Sören Aabye Kierkegaard (1813 - 1855)

Dänischer Theologe und Philosoph. Die Hauptwerke seiner 1. Schaffensperiode (1843-46) behandeln in dichterischer Form ethische und religiöse Themen. Dem ästhetischen Zustand des unmittelbaren Erlebens, in dem der Mensch noch nicht zu sich selbst gefunden habe und im Nichts untergehe, stellt er den Gebrauch der Freiheit und den wagenden Sprung des Glaubens entgegen, der zum »Paradox des Religiösen« führe (paradox, da begrifflich nicht erklärbar). Entschieden wendet er sich gegen Hegel, der Logik und Existenz nicht unterscheide: das Dasein könne nicht in ein logisches System gebracht werden. Als religiöser Denker maß er das Christentum seiner Zeit an der »Gleichzeitigkeit mit Christus« und griff das bestehende Kirchenchristentum in aller Schärfe an. Die Schriften der 2. Periode lehnen überhaupt jede intellektuelle Aneignung des Christentums ab. Von Kierkegaard ging die Existenzphilosophie aus. Seine These von dem »Paradox des Religiösen« erlangte in der Dialektische Theologie der Gegenwart eine großer Bedeutung.

Siehe auch Wikipedia und
Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Über Liebe . . .
Über Mystiker . . .
Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott?
Verzweiflung ist die Sünde
Über das Gericht in der Ewigkeit . . .
  >>>Christus
»Selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir«

Über Liebe . . .
Was ist denn ein Mensch ohne Liebe? Doch gibt es vielerlei Arten von Liebe; ich liebe einen Vater anders als eine Mutter, meine Ehefrau wiederum anders, und jede verschiedene Liebe hat ihren verschiedenen Ausdruck; es gibt aber auch eine Liebe, mit der ich Gott liebe, und diese hat in der Sprache nur einen Ausdruck, nämlich: Reue. Wenn ich ihn nicht so liebe, so liebe ich ihn nicht absolut, nicht aus meinem innersten Wesen, jede andere Liebe zum Absoluten ist ein Mißverständnis, denn, um etwa das zu nehmen, was man sonst so laut anpreist und was ich selber ehre, wenn der Gedanke mit aller seiner Liebe am Absoluten festhängt, so ist es nicht das Absolute, was ich liebe, ich liebe nicht absolut, denn ich liebe notwendig; sobald ich frei liebe und Gott liebe, bereue ich. Und sollte es keinen anderen Grund dafür geben, daß der Ausdruck für meine Liebe zu Gott Reue ist, so gibt es doch den, daß er mich zuerst geliebt hat. Und doch ist dies eine unvollkommene Bezeichnung, denn nur wenn ich mich selbst als schuldig wähle, wähle ich absolut mich selbst, falls ich überhaupt mich selbst auf eine Weise absolut wählen soll, daß dieses Wählen nicht identisch ist mit einem sich selbst Erschaffen; und wäre es auch des Vaters Schuld, die sich auf den Sohn fortgeerbt hätte, er bereut sie mit, denn so nur kann er sich selbst wählen, sich absolut wählen; und wenn die Tränen ihm beinahe alles auslöschten, er fährt fort zu bereuen, denn so nur wählt er sich selbst. Sein Selbst ist gleichsam außer ihm, und es muß erworben werden, und die Reue ist seine Liebe dazu, weil er es absolut wählt, aus des ewigen Gottes Hand.
Aus: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil I und Teil II, (dtv 30134, S.774-775)
Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaaerd-Gesellschaft herausgeggeben von Hermann Diem und Walter Rast. Aus dem Dänischen von Heinrich Fausteck
© 1975 Deutscher Taschenbuchverlag (www.dtv.de)
Veröffntlichung auf Philos-Website mit freundlicherErlaubnis des Deutschen Taschenbuchverlags

