Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab' ich mich der Magie ergeben
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau' alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu' nicht mehr in Worten kramen.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Faust . Der Tragödie
erster und zweiter Teil (S.17)
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch 20439
Übermensch
- Ebenbild der Gottheit
FAUST: Und dies geheimnisvolle Buch,
Von Nostradamus' eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?
Erkennest dann der Sterne Lauf,
Und wenn Natur dich unterweist,
Dann geht die Seelenkraft dir auf,
Wie spricht ein Geist zum andern Geist.
Umsonst, daß trocknes Sinnen hier
Die heil'gen Zeichen dir erklärt:
Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir;
Antwortet mir, wenn ihr mich hört!
(Er schlägt das Buch auf und erblickt das Zeichen
des Makrokosmus.)
Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heil'ges Lebensglück
Neuglühend mir durch Nerv' und Adern rinnen.
War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb,
Die mir das innre Toben stillen,
Das arme Herz mit Freude füllen
Und mit geheimnisvollem Trieb
Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich scheu' in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
Jetzt erst erkenn' ich, was der Weise spricht:
'Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Die ird'sche Brust im Morgenrot!'
(Er beschaut das Zeichen.)
Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!
Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!
Wo fass' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht' ich so
vergebens?
(Er schlägt unwillig das Buch um und erblickt
das Zeichen des Erdgeistes,)
Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
Du, Geist der Erde, bist mir näher;
Schon fühl' ich meine Kräfte höher,
Schon glüh' ich wie von neuem Wein,
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
Mit Stürmen mich herumzuschlagen
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
Es wölkt sich über mir -
Der Mond verbirgt sein Licht -
Die Lampe schwindet!
Es dampft - Es zucken rote Strahlen
Mir um das Haupt - Es weht
Ein Schauer vom Gewölb' herab
Und faßt mich an!
Ich fühl's, du schwebst um mich, erflehtet Geist.
Enthülle dich!
Ha! wie's in meinem Herzen reißt!
Zu neuen Gefühlen
All' meine Sinnen sich erwühlen!
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt! du mußt! und kostet' es mein Leben!
(Er faßt das Buch und spricht das Zeichen des
Geistes geheimnisvoll aus. Es zuckt eine rötliche Flamme, der Geist erscheint
in der Flamme.)
GEIST. Wer ruft mir?
FAUST (abgewendet.) Schreckliches
Gesicht!
GEIST. Du hast mich mächtig angezogen,
An meiner Sphäre lang' gesogen,
Und nun -
FAUST. Weh! ich ertrag' dich nicht!
GEIST. Du flehst eratmend, mich zu schauen,
Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn;
Mich neigt dein mächtig Seelenflehn,
Da bin ich! - Welch erbärmlich Grauen
Faßt Übermenschen
dich! Wo ist der Seele Ruf?
Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf
Und trug und hegte, die mit Freudebeben
Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?
Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang,
Der sich an mich mit allen Kräften drang?
Bist du es, der, von meinem Hauch umwittert,
In allen Lebenstiefen zittert,
Ein furchtsam weggekrümmter Wurm?
FAUST. Soll ich dir, Flammenbildung, weichen?
Ich bin's, bin Faust, bin deinesgleichen!
GEIST.
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
FAUST. Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir!
GEIST. Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir! (Verschwindet.)
FAUST (zusammenstürzend.)
Nicht dir?
Wem denn?
Ich Ebenbild der Gottheit!
Und nicht einmal dir!
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Faust . Der Tragödie
erster und zweiter Teil (S.18f.)
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch 20439
Faust . Der Tragödie erster Teil
Studierzimmer
Der
Gott, der nach außen nichts bewegen kann
Der Gott, der mir im Busen wohnt,
Kann tief mein Innerstes erregen;
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann nach außen nichts bewegen.
Und so ist mir das Dasein eine Last,
Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Faust . Der Tragödie
erster und zweiter Teil (S.51)
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch 20439
Faust . Zweiter Teil . Erster Akt
Finstere
Galerie
Die
Mütter
FAUST. Da haben wir den alten Leierton!
Bei dir gerät man stets ins Ungewisse.
Der Vater bist du aller Hindernisse,
Für jedes Mittel willst du neuen Lohn.
Mit wenig Murmeln, weiß ich, ist‘s getan,
Wie man sich umschaut, bringst du sie zur Stelle.
MEPHISTOPHELES.
Das Heidenvolk geht mich nichts an,
Es haust in seiner eignen Hölle;
Doch gibt‘s ein Mittel.
FAUST. Sprich, und ohne Säumnis!
MEPHISTOPHELES.
Ungern entdeck ich höheres Geheimnis.
— Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. Die Mütter sind es!
FAUST (aufgeschreckt).
Mütter!
MEPHISTOPHELES. Schaudert‘s dich
FAUST. Die
Mütter! Mütter! — ,s klingt so wunderlich!
MEPHISTOPHELES.
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.
FAUST. Wohin der Wege
MEPHISTOPHELES.
Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit —
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von Öd und Einsamkeit?
FAUST.
Du spartest, dächt ich, solche Sprüche;
Hier wittert‘s nach der Hexenküche,
Nach einer längst vergangnen Zeit.
Mußt ich nicht mir der Welt verkehren
Das Leere lernen, Leeres lehren —
Sprach ich vernünftig, wie ich‘s angeschaut,
Erklang der Widerspruch gedoppelt laut;
Mußt ich sogar vor widerwärtigen Streichen
Zur Einsamkeit, zur Wildernis entweichen
Und, um nicht, ganz versäumt, allein zu leben,
Mich doch zuletzt dem Teufel übergeben.
MEPHISTOPHELES.
Und hättest du den Ozean durchschwommen,
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas, sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine,
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne;
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst.
FAUST. Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;
Nur umgekehrt. Du sendest mich ins Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;
Behandelst mich, daß ich, wie jene Katze,
Dir die Kastanien aus den Gluten kratze.
Nur immer zu! wir wollen es ergründen,
In deinem Nichts hoff ich das All zu finden.
MEPHISTOPHELES.
Ich rühme dich, eh du dich von mir trennst,
Und sehe wohl, daß du den Teufel kennst;
Hier diesen Schlüssel nimm.
FAUST. Das kleine Ding!
MEPHISTOPHELES.
Erst faß ihn an und schätz ihn nicht gering.
FAUST. Er wächst in meiner Hand! er leuchtet, blitzt!
MEPHISTOPHELES.
Merkst du nun bald, was man an ihm besitzt!
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern;
Folg ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.
FAUST (schaudernd,).
Den Müttern! Trifft‘s mich immer wie ein Schlag!
Was ist das Wort, das ich nicht hören mag
MEPHISTOPHELES.
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört
Willst du nur hören, was du schon gehört
Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge,
Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge.
FAUST.
Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil,
Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil;
Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,
Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.
MEPHISTOPHELES.
Versinke denn! Ich könnt auch sagen: steige!
’s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen
In der Gebilde losgebundne Reiche!
Ergötze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;
Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe,
Den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe!
FAUST (begeistert).
Wohl! fest ihn fassend, fühl ich neue Stärke,
Die Brust erweitert, hin zum großen Werke.
MEPHISTOPHELES.
Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund-.
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn;
Die einen sitzen, andre stehn und gehn,
Wie‘s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.
Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.
Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß,
Und gehe grad auf jenen Dreifuß los,
Berühr ihn mit dem Schlüssel!
Faust macht eine entschieden gebietende
Attitude mit dem Schlüssel!
MEPHISTOPHELES (ihn betrachtend).
So ist‘s recht!
Er schließt sich an, er folgt als treuer Knecht;
Gelassen steigst du, dich erhebt das Glück,
Und eh sie‘s merken, bist mit ihm zurück.
Und hast du ihn einmal hierher gebracht,
So rufst du Held und Heldin aus der Nacht,
Der erste, der sich jener Tat erdreistet;
Sie ist getan, und du hast es geleistet.