Über Mystiker . . .
Meiner Meinung nach kann man den Mystiker von einer gewissen Zudringlichkeit in seinem Verhältnis zu Gott nicht freisprechen. Daß ein Mensch Gott lieben soll von ganzer Seele und mit seinem ganzen Denken, ja, daß er es nicht nur soll, sondern daß es die Seligkeit selbst ist, es zu tun, wer wollte das leugnen Daraus folgt jedoch keineswegs, daß der Mystiker das Dasein, die Wirklichkeit, in die Gott ihn gesetzt hat, verschmähen soll; denn damit verschmäht er eigentlich Gottes Liebe oder fordert einen anderen Ausdruck für sie als den Gott ihr geben will. Hier gilt das ernste Wort Samuels: Gehorsam ist Gott lieber als das Fett der Widder. Aber diese Zudringlichkeit kann zuweilen eine noch bedenklichere Gestalt annehmen. Wenn etwa ein Mystiker sein Verhältnis zu Gott darauf gründet, daß er eben der sei, der er ist, sich auf Grund irgendeiner Zufälligkeit als Gegenstand der göttlichen Vorliebe sieht. Hiermit entwürdigt er nämlich Gott und sich selbst. Sich selbst, denn es ist immer eine Entwürdigung, durch irgend etwas Zufälliges wesentlich von andern verschieden zu sein; Gott, denn er macht ihn zu einem Götzen und sich selbst zu einem Günstling an dessen Hof.

Was mir an dem Leben eines Mystikers ferner unangenehm ist, das ist die Weichheit und Schwäche, von der man ihn nicht freisprechen kann. Daß ein Mensch in seinem innersten Herzen vergewissert sein möchte, er liebe Gott in Wahrheit und Aufrichtigkeit, daß er sich manchmal veranlaßt fühlt, sich dessen so recht zu vergewissern, daß er Gott bitten kann, seinen Geist Zeugnis geben zu lassen seinem Geist, daß er es tut, wer wollte das Schöne und Wahre darin leugnen Hieraus aber folgt keineswegs, daß er diesen Versuch jeden Augenblick wiederholen, jeden Augenblick die Probe auf seine Liebe machen wird. Er wird Seelengröße genug besitzen, um an Gottes Liebe zu glauben, und dann wird er auch die Freimütigkeit haben, an seine eigene Liebe zu glauben, und fröhlich in den Verhältnissen bleiben, die ihm zugewiesen sind, eben weil er weiß, daß dieses Bleiben der sicherste Ausdruck ist für seine Liebe, für seine Demut.

Endlich mißfällt das Leben eines Mystikers mir, weil ich es für einen Betrug an der Welt halte, in der er lebt, einen Betrug an den Menschen, mit denen er verbunden ist oder zu denen er in Beziehung treten könnte, wenn es ihm nicht gefallen hätte, Mystiker zu werden. Im allgemeinen wählt der Mystiker das einsame Leben, aber damit ist die Sache nicht klar; denn die Frage ist, ob er es überhaupt wählen darf Sofern er es gewählt hat, betrügt er andere nicht, denn er sagt damit ja: ich wünsche keine Beziehungen zu euch; die Frage aber ist, ob er es überhaupt sagen, es überhaupt tun darf.

Aus: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil I und Teil II, (dtv 30134, S.807-808)
Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaaerd-Gesellschaft herausgeggeben von Hermann Diem und Walter Rast. Aus dem Dänischen von Heinrich Fausteck
© 1975 Deutscher Taschenbuchverlag (www.dtv.de)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Deutschen Taschenbuchverlags