Dann muß fortan, nach magischem Behandeln,
Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.
FAUST. Und nun, was jetztI
MEPHISTOPHELES.
Dein Wesen strebe nieder;
Versinke stampfend, stampfend steigst du wieder.
Faust stampft und versinkt.
MEPHISTOPHELES.
Wenn ihm der Schlüssel nur zum Besten frommt!
Neugierig hin ich, ob er wiederkommt.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Faust . Der Tragödie
erster und zweiter Teil (S.194-197)
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch 20439
Faust . Zweiter Teil
. Fünfter Akt
Bergschluchten, Wald , Fels,
Einöde
Glorreiche
Mutter
(Mater gloriosa schwebt einher)
CHOR DER BÜSSERINNEN.
Du schwebst zu Höhen
Der ewigen Reiche,
Vernimm das Flehen,
Du Ohnegleiche,
Du Gnadenreiche!
MAGNA PECCATRIX. (St. Lucae VII,
36)
Bei der Liebe, die den Füßen
Deines gottverklärten Sohnes
Tränen ließ zum Balsam fließen,
Trotz des Pharisäerhohnes;
Beim Gefäße, das so reichlich
Tropfte Wohlgeruch hernieder,
Bei den Locken, die so weichlich
Trockneten die heil'gen Glieder -
MULIER SAMARITANA. (St. John. IV.)
Bei dem Bronn, zu dem schon weiland
Abram ließ die Herde führen,
Bei dem Eimer, der dem Heiland
Kühl die Lippe durft' berühren;
Bei der reinen, reichen Quelle,
Die nun dorther sich ergießet,
Überflüssig, ewig helle
Rings durch alle Welten fließet -
MARIA AEGYPTIACA. (Acta Sanctorum.)
Bei dem hochgeweihten Orte,
Wo den Herrn man niederließ,
Bei dem Arm, der von der Pforte
Warnend mich zurücke stieß;
Bei der vierzigjährigen Buße,
Der ich treu in Wüsten blieb,
Bei dem seligen Scheidegruße,
Den im Sand ich niederschrieb -
ZU DREI. Die du großen Sünderinnen
Deine Nähe nicht verweigerst
Und ein büßendes Gewinnen
In die Ewigkeiten steigerst,
Gönn auch dieser guten Seele,
Die sich einmal nur vergessen,
Die nicht ahnte, daß sie fehle,
Dein Verzeihen angemessen!
UNA POENITENTIUM. (sonst Gretchen
genannt. Sich anschmiegend.)
Neige, neige,
Du Ohnegleiche,
Du Strahlenreiche,
Dein Antlitz gnädig meinem Glück!
Der früh Geliebte,
Nicht mehr Getrübte,
Er kommt zurück.
SELIGE KNABEN. (in Kreisbewegung
sich nähernd.)
Er überwächst uns schon
An mächtigen Gliedern,
Wird treuer Pflege Lohn
Reichlich erwidern.
Wir wurden früh entfernt
Von Lebechören
Doch dieser hat gelernt,
Er wird uns lehren.
DIE EINE BÜSSERIN. (sonst
Gretchen genannt.)
Vom edlen Geisterchor umgeben,
Wird sich der Neue kaum gewahr,
Er ahnet kaum das frische Leben,
So gleicht er schon der heiligen Schar.
Sieh, wie er jedem Erdenbande
Der alten Hülle sich entrafft
Lind aus ätherischem Gewande
Hervortritt erste Jugendkraft.
Vergönne mir, ihn zu belehren,
Noch blendet ihn der neue Tag.
MATER GLORIOSA.
Komm! hebe dich zu höhern Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.
DOCTOR MARIANUS. (auf dem Angesicht
anbetend.)
Blicket auf zum Retterblick,
Alle reuig Zarten,
Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten.
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig;
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig!
CHORUS MYSTICUS.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
Finis.
Aus: Johann Wolfgang Goethe, Faust . Der Tragödie
erster und zweiter Teil (S.366-368)
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch 20439
Gespräch mit Johannes
Falk
Monaden,
Tod und Unsterblichkeit
An Wielands Begräbnistage,
wovon tiefer unten noch Einiges beigebracht werden muß, bemerkte ich eine
so feierliche Stimmung in Goethes Wesen, wie man
sie selten an ihm zu sehen gewohnt ist. Es war etwas so Weiches, ich möchte
fast sagen, Wehmütiges in ihm, seine Augen glänzten häufig, selbst
sein Ausdruck, seine Stimme waren anders als sonst. Dies mochte auch wohl der
Grund sein, daß unsere Unterhaltung diesmal eine Richtung ins
Übersinnliche nahm, was Goethe in der
Regel, wo nicht verschmäht doch lieber von sich ablehnt; völlig aus
Grundsatz, wie mich dünkt, indem er, seinen angebornen Neigungen gemäß,
sich lieber auf die Gegenwart und die lieblichen Erscheinungen beschränkt,
welche Kunst und Natur in den uns zugänglichen Kreisen dem Auge und der
Betrachtung darbieten. Unser abgeschiedener Freund war natürlich der Hauptinhalt
unsers Gespräches. Ohne im Gange desselben besonders auszuweichen, fragte
ich bei irgend einem Anlasse, wo Goethe die Fortdauer
nach dem Tode, wie
etwas, das sich von selbst verstehe, voraussetzte:
»Und was glauben Sie wohl, daß Wielands
Seele in
diesen Augenblicken vornehmen möchte?« —
»Nichts Kleines, nichts Unwürdiges, nichts
mit der sittlichen Größe, die er sein ganzes Leben hindurch behauptete,
Unverträgliches,« war die Antwort. »Aber,
um nicht mißverstanden zu werden, da ich selber von diesen Dingen spreche,
müßte ich wohl etwas weiter ausholen. Es ist etwas um ein achtzig
Jahre hindurch so würdig und ehrenvoll geführtes Leben; es ist etwas
um die Erlangung so geistig zarter Gesinnungen, wie sie in
Wielands Seele so angenehm vorherrschten; es ist etwas um diesen Fleiß,
um diese eiserne Beharrlichkeit und Ausdauer, worin er uns alle miteinander
übertraf!« —
»Möchten Sie ihm wohl einen Platz bei seinem
Cicero anweisen, mit dem er sich noch bis an den
Tod so fröhlich beschäftigte?« —
»Stört mich nicht, wenn ich dem Gange meiner
Ideen eine vollständige und ruhige Entwickelung geben soll! Von Untergang
solcher hohen Seelenkräfte kann in der Natur niemals und unter keinen
Umständen die Rede sein; so verschwenderisch behandelt sie ihre
Kapitalien nie. Wielands Seele ist von Natur ein
Schatz, ein wahres Kleinod. Dazu kommt, daß sein langes Leben diese geistig
schönen Anlagen nicht verringert, sondern vergrößert
hat. Noch einmal, bedenkt mir sorgsam diesen Umstand!
Raffael war kaum in den Dreißigen, Kepler
kaum einige Vierzig, als beide ihrem Leben plötzlich ein Ende machten,
indes Wieland —«
»Wie?« fiel ich hier Goethe
mit einigem Erstaunen ins Wort, »sprechen
Sie doch vom Sterben, als ob es ein Akt von Selbständigkeit
wäre?« —
»Das erlaube ich mir öfters,«
gab er mir zur Antwort, »und wenn es Ihnen anders
gefällt, so will ich Ihnen darüber auch von Grund aus, weil es mir
in diesem Augenblicke erlaubt ist, meine Gedanken sagen.«
Ich bat ihn dringend, mir dieselben nicht vorzuenthalten.