Gibt es eine absolute Pflicht gegen Gott?
Das Ethische ist das Allgemeine und als solches wiederum das Göttliche. Man hat deshalb rechtzu sagen, daß jede Pflicht im Grunde Pflicht gegen Gott ist; aber wenn man nicht mehr sagen kann, so sagt man zugleich, daß es eine Pflicht gegen Gott eigentlich nicht gibt. Die Pflicht wird Pflicht dadurch, daß ich sie auf Gott beziehe; aber durch die Pflicht selbst trete ich in kein Verhältnis zu Gott. So ist es z. B. Pflicht, seinen Nächsten zu lieben. Es ist Pflicht dadurch, daß es auf Gott bezogen wird; aber in der Pflicht trete ich nicht in ein Verhältnis zu Gott, nur in ein Verhältnis zu dem Nächsten, den ich liebe. Sage ich also in diesem Zusammenhang, daß es meine Pflicht ist, Gott zu lieben, so ist das eigentlich nur eine Tautologie, soweit ,,Gott“ hier in einem ganz abstrakten Sinne als das „Göttliche“, d.h. das „Allgemeine“, d.h. die „Pflicht“ genommen wird. Das gesamte Dasein des Menschengeschlechts rundet sich auf diese Weise wie eine Kugel in sich selbst ab; und das Ethische ist zugleich das Begrenzende und das Ausfüllende. Gott wird zu einem unsichtbaren verschwindenden Punkt, zu einem ohnmächtigen Gedanken; seine Macht liegt nur in dem Ethischen, das das Dasein vollkommen ausfüllt.

Sofern also jemand auf den Gedanken kommen sollte, Gott auf eine andre als die hier angegebene Weise zu lieben, ist er überspannt. Er liebt ein Phantom, das ( wenn es nur soviel Kraft besäße, daß es reden könnte) zu ihm sprechen würde: „Ich begehre deiner Liebe nicht, bleibe nur da, wohin du gehörst. Sofern jemand auf den Einfall kommen sollte, Gott anders zu lieben, würde diese Liebe verdächtig werden – wie die Liebe etwa, von der Rousseau redet: die Liebe, mit der ein Mensch die Kaffern liebt, statt seinen Nächsten zu lieben.

Aus: Sören Kierkegaard- Gesammelte Werke Band 3, Furcht und Zittern Dialektische Lyrik von Johannes de silentio, Kopenhagen 1843 (S.65)
Übersetzt von H.C. Kerels, H.Gottsched und Chr. Schrempf / Nachwort von Chr. Schrempf, Dritte, umgearbeitete Auflage
Copyright 1923 by Eugen Diederichs Verlag in Jena
Textähnlich mit Neuübersetzung in Siebenstern GTB 604, Kierkegaard: Furcht und Zittern, S.74-75


Verzweiflung ist die Sünde
Sünde ist: vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen. Sünde ist also die potenzierte Schwäche oder der potenzierte Trotz: Sünde ist die Potenzierung von Verzweiflung. Der Nachdruck liegt auf: vor Gott, oder dass die Gottesvorstellung dabei ist; sie ist es, was Sünde dialektisch, ethisch, religiös zu dem macht, was die Juristen »qualifizierte« Verzweiflung nennen. [...]

Zum Furchtbaren wurde die Sünde dadurch gemacht, dass sie vor Gott war. Daraus bewies man dann die Ewigkeit der Höllenstrafe. Später wurde man schlau und sagte: Sünde ist Sünde; sie ist nicht größer, weil sie gegen Gott oder vor Gott ist. Sonderbar! Selbst die Juristen sprechen von qualifizierten Verbrechen, selbst die Juristen machen einen Unterschied, ob ein Verbrechen beispielsweise gegen einen Beamten oder gegen einen Privatmann verübt wurde, machen einen Unterschied in der Strafe für einen Vatermord und einen gewöhnlichen Mord.
Nein, darin hatte die ältere Dogmatik Recht: Es potenziert die Sünde unendlich, dass sie gegen Gott ist. Der Fehler lag darin, dass man Gott für etwas Äußerliches hielt und dass man anzunehmen schien, nur manchmal würde gegen ihn gesündigt. Aber Gott ist nichts Äußerliches im Sinne eines Polizeibeamten. Es ist zu beachten, dass das Selbst die Vorstellung von Gott hat und dann doch nicht so will, wie er will, dann doch ungehorsam ist. Auch wird nicht nur manchmal vor Gott gesündigt; denn jede Sünde ist vor Gott, oder richtiger, was die menschliche Schuld eigentlich zur Sünde macht, ist das Bewusstsein des Schuldigen, vor Gott zu sein.