»Sie wissen längst,«
hub er an, »daß
Ideen, die eines festen Fundaments in der Sinnenwelt entbehren, bei all‘
ihrem übrigen Werte für mich keine Überzeugung mit sich führen,
weil ich, der Natur gegenüber, wissen, nicht aber bloß vermuten und
glauben will. Was nun die persönliche Fortdauer unserer
Seele nach dem Tode betrifft, so ist es damit auf meinem Wege also beschaffen.
Sie steht keineswegs mit den vieljährigen Beobachtungen, die ich über
die Beschaffenheit unserer und aller Wesen in der Natur angestellt, im Widerspruch;
im Gegenteil, sie geht sogar aus denselben mit neuer Beweiskraft hervor. Wie
viel aber, oder wie wenig von dieser Persönlichkeit übrigens verdient,
daß es fortdauere, ist eine andere Frage und ein Punkt, den wir
Gott überlassen müssen,
Vorläufig will ich nur dieses zuerst bemerken: ich
nehme verschiedene Klassen und Rangordnungen der letzten Urbestandteile aller
Wesen an, gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen in der Natur,
die ich Seelen nennen möchte, weil von ihnen
die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber
Monaden — lassen
Sie uns immer diesen leibnizischen Ausdruck beibehalten!
Die Einfachheit des einfachsten Wesens auszudrücken,
möchte es kaum einen bessern geben. — Nun sind einige von diesen
Monaden oder Anfangspunkten, wie uns die Erfahrung zeigt, so klein, so geringfügig,
daß sie sich höchstens nur zu einem untergeordneten Dienst und Dasein
eignen. Andere dagegen sind gar stark und gewaltig. Die letzten pflegen daher
alles, was sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in ein ihnen
Angehöriges, d. h. in einen Leib, in eine Pflanze, in ein Tier, oder noch
hoher herauf, in einen Stern zu verwandeln. Sie setzen dies so lange fort, bis
die kleine oder große Welt, deren Intention geistig in ihnen liegt, auch
nach außen leiblich zum Vorschein kommt. Nur die letzten möchte ich
eigentlich Seelen nennen. Es folgt hieraus, daß es Weltmonaden,
Weltseelen, wie Ameisenmonaden, Ameisenseelen gibt, und daß beide
in ihrem Ursprunge, wo nicht völlig
eins, doch im Urwesen verwandt sind.
Jede Sonne, jeder Planet trägt in sich eine höhere
Intention, einen höhern Auftrag, vermöge dessen seine Entwickelungen
ebenso regelmäßig und nach demselben Gesetze, wie die Entwickelungen
eines Rosenstockes durch Blatt, Stiel und Krone, zustande kommen müssen.
Mögen Sie dies eine Idee oder eine Monade
nennen, wie Sie wollen, ich habe auch nichts dawider; genug, daß diese
Intention unsichtbar und früher, als die sichtbare Entwickelung aus ihr
in der Natur, vorhanden ist. Die Larven der Mittelzustände, welche diese
Idee in den Übergängen vornimmt, dürfen uns dabei nicht irre
machen. Es ist immer nur dieselbe Metamorphose
oder Verwandlungsfähigkeit der Natur, die aus dem Blatte eine Blume, eine
Rose, aus dem Ei eine Raupe und aus der Raupe einen Schmetterling
heraufführt. Übrigens gehorchen die niedern
Monaden einer höhern, weil sie eben gehorchen
müssen, nicht aber, daß es ihnen besonders zum Vergnügen
gereichte. Es geht dieses auch im Ganzen sehr natürlich zu. Betrachten
wir z. B. diese Hand. Sie enthält Teile, welche der Hauptmonas,
die sie gleich bei ihrer Entstehung unauflöslich an sich zu knüpfen
wußte, jeden Augenblick zu Dienste stehen. Ich kann dieses oder jenes
Musikstück vermittelst derselben ab¬spielen; ich kann meine Finger,
wie ich will, auf den Tasten eines Klaviers umherfliegen lassen. So verschaffen
sie mir allerdings einen geistig schönen Genuß; sie selbst aber sind
taub, nur die Hauptmonas hört. Ich darf also voraussetzen, daß meiner
Hand oder meinen Fingern wenig oder gar nichts an meinem Klavierspiele gelegen
ist. Das Monadenspiel, wodurch ich mir ein Ergötzen
bereite, kommt meinen Untergebenen wenig zu gute, außer, daß ich
sie vielleicht ein wenig ermüde. Wie weit besser stände es um ihr
Sinnenvergnügen, könnten sie, wozu allerdings eine Anlage in ihnen
vorhanden ist, anstatt auf den Tasten meines Klaviers müßig herumzufliegen,
lieber als emsige Bienen auf den Wiesen umherschwärmen, auf einem Baume
sitzen oder sich an dessen Blütenzweigen ergötzen.
Der Moment des Todes, der darum auch sehr gut eine Auflösung heißt,
ist eben der, wo die regierende Hauptmonas alle ihre bisherigen Untergebenen
ihres treuen Dienstes entläßt. Wie das
Entstehen, so betrachte ich auch das Vergehen
als einen selbständigen Akt dieser, nach ihrem
eigentlichen Wesen uns völlig unbekannten Hauptmonas.
Alle Monaden aber sind von Natur so unverwüstlich,
daß sie ihre Tätigkeit im Moment der Auflösung selbst nicht
einstellen oder verlieren, sondern noch in demselben Augenblicke wieder fortsetzen.
So scheiden sie nur aus den alten Verhältnissen, um auf der Stelle wieder
neue einzugehen. Bei diesem Wechsel kommt alles darauf
an, wie mächtig die Intention sei, die in dieser oder jener Monas enthalten
ist. Die Monas einer gebildeten Menschenseele und die eines Bibers, eines
Vogels, oder eines Fisches, das macht einen gewaltigen
Unterschied. Und da stehen wir wieder an den Rangordnungen
der Seelen, die wir gezwungen sind anzunehmen, sobald wir uns die Erscheinungen
der Natur nur einigermaßen erklären wollen. Swedenborg
hat dies auf seine Weise versucht und bedient sich zu Darstellung seiner Ideen
eines Bildes, das nicht glücklicher gewählt sein kann. Er
vergleicht nämlich den Aufenthalt, worin sich die Seelen befinden, mit
einem in drei Hauptgemächer eingeteilten Raume, in dessen Mitte ein großer
befindlich ist. Nun wollen wir annehmen, daß aus diesen verschiedenen
Gemächern sich auch verschiedene Kreaturen, z. B. Fische, Vögel, Hunde,
Katzen in den großen Saal begeben; eine freilich sehr gemengte Gesellschaft!
Was wird davon die unmittelbare Folge sein? Das Vergnügen, beisammenzusein,
wird bald genug aufhören; aus den einander so heftig entgegengesetzten
Neigungen wird sich ein ebenso heftiger Krieg entspinnen;
am Ende wird sich das Gleiche zum Gleichen, die Fische zu den Fischen, die Vögel
zu den Vögeln, die Hunde zu den Hunden, die Katzen zu den Katzen gesellen,
und jede von diesen besondern Gattungen wird auch, wo möglich, ein besonders
Gemach einzunehmen suchen. Da haben wir völlig die Geschichte von unsern
Monaden nach ihrem irdischen Ableben. Jede Monade geht,
wo sie hingehört, ins Wasser, in die Luft, in die Erde, ins Feuer, in die
Sterne; ja der geheime Zug, der sie dahin führt, enthält zugleich
das Geheimnis ihrer zukünftigen Bestimmung.
An eine Vernichtung ist gar nicht zu denken; aber von irgend einer mächtigen
und dabei gemeinen Monas unterwegs angehalten und ihr untergeordnet zu werden,
diese Gefahr hat aller¬dings etwas Bedenkliches, und die Furcht davor wüßte
ich auf dem Wege einer bloßen Naturbetrachtung meinesteils nicht ganz
zu beseitigen.«
Indem ließ sich ein Hund auf der Straße mit seinem Gebell zu wiederholten
Malen vernehmen. Goethe, der von Natur eine Antipathie
wider alle Hunde besitzt, fuhr mit Heftigkeit ans Fenster und rief ihm entgegen:
»Stelle dich wie du willst, Larve, mich sollst
du doch nicht unterkriegen!«
Höchst befremdend für den, der den Zusammenhang goethescher
Ideen nicht kennt; für den aber, der damit bekannt ist, ein humoristischer
Einfall, der eben am rechten Orte war!