Die Verzweiflung potenziert sich im Verhältnis zum Bewusstsein des Selbst; doch das Selbst potenziert sich im Verhältnis zum Maßstab für das Selbst, und unendlich, wenn Gott der Maßstab ist. Je mehr Gottesvorstellung, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottesvorstellung. Erst wenn sich ein Selbst, als dieses bestimmte einzelne, dessen bewusst ist, vor Gott zu sein, erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt nun vor Gott. Daher ist die Selbstsucht des Heidentums trotz allem, was sich darüber sagen lässt, doch nicht annähernd so qualifiziert wie die der Christenheit, sofern es auch hier Selbstsucht gibt; denn der Heide hatte sein Selbst nicht unmittelbar vor Gott. Der Heide und der natürliche Mensch haben das nur menschliche Selbst als Maßstab. Darum kann man von einem höheren Gesichtspunkt aus zwar Recht damit haben, dass man das Heidentum in Sünde liegen sieht, doch eigentlich war die Sünde des Heidentums die verzweifelte Unwissenheit darüber, dass es Gott gibt, dass man vor Gott ist; sie ist, »ohne Gott in der Welt« [vergl. Eph. 2,12] zu sein. Von einer anderen Seite gesehen, ist es daher wahr, dass der Heide im strengsten Sinn nicht sündigte, denn er sündigte nicht vor Gott; und alle Sünde ist vor Gott. Weiterhin war es einem Heiden auch in bestimmtem Sinn ganz sicher viele Male möglich, so ohne Tadel durch die Welt zu schlüpfen, gerade weil seine pelagianisch-leichtsinnige Vorstellung [bezogen auf die Anhänger des Pelagianismus (5.Jh.), die die Erbsünde ablehnten] ihn rettete; dann aber ist seine Sünde eine andere: jene pelagianisch-leichtsinnige Auffassung. Dagegen ist es andererseits auch ganz sicher so, dass ein Mensch häufig gerade durch seine strenge Erziehung im Christentum in einem gewissen Sinn in Sünde stürzte, weil ihm die gesamte christliche Anschauung zu ernsthaft war, vor allem in einer früheren Zeit seines Lebens; dies aber kann ihm dann in einem anderen Sinn auch wieder etwas helfen, diese tiefere Vorstellung davon, was Sünde ist.

Sünde ist: vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder vor Gott verzweifelt man selbst sein wollen. Doch ist diese Definition, obgleich man zugeben muss, dass sie in anderer Hinsicht vielleicht ihre Vorzüge hat (und darunter den wichtigsten, von allen die einzige schriftgemäße zu sein; denn die Schrift definiert Sünde stets als Ungehorsam), ist sie nicht zu geistig? Darauf ist zuallererst zu antworten: Eine Definition von Sünde kann niemals zu geistig sein (wenn sie nur nicht so geistig wird, dass sie die Sünde abschafft); denn Sünde ist gerade eine Bestimmung von Geist. Und danach: Weshalb sollte sie denn zu geistig sein? Weil sie nicht von Mord, Diebstahl, Unzucht und dergleichen spricht? Aber spricht sie denn nicht davon? Ist das nicht auch eine Eigenwilligkeit gegen Gott, ein Ungehorsam, der seinen Geboten trotzt? Wenn man dagegen im Gespräch über Sünde nur von solchen Sünden spricht, vergisst man so leicht, dass alles das bis zu einem gewissen Grad, menschlich gesprochen, in seiner Ordnung sein kann, und doch ist das ganze Leben Sünde, die bekannte Art Sünde: die glänzenden Laster, Eigenwilligkeit, die entweder geistlos oder frech in Unwissenheit darüber bleibt und sein will, in welch einem unendlich viel tieferen Sinn ein menschliches Selbst Gott zum Gehorsam verpflichtet ist bei jedem seiner geheimsten Wünsche und Gedanken, hinsichtlich Hellhörigkeit und Bereitschaft, um auch den kleinsten Wink Gottes zu verstehen und zu befolgen, was sein Wille mit diesem Selbst ist. Die Sünden des Fleisches sind der Eigenwille des niederen Selbst; aber wie oft wird doch ein Teufel durch Beelzebub [vergl. Luk. 11,15] ausgetrieben, und das Letzte wird schlimmer als das Erste. Denn gerade so geht es zu in der Welt: Zuerst sündigt ein Mensch aus Gebrechlichkeit und Schwäche; und dann — ja dann lernt er vielleicht, Zuflucht zu Gott zu nehmen und sich zum Glauben verhelfen zu lassen, der von aller Sünde erlöst; aber davon sprechen wir hier nicht — dann verzweifelt er über seine Schwäche und wird entweder ein Pharisäer, der es verzweifelt bis zu einer gewissen legalen Gerechtigkeit treibt, oder er stürzt sich verzweifelt wieder in die Sünde.

Die Definition umfasst daher sicherlich jede denkbare und jede wirkliche Form von Sünde; sie hebt das Entscheidende jedoch gewiss richtig heraus: dass Sünde Verzweiflung ist (denn Sünde ist nicht die Wildheit von Fleisch und Blut, sondern die Zustimmung des Geistes dazu) und dass sie vor Gott ist. Als Definition ist sie Buchstabenrechnung; es wäre in dieser kleinen Schrift am falschen Ort und außerdem ein Versuch, der misslingen müsste, wenn ich mich daranmachen wollte, die einzelnen Sünden zu beschreiben. Die Hauptsache ist hier nur, dass die Definition wie ein Netz alle Formen umfasst. Und das tut sie, was man auch sehen kann, wenn man die Probe macht und den Gegensatz aufstellt, die Definition von Glauben, wonach ich in dieser gesamten Schrift als dem sicheren Seezeichen steuere. Glaube ist: dass das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig gründet in Gott.

Aus: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode
Aufs dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela Perlet, Nachwort von Uta Eichler
Reclams Universalbibliothek Nr. 9634 (S. 88, 90-93)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Über das Gericht in der Ewigkeit
»Jetzt habe ich gesprochen«, sagt Gott im Himmel, «in der Ewigkeit sprechen wir uns wieder Du kannst in der dazwischenliegenden Zeit tun, was du willst, aber das Gericht steht dir bevor.«

Ein Gericht! Ja, das haben wir Menschen ja gelernt, das lehrt ja die Erfahrung: Wenn auf einem Schiff oder in einer Armee eine Meuterei stattfindet, dann ist die Zahl der Schuldigen so groß, dass man von der Strafe absehen muss; und wenn es sich um das Publikum, das höchst geehrte, gebildete Publikum, oder um das Volk handelt, dann ist das nicht nur kein Verbrechen, dann ist das der Zeitung zufolge, auf die man wie auf das Evangelium und die Offenbarung vertrauen kann, Gottes Wille. Woher kommt dies? Es kommt daher, dass der Begriff Gericht dem Einzelnen entspricht, man richtet nicht en masse; man kann Leute en masse totschlagen, sie en masse bespritzen, ihnen en masse schmeicheln, kurz: auf vielerlei Weise Leute wie Vieh behandeln, aber Leute wie Vieh richten kann man nicht, denn Vieh ist nicht zu richten; auch wenn über noch so viele gerichtet wird, wenn es mit Ernst und Wahrheit erfolgen soll, dann wird jeder einzeln gerichtet. [Sieh, deshalb ist Gott »der Richter«, weil für ihn keine Menge gibt, sondern nur Einzelne]. Ist die Zahl der Schuldigen so groß, dann ist das menschlich unmöglich; deshalb gibt man das Ganze auf, man sieht ein, dass von einem Gericht keine Rede sein kann, es ist über zu viele zu richten, man kann sie nicht einzeln haben oder schafft es nicht, sie zu vereinzeln, deshalb muss man das Richten aufgeben.