»Dies niedrige Weltgesindel,« nahm
er nach einer Pause und etwas beruhigter wieder das Wort, »pflegt
sich über die Maßen breit zu machen; es ist ein wahres Monadenpack,
womit wir in diesem Planetenwinkel zusammengeraten sind, und möchte wenig
Ehre von dieser Gesellschaft, wenn sie auf andern Planeten davon hörten,
für uns zu erwarten sein.«
Ich fragte weiter: ob er wohl glaube, daß die Übergänge aus
diesen Zuständen für die Monaden selbst mit Bewußtsein verbunden
wären? Worauf Goethe erwiderte:
»Daß es einen allgemein historischen Überblick,
sowie daß es höhere Naturen, als wir selbst, unter den Monaden geben
könne, will ich nicht in Abrede sein. Die Intention einer Weltmonade kann
und wird manches aus dem dunkeln Schoße ihrer Erinnerung hervorbringen,
das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen
Zustandes, folglich Gedächtnis ist; völlig wie das menschliche Genie
die Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls entdeckte, nicht durch
trockne Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel
fallenden Blitz der Erinnerung, weil es bei deren Abfassung selbst zugegen war.
Es würde vermessen sein, solchen Aufblitzen im Gedächtnis höherer
Geister ein Ziel zu setzen, oder den Grad, in welchem sich diese Erleuchtung
halten müßte, zu bestimmen. So im allgemeinen
und historisch gefaßt, finde ich in der Fortdauer
von Persönlichkeit einer Weltmonas durchaus nichts Undenkbares.«
Aus: Johannes Falk, Goethes Verhältnis zu ausgezeichneten
Zeitgenossen … Leipzig 1832, S.114-120
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden.
Band 2: 1786 - 1832, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei 347
(S.330ff.)
Gespräche
mit Eckermann
Inhaltsverzeichnis
Dreieinigkeit
Die menschliche Vernunft und
die der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge
Die Herkunft des Sittlichen
Die Lehre der Mohammedaner
Über Carlyle
Das Wesen der Dialektik
Das Geheimis der produktiven
Kreativität
Die Welt soll nicht so schnell
zum Ziele
Die christliche Religion ist
ein mächtiges Wesen
Talent allein reicht nicht aus
Entelechie
Die Mütter
Wissenschaft und Gott
Das Höchste Wesen ist
die Vernunft selber
Gott hat sich nicht zur Ruhe gesetzt
Dreieinigkeit
Freitag, den 2.
Januar 1824
In religiösen Dingen, in wissenschaftlichen und politischen, überall
machte es mir zu schaffen, daß ich nicht heuchelte, und daß ich
den Mut hatte, mich auszusprechen wie ich empfand.
Ich glaubte an Gott und die Natur und an den Sieg des Edeln über das Schlechte;
aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß
Drei Eins sei und Eins Drei: das aber widerstrebte
dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, daß
mir damit auch nur im mindesten wäre geholfen gewesen. S.385
Die
menschliche Vernunft und die der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge
Mittwoch, den
15. Oktober 1825
[...] Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen,
wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des
Begreiflichen zu halten.
Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht
hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkte
ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen
und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit
Gottes getan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich tun werde, bin ich
gezwungen, zu handeln wie sie es weiß.
Dieses führe ich nur an als ein Zeichen, wie wenig wir wissen, und daß
an göttlichen Geheimnissen nicht gut zu rühren
ist.
Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zu
gute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden
auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz
breiten.« S.122f.
Die
Herkunft des Sittlichen
Sonntag, den 1. April 1927
Das Gespräch lenkte sich auf die 'Antigone' von Sophokles, auf die darin
waltende hohe Sittlichkeit und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die
Welt gekommen.
»Durch Gott selber,«
erwiderte Goethe, »wie
alles andere Gute. Es ist
kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es
ist angeschaffene und angeborene schöne Natur.
Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen
Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern. Diese haben
durch große Taten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches
sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff
und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.
Der Wert des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und
Weisheit zum Bewußtsein gelangen, indem das Schlechte sich in seinen Folgen
als ein solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen
zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein solches, welches das besondere
und allgemeine Glück herbeiführte und befestigte. So konnte das Sittlich-Schöne
zur Lehre werden und sich als ein Ausgesprochenes über ganze Völkerschaften
verbreiten.«
»Ich las neulich irgendwo die Meinung ausgesprochen,« versetzte
ich, »die griechische Tragödie habe sich die Schönheit des Sittlichen
zum besondern Gegenstande gemacht.«
»Nicht sowohl das Sittliche,« erwiderte Goethe,
»als das Rein-Menschliche in seinem ganzen Umfange, besonders aber in
den Richtungen, wo es, mit einer rohen Macht und Satzung in Konflikt geratend,
tragischer Natur werden konnte. In dieser Region lag denn freilich auch das
Sittliche, als ein Hauptteil der menschlichen Natur.
Das Sittliche der 'Antigone' ist übrigens nicht von Sophokles erfunden,
sondern es lag im Sujet, welches aber Sophokles um so lieber wählen mochte,
als es neben der sittlichen Schönheit so viel dramatisch Wirksames in sich
hatte.«
Goethe sprach sodann über den Charakter des
Kreon und der Ismene und über die Notwendigkeit dieser beiden Figuren zur
Entwickelung der schönen Seele der Heldin.
»Alles Edle,« sagte er, »ist an sich stiller Natur und scheint
zu schlafen, bis es durch Widerspruch geweckt und herausgefordert wird. Ein
solcher Widerspruch ist Kreon, welcher teils der Antigone wegen da ist, damit
sich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre,
teils aber um sein selbst willen, damit sein unseliger Irrtum uns als ein Hassenswürdiges
erscheine. S.432
Die Lehre der Mohammedaner
Mittwoch, den 11. April 1827
»Ihr müßtet wie ich,« sagte Goethe, »seit fünfzig
Jahren die Kirchengeschichte studiert haben, um zu begreifen, wie das alles
zusammenhängt. Dagegen ist es höchst merkwürdig, mit welchen
Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion
befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß
dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von
einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit
sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen
kaum eines Weitern.
Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches, Nützliches
oder Schädliches sein mag, aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch
etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf
der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat
in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten
Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: Kein
Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselbigen
Quelle hervorgegangen und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge
behält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.
Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der
Lehre: daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse,
und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen
lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden
und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen
muß.
Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden,
entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel
aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung
und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht,
die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine
völlige Beruhigung findet.
Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt, und daß wir mit allen
unsern Systemen nicht weiter sind, und daß überhaupt niemand weiter
gelangen kann.«
»Ich werde dadurch,« sagte ich, »an die Griechen erinnert,
deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche gewesen sein muß,
wie uns dieses ihre Tragödie beweist, deren Wesen im Verlauf der Handlung
auch ganz und gar auf dem Widerspruch beruht, indem niemand der redenden Personen
etwas behaupten kann, wovon der andere nicht ebenso klug das Gegenteil zu sagen
wüßte.«
»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »auch fehlt der
Zweifel nicht, welcher im Zuschauer oder Leser erweckt wird, sowie wir denn
am Schluß durch das Schicksal zur Gewißheit gelangen, welches sich
an das Sittliche anschließt und dessen Partei führt.«
Wir standen von Tische auf, und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um
unsere Gespräche fortzusetzen.
»An Lessing,« sagte ich, »ist es merkwürdig, daß
er in seinen theoretischen Schriften, z.B. im 'Laokoon', nie geradezu auf Resultate
losgeht, sondern uns immer erst jenen philosophischen Weg durch Meinung, Gegenmeinung
und Zweifel herumführt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit
gelangen läßt. Wir sehen mehr die Operation des Denkens und Findens,
als daß wir große Ansichten und große Wahrheiten erhielten,
die unser eigenes Denken anzuregen und uns selbst produktiv zu machen geeignet
wären.«
»Sie haben wohl recht,« sagte Goethe. »Lessing soll selbst
einmal geäußert haben, daß, wenn Gott
ihm die Wahrheit geben wolle, er sich dieses Geschenk verbitten, vielmehr
die Mühe vorziehen würde, sie selber zu suchen.
Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab,
den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger
Tugend man denn eigentlich stehe.
Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in der Region
der Widersprüche und Zweifel auf; das Unterscheiden ist seine Sache, und
dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich
selbst werden Sie dagegen ganz anders finden: ich habe mich nie auf Widersprüche
eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen gesucht, und
nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen.« S.179f.
Über
Carlyle
Mittwoch, den 25. Juli 1827
An Carlyle ist es bewundernswürdig, daß er bei Beurteilung unserer
deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das
eigentlich Wirksame im Auge hat. Carlyle
ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft
vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er alles leisten und wirken wird.«
S.449
Sonnabend, den 11. Oktober 1828
Goethe sagte mir, daß er Carlyles Aufsatz über ihn gleichfalls diesen
Morgen betrachtet, und so waren wir denn imstande, über die Bestrebungen
der Ausländer manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen.
»Es ist eine Freude, zu sehen,« sagte Goethe, »wie die frühere
Pedanterie der Schotten sich in Ernst und Gründlichkeit verwandelt hat.
Wenn ich bedenke, wie die Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen
behandelt haben, und ich jetzt dagegen Carlyle's Verdienste
um die deutsche Literatur erwäge, so ist es auffallend, welch ein
bedeutender Vorschritt zum Bessern geschehen ist.«
»An Carlyle,« sagte ich, »muß ich vor allem den Geist
und Charakter verehren, der seinen Richtungen zum Grunde liegt. Es ist ihm um
die Kultur seiner Nation zu thun, und da fragt er denn bei den literarischen
Erzeugnissen des Auslandes, womit er seine Landsleute bekannt zu machen wünscht,
weniger nach Künsten des Talents als nach der Höhe sittlicher Bildung,
die aus solchen Werken zu gewinnen.«
»Ja,« sagte Goethe, »die Gesinnung, aus der er handelt, ist
besonders schätzbar. Und wie ist es ihm Ernst! und wie hat er uns Deutsche
studiert! Er ist in unserer Literatur fast besser zu Hause als wir selbst; zum
wenigsten können wir mit ihm in unsern Bemühungen um das Englische
nicht wetteifern.«
»Der Aufsatz,« sagte ich, »ist mit einem Feuer und Nachdruck
geschrieben, daß man ihm wohl anmerkt, daß in England noch viele
Vorurteile und Widersprüche zu bekämpfen sind. Den 'Wilhelm Meister'
zumal scheinen übelwollende Kritiker und schlechte Übersetzer in kein
günstiges Licht gebracht zu haben. Dagegen benimmt sich nun Carlyle sehr
gut. Der dummen Nachrede, daß keine wahre Edelfrau den 'Meister' lesen
dürfe, widerspricht er sehr heiter mit dem Beispiele der letzten Königin
von Preußen, die sich mit dem Buche vertraut gemacht und die doch mit
Recht für eine der ersten Frauen ihrer Zeit gelte.«
Verschiedene Tischgäste traten herein, die Goethe begrüßte.
Er wendete seine Aufmerksamkeit mir wieder zu, und ich fuhr fort.
»Freilich,« sagte ich, »hat Carlyle den 'Meister' studiert,
und so durchdrungen von dem Wert des Buches wie er ist, möchte er gern,
daß es sich allgemein verbreitete, er möchte gern, daß jeder
Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte.«
Goethe zog mich an ein Fenster, um mir zu antworten.
»Liebes Kind,« sagte er, »ich will Ihnen etwas vertrauen,
das Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich
zugute kommen soll. Meine Sachen können nicht populär werden; wer
daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie
sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen,
die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen
begriffen sind.« S.211f.
Das
Wesen der Dialektik
Donnerstag, den 18. Oktober 1827
Hegel ist hier, den Goethe persönlich sehr hoch schätzt, wenn auch
einige seiner Philosophie entsprossenen Früchte ihm nicht sonderlich munden
wollen. Goethe gab ihm zu Ehren diesen Abend einen Tee, wobei auch Zelter gegenwärtig,
der aber noch diese Nacht wieder abzureisen im Sinne hatte.
Man sprach sehr viel über Hamann, wobei besonders Hegel das Wort führte
und über jenen außerordentlichen Geist so gründliche Ansichten
entwickelte, wie sie nur aus dem ernstesten und gewissenhaftesten Studium des
Gegenstandes hervorgehen konnten.
Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik. »Es
ist im Grunde nichts weiter,« sagte Hegel, »als
der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen
inwohnt, und welche Gabe sich groß erweist in Unterscheidung des wahren
vom Falschen.«
»Wenn nur,« fiel Goethe ein, »solche geistige Künste
und Gewandtheiten nicht häufig gemißbraucht und dazu verwendet würden,
um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!«
»Dergleichen geschieht wohl,« erwiederte Hegel; »aber nur
von Leuten, die geistig krank sind.«
»Da lobe ich mir,« sagte Goethe, »das Studium der Natur, das
eine solche Krankheit nicht aufkommen läßt! Denn hier haben wir es
mit dem unendlich und ewig Wahren zu tun, das jeden, der nicht durchaus rein
und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung seines Gegenstandes verfährt,
sogleich als unzulänglich verwirft. Auch bin ich gewiß, daß
mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohltätige Heilung
finden könnte.« S.409f.
Das
Geheimis der produktiven Kreativität
Dienstag, den 11. März 1828
Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede
Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat,
steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen
Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von
oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen
und zu verehrenhat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig
mit ihm tut wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während
er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch
oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung
zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß
zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Ich sage dies, indem ich
erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt
gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter
ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich
blieb und wohltätig fortwirkte.
Sodann aber gibt es eine Produktivität anderer Art, die schon eher irdischen
Einflüssen unterworfen ist und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt
hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen
Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines
Plans Gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte
bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles dasjenige, was den sichtbaren
Leib und Körper eines Kunstwerks ausmacht. S.475f.
Die
Welt soll nicht so schnell zum Ziele
Donnerstag, den 23. Oktober 1828
Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele als wir denken und wünschen. Immer
sind die retardierenden Dämonen da, die überall dazwischen- und überall
entgegentreten, so daß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr
langsam. Leben Sie nur fort, und Sie werden schon finden, daß ich recht
habe.“
,,Die Entwickelung der Menschheit“, sagte ich, ,,scheint auf Jahrtausende
angelegt.“
,,Wer weiß“, erwiderte Goethe, ,,vielleicht auf Millionen! Aber
laß die Menschheit dauern so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen
fehlen, die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei
Not, damit sie ihre Kräfte entwickele. Klar und einsichtiger wird
sie werden, aber besser, glücklicher und tatkräftiger nicht oder doch
nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr
hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten
Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles danach angelegt und es steht
in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche
eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können
noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auf dieser lieben alten Fläche,
wie sie ist, allerlei Spaß haben.“ S.488
Die
christliche Religion ist ein mächtiges Wesen
Mittwoch, den 4. Februar 1929
Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen für sich, woran die
gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder emporgearbeitet
hat; und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über aller Philosophie
erhaben und bedarf von ihr keiner Stütze. So auch bedarf der Philosoph
nicht das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu beweisen, wie z.B. die
einer ewigen Fortdauer. Der Mensch soll an Unsterblichkeit
glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß, und er
darf auf religiöse Zusagen bauen; wenn aber der Philosoph den Beweis für
die Unsterblichkeit unserer Seele aus einer Legende hernehmen will, so ist das
sehr schwach und will nicht viel heißen. Die Überzeugung unserer
Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis
an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form
des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten
vermag. S.221
Talent
allein reicht nicht aus
Freitag, den 13. Februar 1829.
Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es gehört mehr dazu, um
gescheit zu werden, man muß auch in großen Verhältnissen leben
und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren der Zeit in die Karten zu sehen
und selber zu Gewinn und Verlust mitzuspielen.
Ohne meine Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich jedoch
die Menschen nie kennen gelernt wie sie sind. In allen andern Dingen kann man
dem reinen Anschauen und Denken, den Irrtümern der Sinne wie des Verstandes,
den Charakterschwächen und -stärken nicht so nachkommen, es ist alles
mehr oder weniger biegsam und schwankend und läßt alles mehr oder
weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie
ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler
und Irrtümer sind immer des Menschen. Den Unzulänglichen verschmäht
sie, und nur dem Zulänglichen, Wahren und Reinen ergibt sie sich und offenbart
ihm ihre Geheimnisse.
Der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der Mensch muß fähig sein,
sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu
rühren, die sich in Urphänomenen, physischen
wie sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und die von
ihr ausgehen.
Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber nicht
im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im
Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum
Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen tun, der Verstand mit dem
Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze. S.226f.
Montag, den 14. Februar 1831
Das Talent ist freilich nicht erblich, allein es will eine tüchtige physische
Unterlage, und da ist es denn keineswegs einerlei, ob jemand der Erst- oder
Letztgeborene, und ob er von kräftigen und jungen, oder von schwachen und
alten Eltern ist gezeugt worden.«
»Merkwürdig ist,« sagte ich, »daß sich von allen
Talenten das musikalische am frühesten zeigt, so daß Mozart in seinem
fünften, Beethoven in seinem achten, und Hummel in seinem neunten Jahre
schon die nächste Umgebung durch Spiel und Kompositionen in Erstaunen setzten.«
»Das musikalische Talent,« sagte Goethe, »kann sich wohl am
frühesten zeigen, indem die Musik ganz etwas Angeborenes, Inneres ist,
das von außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen
Erfahrung bedarf. Aber freilich eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein
Wunder, das nicht weiter zu erklären ist. Doch wie wollte die Gottheit
überall Wunder zu tun Gelegenheit finden, wenn sie es nicht zuweilen in
außerordentlichen Individuen versuchte, die wir anstaunen, und nicht begreifen
woher sie kommen!« S.321
Entelechie
Dienstag, den 1. September 1829.
Ich erzählte Goethe von einem Durchreisenden, der bei Hegel
ein Kollegium über den Beweis des Daseins
Gottes gehört. Goethe stimmte mir bei,
daß dergleichen Vorlesungen nicht mehr an der Zeit seien.
,,Die Periode des Zweifels“, sagte er, ,,ist vorüber; es
zweifelt jetzt so wenig jemand an sich selber als an Gott.
Zudem sind die Natur Gottes,
die Unsterblichkeit,
das Wesen unserer Seele
und ihr Zusammenhang mit dem Körper ewige Probleme, worin uns die
nicht weiter bringen. Ein französischer Philosoph der neuesten Tage fängt
sein Kapitel ganz getrost folgendermaßen an: ,Es ist bekannt, daß
der Mensch aus zwei Teilen besteht, aus Leib und Seele. Wir wollen demnach mit
dem Leibe anfangen und sodann von der Seele reden‘. Fichte
ging doch schon ein wenig weiter und zog sich etwas klüger aus der Sache,
indem er sagte: ,Wir wollen handeln vom Menschen als Leib
betrachtet, und vom Menschen als Seele betrachtet‘. Er fühlte
zu wohl, daß sich ein so eng verbundenes Ganzes nicht trennen lasse.
Kant hat unstreitig am meisten enützt, indem er die Grenzen
zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und daß
er die unauflöslichen Probleme liegen ließ. Was hat man nicht
alles über Unsterblichkeit philosophiert! und wie weit ist man gekommen?
Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die
Entelechie* nicht
entbehren; aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich,
und um sich künftig als große Entelechie
zu manifestieren, muß man auch eine sein.
*Die »Entelechie«
stellt in Goethes Denken einen immer wiederkehrenden Zentralbegriff
dar, um, wie Düntzer bemerkt, »die unzerstörliche einzelne
Lebenskraft, die Monas, zu bezeichnen«. Vergl. auch Fausts Himmelfahrt.
,,Während aber die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme
quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen
Verstande aus und gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Deklamationen gegen
den Sklavenhandel, und während sie uns weismachen wollen, was für
humane Maximen solchem Verfahren zu Grunde liegen, entdeckt sich jetzt, daß
das wahre Motiv ein reales Objekt sei, ohne welches es die Engländer bekanntlich
nie tun, und welches man hätte wissen sollen. An der westlichen Küste
von Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen Besitzungen,
und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort ausführe. In Amerika
haben sie selbst große Negerkolonien angelegt, die sehr produktiv sind
und jährlich einen großen Ertrag an Schwarzen liefern. Mit diesen
versehen sie die nordamerikanischen Bedürfnisse, und indem sie auf solche
Weise einen höchst einträglichen Handel treiben, wäre die Einfuhr
von außen ihrem merkantilischen Interesse sehr im Wege, und sie predigen
daher nicht ohne Objekt gegen den inhumanen Handel. Noch auf dem Wiener Kongreß
argumentierte der englische Gesandte sehr lebhaft dagegen; aber der portugiesische
war klug genug, in aller Ruhe zu antworten, daß er nicht wisse, daß
man zusammengekommen sei, ein allgemeines Weltgericht abzugeben oder die Grundsätze
der Moral festzusetzen. Er kannte das englische Objekt recht gut, und so hatte
auch er das seinige, wofür er zu reden und welches er zu erlangen wußte.“
S.265f.
Die
Mütter
Sonntag, den 10. Januar 1830
Heute zum Nachtisch bereitete Goethe mir einen hohen Genuß, indem er mir
die Szene vorlas, wo Faust zu den Müttern geht.
Das Neue, Ungeahnte des Gegenstandes, sowie die Art und Weise wie Goethe mir
die Szene vortrug, ergriff mich wundersam, sodaß ich mich ganz in die
Lage von Faust versetzt fühlte, den bei der Mitteilung des Mephistopheles
gleichfalls ein Schauer überläuft.
Ich hatte das Dargestellte wohl gehört und wohl empfunden, aber es blieb
mir so vieles rätselhaft, daß ich mich gedrungen fühlte, Goethe
um einigen Aufschluß zu bitten. Er aber, in seiner gewöhnlichen Art,
hüllte sich in Geheimnisse, indem er mich mit großen Augen anblickte
und mir die Worte wiederholte:
Die Mütter!
Mütter! 's klingt so wunderlich!
»Ich kann Ihnen weiter nichts verraten,« sagte er darauf, »als
daß ich beim Plutarch gefunden, daß
im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten
die Rede gewesen. Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke,
das übrige ist meine eigene Erfindung. Ich gebe Ihnen das Manuskript mit
nach Hause, studieren Sie alles wohl und sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen.«
Ich war darauf glücklich bei wiederholter ruhiger Betrachtung dieser merkwürdigen
Szene und entwickelte mir über der Mütter eigentliches Wesen und Wirken,
über ihre Umgebung und Aufenthalt die nachfolgende Ansicht.
Könnte man sich den ungeheuern Weltkörper unserer Erde im Inneren
als leeren Raum denken, so daß man Hunderte von Meilen in e i n er Richtung
darin fortzustreben vermöchte, ohne auf etwas Körperliches zu stoßen,
so wäre dieses der Aufenthalt jener unbekannten Göttinnen, zu denen
Faust hinabgeht. Sie leben gleichsam außer allem Ort, denn es ist nichts
Festes, das sie in einiger Nähe umgibt; auch leben sie außer aller
Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Gestirn, welches auf- oder unterginge und
den Wechsel von Tag und Nacht andeutet.
So in ewiger Dämmerung und Einsamkeit beharrend, sind die Mütter
schaffende Wesen, sie sind das schaffende und erhaltende
Prinzip von dem alles ausgeht, was auf der Oberfläche der Erde Gestalt
und Leben hat. Was zu atmen aufhört, geht als geistige Natur zu
ihnen zurück, und sie bewahren es, bis es wieder Gelegenheit findet in
ein neues Dasein zu treten. Alle Seelen und Formen von dem, was einst war und
künftig sein wird, alles schweift in dem endlosen Raum ihres Aufenthalts
wolkenartig hin und her, es umgibt die Mütter; und der Magier muß
also in ihr Reich gehen, wenn er durch die Macht seiner Kunst über die
Form eines Wesens Gewalt haben und ein früheres Geschöpf zu einem
Scheinleben hervorrufen will.
Die ewige Metamorphose des irdischen Daseins, des Entstehens
und Wachsens, des Zerstörens und Wiederbildens, ist also der Mütter
nie aufhörende Beschäftigung. Und wie nun bei allem, was auf
der Erde durch Fortsetzung ein neues Leben erhält,
das W e i b l i c h e hauptsächlich
wirksam ist, so mögen jene schaffenden Gottheiten
mir Recht w e i b l i c h gedacht, und es mag der
ehrwürdige Name Mütter ihnen nicht ohne
Grund beigelegt werden.
Freilich ist dieses alles nur eine poetische Schöpfung; allein der beschränkte
Mensch vermag nicht viel weiter zu dringen, und er ist zufrieden, etwas zu finden,
wobei er sich beruhigen möchte. Wir sehen auf Erden Erscheinungen und empfinden
Wirkungen, von denen wir nicht- wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen.
Wir schließen auf einen geistigen Urquell, auf ein Göttliches, wofür
wir keine Begriffe und keinen Ausdruck haben, und welches wir zu uns herabziehen
und anthropomorphisieren müssen, um unsere dunklen Ahnungen einigermaßen
zu verkörpern und faßlich zu machen.
So sind alle Mythen entstanden, die von Jahrhundert zu Jahrhundert in den Völkern
fortlebten, und ebenso diese neue von Goethe, die wenigstens den Schein einiger
Naturwahrheit hat, und die wohl den besten gleichzustellen sein dürfte,
die je gedacht worden. S.274ff.
Wissenschaft
und Gott
Sonntag, den 20. Februar 1831
[...] ,,Es ist dem Menschen natürlich“,
sagte Goethe, ,,sich als
das Ziel der Schöpfung zu betrachten und alle übrigen Dinge nur in
bezug auf sich und insofern sie ihm dienen und nützen. Er bemächtigt
sich der vegetabilischen und animalischen Welt, und indem er andere Geschöpfe
als passende Nahrung verschlingt, erkennt er seinen Gott und preist dessen Güte,
die so väterlich für ihn gesorgt. Der Kuh nimmt er die Milch, der
Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er den Dingen einen i h m nützlichen
Zweck gibt, glaubt er auch, daß sie dazu sind geschaffen worden. Ja, er
kann sich nicht denken, daß nicht auch das kleinste Kraut für ihn
dasei, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwärtig nicht erkannt hat, so
glaubt er doch, daß solches sich künftig ihm gewiß entdecken
werde.
,,Und wie der Mensch nun im allgemeinen denkt, so denkt er auch im besonderen,
und er unterläßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch
in die Wissenschaft zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen seines organischen
Wesens nach deren Ziel und Nutzen zu fragen.
„Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft eine
Weile damit durchkommen; allein gar bald wird er auf Erscheinungen stoßen,
wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht, und wo er ohne höheren
Halt sich in lauter Widersprüchen verwickelt.
,,Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um
sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: Warum hat das Schaf keine? und wenn
es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm
zu nichts dienen?
„Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen
Hörnern, weil er sie hat.
,,Die Frage nach dem Zweck, die Frage W a r u m? ist durchaus nicht wissenschaftlich.
Etwas weiter aber kommt man mit der Frage W i e? Denn wenn ich frage: Wie hat
der Ochse Hörner? so führt mich das auf die Betrachtung seiner Organisation
und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben
kann.
„So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte hohle
Stellen. Die Frage W a r u m? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber
die Frage W i e? mich belehrt, daß diese Höhlen Reste des tierischen
Schädels sind, die sich bei solchen geringeren Organisationen in stärkerem
Maße befinden, und die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch
nicht ganz verloren haben.
Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn
sie nicht d e n anbeten sollen, der dem Ochsen die Hörner gab, damit er
sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich d e n verehre,
der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen
Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen
Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen.
,,Man verehre ferner d e n, der dem Vieh sein Futter gibt und dem Menschen Speise
und Trank, soviel er genießen mag; ich aber bete
d e n an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, daß,
wenn nur der millionteste Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen
wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen.
Das ist m e i n Gott!“ S.327f.
Das
Höchste Wesen ist die Vernunft selber
Mittwoch, den 23. Februar 1831
Vor Tisch bei einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee begegnet mir Goethe,
welcher halten läßt und mich in seinen Wagen nimmt. Wir fahren eine
gute Strecke hinaus bis auf die Höhe neben das Tannenhölzchen und
reden über naturhistorische Dinge.
Die Hügel und Berge waren mit Schnee bedeckt, und ich erwähne die
große Zartheit des Gelben, und daß in der Entfernung von einigen
Meilen, mittels zwischenliegender Trübe, ein Dunkles eher blau erscheine
als ein Weißes gelb. Goethe stimmt mir zu und wir sprechen sodann von
der hohen Bedeutung der Urphänomene, hinter welchen man unmittelbar die
Gottheit zu gewahren glaube.
„Ich frage nicht“, sagte Goethe, ,,ob dieses
höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich
fühle, es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe
sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon so viel, daß er Teile
des Höchsten erkennen mag.“
Bei Tisch kam das Bestreben gewisser Naturforscher zur Erwähnung, die,
um die organische Welt zu durchschreiten, von der Mineralogie aufwärts
gehen wollen. ,,Dieses ist ein großer Irrtum“, sagte Goethe. ,,In
der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen
ist es das Komplizierteste. Man sieht also, daß beide Wellen ganz verschiedene
Tendenzen haben, und daß von der einen zur anderen keineswegs ein stufenartiges
Fortschreiten stattfindet.“
Ich merkte mir dieses als von großer Bedeutung. S.330
Gott
hat sich nicht zur Ruhe gesetzt
Sonntag, den 11. März 1832.
Abends ein Stündchen bei Goethe in allerlei guten Gesprächen Ich hatte
mir eine englische Bibel gekauft, in der ich zu meinem großen Bedauern
die apokryphischen Bücher nicht enthalten fand und zwar waren sie nicht
aufgenommen als nicht für echt gehalten und als nicht göttlichen Ursprungs.
Ich vermißte den durch und durch edlen Tobias, dieses Musterbild eines
frommen Wandels, ferner die Wahrheit Salomonis und Jesus Sirach: alles Schriften
von so großer geistiger und sittlicher Höhe, daß wenig andere
ihnen gleichkommen. Ich sprach gegen Goethe mein Bedauern aus über die
höchst enge Ansicht, wonach einige Schriften des Alte Testaments als unmittelbar
von Gott eingegeben betrachtet werden, andere gleich treffliche aber nicht:
und als ob denn überhaupt etwas Edles und Großes entstehen könne,
das nicht von Gott komme und das nicht eine Frucht seiner Einwirkung.
,,Ich bin durchaus Ihrer Meinung“, erwiderte Goethe. ,,Doch gibt es zwei
Standpunkte, von welchen aus die biblischen Dinge zu betrachten. Es gibt den
Standpunkt einer Art Urreligion, den der reinen
Natur und Vernunft, welcher göttlicher Abkunft. Dieser wird ewig derselbige
bleiben und wird dauern und gelten, solange gottbegabte Wesen vorhanden. Doch
ist er nur für Auserwählte und viel zu hoch und edel, um allgemein
zu werden. Sodann gibt es den Standpunkt der Kirche, welcher mehr menschlicher
Art. Er ist gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen; doch auch er wird
in ewiger Umwandlung dauern, solange schwache menschliche Wesen sein werden.
Das Licht ungetrübter göttlicher Offenbarung
ist viel zu rein und glänzend, als daß es den armen, gar schwachen
Menschen gemäß und erträglich wäre. Die Kirche aber
tritt als wohltätige Vermittlerin ein, um zu dämpfen und zu ermäßigen,
damit allen geholfen und damit vielen wohl werde. Dadurch, daß der christlichen
Kirche der Glaube beiwohnt, daß sie als Nachfolgerin Christi von der Last
menschlicher Sünde befreien könne, ist sie eine sehr große Macht.
Und sich in dieser Macht und diesem Ansehen zu erhalten und so das kirchliche
Gebäude zu sichern, ist der christlichen Priesterschaft vorzügliches
Augenmerk.
,,Sie hat daher weniger zu fragen, ob dieses oder jenes biblische Buch eine
große Aufklärung des Geistes bewirke und ob es Lehren hoher Sittlichkeit
und edler Menschennatur enthalte, als daß sie vielmehr in den Büchern
Mose auf die Geschichte des Sündenfalls und die Entstehung des Bedürfnisses
nach dem Erlöser Bedeutung zu legen, ferner in den Propheten die wiederholte
Hinweisung auf ihn, den Erwarteten, sowie in den Evangelien sein wirkliches
irdisches Erscheinen und seinen Tod am Kreuze, als unserer menschlichen Sünden
Sühnung im Auge zu halten hat. Sie sehen also, daß für solche
Zwecke und Richtungen und auf solcher Waage gewogen, so wenig der edle Tobias
als die Weisheit Salomonis und die Sprüche Sirachs einiges bedeutende Gewicht
haben können.
,,Übrigens, echt oder unecht
sind bei Dingen der Bibel gar wunderliche Fragen. Was ist echt als das ganz
Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und
noch heute unserer höchsten Entwickelung dient! Und was ist unecht als
das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute!
Sollte die Echtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden werden,
ob uns durchaus Wahres überlielert worden, so könnte man sogar in
einigen Punkten die Echtheit der Evangelien bezweifeln, wovon Markus und Lukas
nicht aus unmittelbarer Ansicht und Erfahrung, sondern erst spät nach mündlicher
Überlieferung geschrieben, und das letzte, von dem Jünger Johannes,
erst im höchsten Alter. Dennoch halte ich die Evangelien
alle vier für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit
wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art,
wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist . Fragt man mich,
ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich:
Durchaus! Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen
Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. Fragt man mich,
ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: Durchaus!
Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste,
die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich
anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben,
weben und sind, und alle Pflanzen und Tiere mit uns. Fragt man mich aber,
ob ich geneigt sei, mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli
zu bücken, so sage ich: Verschont mich und bleibt mir mit euren Absurditäten
vom Leibe!
„ ,Den Geist dämpfet nicht!‘ sagt
der Apostel (1. Thessal. 5, 19).
,,Es ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen,
und da muß sie eine bornierte Masse haben, die sich duckt und die geneigt
ist sich beherrschen zu lassen. Die hohe, reichdotierte Geistlichkeit fürchtet
nichts mehr als die Aufklärung der unteren Massen. Sie hat ihnen auch die
Bibel lange genug vorenthalten, so lange als irgend möglich. Was sollte
auch ein armes christliches Gemeindeglied von der fürstlichen Pracht eines
reichdotierten Bischofs denken, wenn es dagegen in den Evangelien die Armut
und Dürftigkeit Christi sieht, der mit seinen Jüngern in Demut zu
Fuße ging, während der fürstliche Bischof in einer von sechs
Pferden gezogenen Karosse einherbraust!
,,Wir wissen gar nicht“, fuhr Goethe fort, ,,was wir Luthern
und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei
geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden
Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum
in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen
auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen.
Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften
in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen, und der menschliche Geist sich
erweitern wie er will, über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums,
wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen!
,,Je tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwickelung voranschreiten,
desto schneller werden die Katholiken folgen. Sobald sie sich von der immer
weiter um sich greifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen,
m ü s s e n sie nach, sie mögen sich stellen wie sie wollen, und es
wird dahin kommen, daß endlich alles nur eins
ist.
,,Auch das leidige protestantische Sektenwesen wird aufhören, und mit ihm
Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und
Schwester. Denn sobald man die reine
Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt
haben, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und
auf ein bißchen so oder so im äußeren Kultus nicht mehr sonderlichen
Wert legen.
,,Auch werden wir alle nach und nach aus einem Christentum
des Wortes und Glaubens immer mehr zu einem Christentum der Gesinnung und Tat
kommen.“
Das Gespräch wendete sich auf große Menschen, die vor Christus gelebt,
unter Chinesen, Indiern, Persern und Griechen, und daß die Kraft Gottes
in ihnen ebenso wirksam gewesen als in einigen großen Juden des Alten
Testaments. Auch kamen wir auf die Frage, wie es mit Gottes Wirkungen stehe
in großen Naturen der jetzigen Welt, in der wir leben.
,,Wenn man die Leute reden hört‘, sagte Goethe, ,,so sollte man fast
glauben, sie seien der Meinung, Gott habe sich seit jener alten Zeit ganz in
die Stille zurückgezogen, und der Mensch wäre jetzt ganz auf eigene
Füße gestellt und müsse sehen, wie er ohne Gott und sein tägliches
unsichtbares Anhauchen zurechtkomme. In religiösen und moralischen Dingen
gibt man noch allenfalls eine göttliche Einwirkung zu, allein in Dingen
der Wissenschaft und Künste glaubt man, es sei lauter Irdisches und nichts
weiter als ein Produkt rein menschlicher Kräfte.
,,Versuche es aber doch nur einer und bringe mit menschlichem Wollen und menschlichen
Kräften etwas hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart, Raphael
oder Shakespeare tragen, sich an die Seite setzen lasse. Ich weiß recht
wohl, daß diese drei Edlen keineswegs die einzigen sind, und daß
in allen Gebieten der Kunst eine Unzahl trefflicher Geister gewirkt hat, die
vollkommen so Gutes hervorgebracht, als jene Genannten. Allein, waren sie so
groß als jene, so überragten sie die gewöhnliche Menschennatur
in ebendem Verhältnis und waren ebenso gottbegabt als jene.
,,Und überall, was ist es und was soll es? — Gott
hat sich nach
den bekannten imaginierten sechs Schöpfungstagen keineswegs
zur Ruhe begeben,
vielmehr ist er noch fortwährend wirksam wie am ersten.
Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen und sie jahraus jahrein
in den Strahlen der Sonne rollen zu lassen, hätte ihm sicher wenig Spaß
gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf
dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für
eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er nun fortwährend
in höheren Naturen wirksam, um die geringeren heranzuziehen.“
Goethe schwieg. Ich aber bewahrte seine großen und guten Worte in meinem
Herzen. S.539f.
Aus: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren
seines Lebens . Mit Einführung und Anmerkungen von Erich Ruprecht. Verlag
von Moritz Schauenburg in Lahr