Und weil man nun in unserer aufgeklärten Zeit, in der man alle anthropomorphischen [nach Art und Weise des Menschen, vermenschlicht] und anthropopathischen [Gott menschliche Eigenschaften verleihend] Vorstellungen von Gott unpassend findet, es durchaus nicht unpassend findet, ihn als Richter zu denken, entsprechend einem gewöhnlichen Amtsrichter oder obersten Militärrichter, der eine so weitläufige Sache nicht bewältigen kann — deshalb schließt man: «Es wird in der Ewigkeit ganz genauso geben. Lasst uns darum nur zusammenhalten, uns sichern, dass die Pfarrer auf solche Art predigen. Und sollte es einen Einzelnen geben, der anders zu reden wagte, einen Einzelnen, der töricht genug wäre, sein Leben mit Kümmernis und Verantwortung in Furcht und Zittern selbst zu belasten, und dann auch andere zu plagen beabsichtigte: Dann wollen wir uns sichern, indem wir ihn für verrückt ansehen oder, falls erforderlich, indem wir ihn totschlagen. Wenn wir nur viele dabei sind, dann ist das kein Unrecht. Es ist Nonsens und antiquiert, dass viele Unrecht tun können; was die Vielen tun, ist Gottes Wille. Wie wir aus Erfahrung wissen — denn wir sind keine grünen Jünglinge, wir machen kein leeres Gerede, wir sprechen als Männer mit Erfahrung —, haben sich dieser Weisheit bisher alle Menschen gefügt, Könige und Kaiser und Exzellenzen; mit Hilfe dieser Weisheit wurde bisher allen unseren Kreaturen aufgeholfen — da wird auch Gott, zum Kuckuck, lernen, sich zu fügen. Es kommt nur darauf an, dass wir viele werden, wirklich viele, die zusammenhalten; wenn wir das tun, dann sind wir vor dem Gericht der Ewigkeit geschützt.« — Ja, freilich sind sie geschützt, sollte es ihnen erst in der Ewigkeit widerfahren, dass sie Einzelne werden. Aber vor Gott waren und sind sie ständig Einzelne; vor Gott ist jeder Mensch von einer Durchsichtigkeit, dass sich keiner, der im Glasschrank sitzt, so seht geniert. Dies ist das Gewissens-Verhältnis.
Mit Hilfe des Gewissens ist es so eingerichtet, dass mit jeder Schuld sogleich die Meldung verbunden ist und dass der Schuldige sie selber schreiben muss. Weil aber unsichtbare Geheimtinte dafür benutzt wird, ist die Schrift erst in der Ewigkeit, gegen das Licht gehalten, recht deutlich, während die Ewigkeit die Gewissen revidiert. Im Grunde kommt jeder solcherart in der Ewigkeit an, dass er selbst die genaueste Anzeige auch der kleinsten Geringfügigkeit, die er verbrochen oder hinterlassen hat, mitbringt und übergibt. Gericht in der Ewigkeit halten, das könnte daher ein Kind bestreiten; für einen Dritten gibt es eigentlich nichts zu tun, alles, auch das unbedeutendste Wort, das gesagt wurde, ist in Ordnung. Dem Schuldigen, der sich auf der Reise durchs Leben zur Ewigkeit befindet, ergeht es wie jenem Mörder der mit der Eisenbahn und so schnell wie sie vom Tatort — und seinem Verbrechen floh: Ach, gerade unter jenem Wagen, in dem er saß, lief der elektromagnetische Telegraf mit seinem Signalement und dem Befehl, ihn auf der ersten Station festzunehmen. Als er dort ankam und aus dem Wagen stieg, war er arrestiert — er hatte die Anzeige gewissermaßen selbst mitgebracht.

Also, Verzweiflung an der Vergebung der Sünden ist Ärgernis. Und Ärgernis ist Potenzierung der Sünde. Daran denkt man im Allgemeinen überhaupt nicht; man zählt das Ärgernis gewöhnlich wohl kaum zur Sünde und spricht dann auch nicht von Sünde, sondern von solchen Sünden, unter denen das Ärgernis keinen Platz findet. Noch weniger fasst man es als Potenzierung der Sünde auf. Der Grund dafür ist, dass man, christlich, den Gegensatz nicht zwischen Sünde — Glauben bildet, sondern zwischen Sünde — Tugend.
Aus: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode
Aufs dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela Perlet, Nachwort von Uta Eichler
Reclams Universalbibliothek Nr. 9634 (S. 140-142)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags