Sören Aabye Kierkegaard (1813 - 1855)
Dänischer
Theologe und Philosoph. Die Hauptwerke
seiner 1. Schaffensperiode (1843-46) behandeln
in dichterischer Form ethische und religiöse Themen. Dem ästhetischen
Zustand des unmittelbaren Erlebens, in dem der Mensch noch nicht zu sich
selbst gefunden habe und im Nichts untergehe, stellt er den Gebrauch der
Freiheit und den wagenden Sprung des Glaubens entgegen, der zum
»Paradox des Religiösen« führe (paradox,
da begrifflich nicht erklärbar). Entschieden wendet er sich
gegen Hegel, der Logik und Existenz nicht unterscheide:
das Dasein könne nicht in ein logisches System gebracht werden. Als
religiöser Denker maß er das Christentum seiner Zeit an der »Gleichzeitigkeit
mit Christus« und griff das bestehende Kirchenchristentum in
aller Schärfe an. Die Schriften der 2. Periode lehnen überhaupt jede intellektuelle Aneignung des Christentums ab.
Von Kierkegaard ging die Existenzphilosophie aus. Seine These von dem »Paradox des Religiösen« erlangte in der Dialektische Theologie der Gegenwart eine großer Bedeutung. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Über
Liebe . . .
Was ist denn ein Mensch ohne Liebe? Doch gibt es vielerlei Arten von Liebe;
ich liebe einen Vater anders als eine Mutter, meine Ehefrau wiederum anders,
und jede verschiedene Liebe hat ihren verschiedenen Ausdruck; es gibt aber auch
eine Liebe, mit der ich Gott liebe, und diese hat in der Sprache nur einen Ausdruck,
nämlich: Reue. Wenn ich ihn nicht so liebe, so liebe ich ihn nicht absolut,
nicht aus meinem innersten Wesen, jede andere Liebe zum Absoluten ist ein Mißverständnis,
denn, um etwa das zu nehmen, was man sonst so laut anpreist und was ich selber
ehre, wenn der Gedanke mit aller seiner Liebe am Absoluten festhängt, so
ist es nicht das Absolute, was ich liebe, ich liebe nicht absolut, denn ich
liebe notwendig; sobald ich frei liebe und Gott liebe, bereue ich. Und sollte
es keinen anderen Grund dafür geben, daß der Ausdruck für meine
Liebe zu Gott Reue ist, so gibt es doch den, daß er mich zuerst geliebt
hat. Und doch ist dies eine unvollkommene Bezeichnung, denn nur wenn ich mich
selbst als schuldig wähle, wähle ich absolut mich selbst, falls ich
überhaupt mich selbst auf eine Weise absolut wählen soll, daß
dieses Wählen nicht identisch ist mit einem sich selbst Erschaffen; und
wäre es auch des Vaters Schuld, die sich auf den Sohn fortgeerbt hätte,
er bereut sie mit, denn so nur kann er sich selbst wählen, sich absolut
wählen; und wenn die Tränen ihm beinahe alles auslöschten, er
fährt fort zu bereuen, denn so nur wählt er sich selbst. Sein Selbst
ist gleichsam außer ihm, und es muß erworben werden, und die Reue
ist seine Liebe dazu, weil er es absolut wählt, aus des ewigen Gottes Hand.
Aus: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder,
Teil I und Teil II, (dtv 30134, S.774-775)
Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaaerd-Gesellschaft
herausgeggeben von Hermann Diem und Walter Rast. Aus dem Dänischen von
Heinrich Fausteck
© 1975 Deutscher Taschenbuchverlag (www.dtv.de)
Veröffntlichung auf Philos-Website mit freundlicherErlaubnis des Deutschen
Taschenbuchverlags
Über
Mystiker . . .
Meiner Meinung nach kann man den Mystiker von einer gewissen
Zudringlichkeit in seinem Verhältnis zu Gott nicht freisprechen. Daß
ein Mensch Gott lieben soll von ganzer Seele und mit seinem ganzen Denken, ja,
daß er es nicht nur soll, sondern daß es die Seligkeit selbst ist,
es zu tun, wer wollte das leugnen Daraus folgt jedoch keineswegs, daß
der Mystiker das Dasein, die Wirklichkeit, in die Gott ihn gesetzt hat, verschmähen
soll; denn damit verschmäht er eigentlich Gottes Liebe oder fordert einen
anderen Ausdruck für sie als den Gott ihr geben will. Hier gilt das ernste
Wort Samuels: Gehorsam ist Gott lieber als das Fett der Widder. Aber diese Zudringlichkeit
kann zuweilen eine noch bedenklichere Gestalt annehmen. Wenn etwa ein Mystiker
sein Verhältnis zu Gott darauf gründet, daß er eben der sei,
der er ist, sich auf Grund irgendeiner Zufälligkeit als Gegenstand der
göttlichen Vorliebe sieht. Hiermit entwürdigt er nämlich Gott
und sich selbst. Sich selbst, denn es ist immer eine Entwürdigung, durch
irgend etwas Zufälliges wesentlich von andern verschieden zu sein; Gott,
denn er macht ihn zu einem Götzen und sich selbst zu einem Günstling
an dessen Hof.
Was mir an dem Leben eines Mystikers ferner unangenehm ist, das ist die Weichheit
und Schwäche, von der man ihn nicht freisprechen kann. Daß ein Mensch
in seinem innersten Herzen vergewissert sein möchte, er liebe Gott in Wahrheit
und Aufrichtigkeit, daß er sich manchmal veranlaßt fühlt, sich
dessen so recht zu vergewissern, daß er Gott bitten kann, seinen Geist
Zeugnis geben zu lassen seinem Geist, daß er es tut, wer wollte das Schöne
und Wahre darin leugnen Hieraus aber folgt keineswegs, daß er diesen Versuch
jeden Augenblick wiederholen, jeden Augenblick die Probe auf seine Liebe machen
wird. Er wird Seelengröße genug besitzen, um an Gottes Liebe zu glauben,
und dann wird er auch die Freimütigkeit haben, an seine eigene Liebe zu
glauben, und fröhlich in den Verhältnissen bleiben, die ihm zugewiesen
sind, eben weil er weiß, daß dieses Bleiben der sicherste Ausdruck
ist für seine Liebe, für seine Demut.
Endlich mißfällt das Leben eines Mystikers mir, weil ich es für
einen Betrug an der Welt halte, in der er lebt, einen Betrug an den Menschen,
mit denen er verbunden ist oder zu denen er in Beziehung treten könnte,
wenn es ihm nicht gefallen hätte, Mystiker zu werden. Im allgemeinen wählt
der Mystiker das einsame Leben, aber damit ist die Sache nicht klar; denn die
Frage ist, ob er es überhaupt wählen darf Sofern er es gewählt
hat, betrügt er andere nicht, denn er sagt damit ja: ich wünsche keine
Beziehungen zu euch; die Frage aber ist, ob er es überhaupt sagen, es überhaupt
tun darf.
Aus: Sören Kierkegaard, Entweder –
Oder, Teil I und Teil II, (dtv 30134, S.807-808)
Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaaerd-Gesellschaft
herausgeggeben von Hermann Diem und Walter Rast. Aus dem Dänischen von
Heinrich Fausteck
© 1975 Deutscher Taschenbuchverlag (www.dtv.de)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Deutschen
Taschenbuchverlags
Gibt
es eine absolute Pflicht gegen Gott?
Das Ethische ist das Allgemeine und als solches wiederum
das Göttliche. Man hat deshalb rechtzu sagen, daß jede Pflicht im
Grunde Pflicht gegen Gott ist; aber wenn man nicht mehr sagen kann, so sagt
man zugleich, daß es eine Pflicht gegen Gott eigentlich nicht gibt. Die
Pflicht wird Pflicht dadurch, daß ich sie auf Gott beziehe; aber durch
die Pflicht selbst trete ich in kein Verhältnis zu Gott. So ist es z. B.
Pflicht, seinen Nächsten zu lieben. Es ist Pflicht dadurch, daß es
auf Gott bezogen wird; aber in der Pflicht trete ich nicht in ein Verhältnis
zu Gott, nur in ein Verhältnis zu dem Nächsten, den ich liebe. Sage
ich also in diesem Zusammenhang, daß es meine Pflicht ist, Gott zu lieben,
so ist das eigentlich nur eine Tautologie, soweit ,,Gott“ hier in einem
ganz abstrakten Sinne als das „Göttliche“, d.h. das „Allgemeine“,
d.h. die „Pflicht“ genommen wird. Das gesamte Dasein des Menschengeschlechts
rundet sich auf diese Weise wie eine Kugel in sich selbst ab; und das Ethische
ist zugleich das Begrenzende und das Ausfüllende. Gott wird zu einem unsichtbaren
verschwindenden Punkt, zu einem ohnmächtigen Gedanken; seine Macht liegt
nur in dem Ethischen, das das Dasein vollkommen ausfüllt.
Sofern also jemand auf den Gedanken kommen sollte, Gott auf eine andre als die
hier angegebene Weise zu lieben, ist er überspannt. Er liebt ein Phantom,
das ( wenn es nur soviel Kraft besäße, daß es reden könnte)
zu ihm sprechen würde: „Ich begehre deiner Liebe nicht, bleibe nur
da, wohin du gehörst. Sofern jemand auf den Einfall kommen sollte, Gott
anders zu lieben, würde diese Liebe verdächtig werden – wie
die Liebe etwa, von der Rousseau redet: die Liebe, mit der ein Mensch die Kaffern
liebt, statt seinen Nächsten zu lieben.
Aus: Sören Kierkegaard- Gesammelte Werke Band
3, Furcht und Zittern Dialektische Lyrik von Johannes de silentio, Kopenhagen
1843 (S.65)
Übersetzt von H.C. Kerels, H.Gottsched und Chr. Schrempf / Nachwort von
Chr. Schrempf, Dritte, umgearbeitete Auflage
Copyright 1923 by Eugen Diederichs Verlag in Jena
Textähnlich mit Neuübersetzung in Siebenstern GTB 604, Kierkegaard:
Furcht und Zittern, S.74-75
Verzweiflung ist die Sünde
Sünde ist: vor Gott
oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder
verzweifelt man selbst sein wollen. Sünde ist also die potenzierte
Schwäche oder der potenzierte Trotz: Sünde ist die Potenzierung von
Verzweiflung. Der Nachdruck liegt auf: vor Gott, oder dass die Gottesvorstellung
dabei ist; sie ist es, was Sünde dialektisch, ethisch, religiös zu
dem macht, was die Juristen »qualifizierte« Verzweiflung nennen.
[...]
Zum Furchtbaren wurde die Sünde dadurch gemacht, dass sie vor Gott war.
Daraus bewies man dann die Ewigkeit der Höllenstrafe. Später wurde
man schlau und sagte: Sünde ist Sünde; sie ist nicht größer,
weil sie gegen Gott oder vor Gott ist. Sonderbar! Selbst die Juristen sprechen
von qualifizierten Verbrechen, selbst die Juristen machen einen Unterschied,
ob ein Verbrechen beispielsweise gegen einen Beamten oder gegen einen Privatmann
verübt wurde, machen einen Unterschied in der Strafe für einen Vatermord
und einen gewöhnlichen Mord.
Nein, darin hatte die ältere Dogmatik Recht:
Es potenziert die Sünde unendlich, dass sie gegen Gott ist. Der Fehler
lag darin, dass man Gott für etwas Äußerliches hielt und dass
man anzunehmen schien, nur manchmal würde gegen ihn gesündigt. Aber
Gott ist nichts Äußerliches im Sinne eines Polizeibeamten. Es ist
zu beachten, dass das Selbst die Vorstellung von Gott hat und dann doch nicht
so will, wie er will, dann doch ungehorsam ist. Auch wird nicht nur manchmal
vor Gott gesündigt; denn jede Sünde ist vor Gott, oder richtiger,
was die menschliche Schuld eigentlich zur Sünde macht, ist das Bewusstsein
des Schuldigen, vor Gott zu sein.
Die Verzweiflung potenziert sich im Verhältnis zum Bewusstsein des Selbst;
doch das Selbst potenziert sich im Verhältnis zum Maßstab für
das Selbst, und unendlich, wenn Gott der Maßstab ist. Je mehr Gottesvorstellung,
desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottesvorstellung. Erst wenn sich
ein Selbst, als dieses bestimmte einzelne, dessen bewusst ist, vor Gott zu sein,
erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt nun vor
Gott. Daher ist die Selbstsucht des Heidentums trotz allem, was sich darüber
sagen lässt, doch nicht annähernd so qualifiziert wie die der Christenheit,
sofern es auch hier Selbstsucht gibt; denn der Heide hatte sein Selbst nicht
unmittelbar vor Gott. Der Heide und der natürliche Mensch haben das nur
menschliche Selbst als Maßstab. Darum kann man von einem höheren
Gesichtspunkt aus zwar Recht damit haben, dass man das Heidentum in Sünde
liegen sieht, doch eigentlich war die Sünde des Heidentums die verzweifelte
Unwissenheit darüber, dass es Gott gibt, dass man vor Gott ist; sie ist, »ohne Gott in der Welt« [vergl.
Eph. 2,12] zu sein. Von einer anderen Seite gesehen,
ist es daher wahr, dass der Heide im strengsten Sinn nicht sündigte, denn
er sündigte nicht vor Gott; und alle Sünde ist vor Gott. Weiterhin
war es einem Heiden auch in bestimmtem Sinn ganz sicher viele Male möglich,
so ohne Tadel durch die Welt zu schlüpfen, gerade weil seine pelagianisch-leichtsinnige
Vorstellung [bezogen auf die Anhänger
des Pelagianismus (5.Jh.), die die Erbsünde ablehnten] ihn
rettete; dann aber ist seine Sünde eine andere: jene pelagianisch-leichtsinnige
Auffassung. Dagegen ist es andererseits auch ganz sicher so, dass ein Mensch
häufig gerade durch seine strenge Erziehung im Christentum in einem gewissen
Sinn in Sünde stürzte, weil ihm die gesamte christliche Anschauung
zu ernsthaft war, vor allem in einer früheren Zeit seines Lebens; dies
aber kann ihm dann in einem anderen Sinn auch wieder etwas helfen, diese tiefere
Vorstellung davon, was Sünde ist.
Sünde ist: vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder vor
Gott verzweifelt man selbst sein wollen. Doch ist diese Definition, obgleich
man zugeben muss, dass sie in anderer Hinsicht vielleicht ihre Vorzüge
hat (und darunter den wichtigsten, von allen die einzige schriftgemäße
zu sein; denn die Schrift definiert Sünde stets als Ungehorsam), ist sie
nicht zu geistig? Darauf ist zuallererst zu antworten: Eine Definition von Sünde
kann niemals zu geistig sein (wenn sie nur nicht so geistig wird, dass sie die
Sünde abschafft); denn Sünde ist gerade eine Bestimmung von Geist.
Und danach: Weshalb sollte sie denn zu geistig sein? Weil sie nicht von Mord,
Diebstahl, Unzucht und dergleichen spricht? Aber spricht sie denn nicht davon?
Ist das nicht auch eine Eigenwilligkeit gegen Gott, ein Ungehorsam, der seinen
Geboten trotzt? Wenn man dagegen im Gespräch über Sünde nur von
solchen Sünden spricht, vergisst man so leicht, dass alles das bis zu einem
gewissen Grad, menschlich gesprochen, in seiner Ordnung sein kann, und doch
ist das ganze Leben Sünde, die bekannte Art Sünde: die glänzenden
Laster, Eigenwilligkeit, die entweder geistlos oder frech in Unwissenheit darüber
bleibt und sein will, in welch einem unendlich viel tieferen Sinn ein menschliches
Selbst Gott zum Gehorsam verpflichtet ist bei jedem seiner geheimsten Wünsche
und Gedanken, hinsichtlich Hellhörigkeit und Bereitschaft, um auch den
kleinsten Wink Gottes zu verstehen und zu befolgen, was sein Wille mit diesem
Selbst ist. Die Sünden des Fleisches sind der Eigenwille des niederen Selbst;
aber wie oft wird doch ein Teufel durch Beelzebub [vergl.
Luk. 11,15] ausgetrieben, und das Letzte wird schlimmer
als das Erste. Denn gerade so geht es zu in der Welt: Zuerst sündigt ein
Mensch aus Gebrechlichkeit und Schwäche; und dann — ja dann lernt
er vielleicht, Zuflucht zu Gott zu nehmen und sich zum Glauben verhelfen zu
lassen, der von aller Sünde erlöst; aber davon sprechen wir hier nicht
— dann verzweifelt er über seine Schwäche und wird entweder
ein Pharisäer, der es verzweifelt bis zu einer gewissen legalen Gerechtigkeit
treibt, oder er stürzt sich verzweifelt wieder in die Sünde.
Die Definition umfasst daher sicherlich jede denkbare und jede wirkliche Form
von Sünde; sie hebt das Entscheidende jedoch gewiss richtig heraus: dass
Sünde Verzweiflung ist (denn Sünde ist nicht die Wildheit von Fleisch
und Blut, sondern die Zustimmung des Geistes dazu) und dass sie vor Gott ist.
Als Definition ist sie Buchstabenrechnung; es wäre in dieser kleinen Schrift
am falschen Ort und außerdem ein Versuch, der misslingen müsste,
wenn ich mich daranmachen wollte, die einzelnen Sünden zu beschreiben.
Die Hauptsache ist hier nur, dass die Definition wie ein Netz alle Formen umfasst.
Und das tut sie, was man auch sehen kann, wenn man die Probe macht und den Gegensatz
aufstellt, die Definition von Glauben, wonach ich in dieser gesamten Schrift
als dem sicheren Seezeichen steuere. Glaube ist: dass das Selbst, indem es es
selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig gründet in Gott.
Aus: Sören Kierkegaard, Die Krankheit
zum Tode
Aufs dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela
Perlet, Nachwort von Uta Eichler
Reclams Universalbibliothek Nr. 9634 (S. 88, 90-93)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlags
Über
das Gericht in der Ewigkeit
»Jetzt habe ich gesprochen«, sagt Gott im Himmel, «in der Ewigkeit sprechen wir uns wieder Du kannst in der dazwischenliegenden
Zeit tun, was du willst, aber das Gericht steht dir bevor.«
Ein Gericht! Ja, das haben wir Menschen ja gelernt, das lehrt ja die Erfahrung:
Wenn auf einem Schiff oder in einer Armee eine Meuterei stattfindet, dann ist
die Zahl der Schuldigen so groß, dass man von der Strafe absehen muss;
und wenn es sich um das Publikum, das höchst geehrte, gebildete Publikum,
oder um das Volk handelt, dann ist das nicht nur kein Verbrechen, dann ist das
der Zeitung zufolge, auf die man wie auf das Evangelium und die Offenbarung
vertrauen kann, Gottes Wille. Woher kommt dies? Es kommt daher, dass der Begriff
Gericht dem Einzelnen entspricht, man richtet nicht en masse; man kann
Leute en masse totschlagen, sie en masse bespritzen, ihnen
en masse schmeicheln, kurz: auf vielerlei Weise Leute wie Vieh
behandeln, aber Leute wie Vieh richten kann man nicht, denn Vieh ist nicht zu
richten; auch wenn über noch so viele gerichtet wird, wenn es mit Ernst
und Wahrheit erfolgen soll, dann wird jeder einzeln gerichtet. [Sieh, deshalb ist Gott »der Richter«, weil für ihn keine Menge
gibt, sondern nur Einzelne]. Ist die Zahl der Schuldigen
so groß, dann ist das menschlich unmöglich; deshalb gibt man das
Ganze auf, man sieht ein, dass von einem Gericht keine Rede sein kann, es ist
über zu viele zu richten, man kann sie nicht einzeln haben oder schafft
es nicht, sie zu vereinzeln, deshalb muss man das Richten aufgeben.
Und weil man nun in unserer aufgeklärten Zeit, in der man alle anthropomorphischen [nach Art und
Weise des Menschen, vermenschlicht] und anthropopathischen [Gott menschliche Eigenschaften
verleihend] Vorstellungen
von Gott unpassend findet, es durchaus nicht unpassend findet, ihn als Richter
zu denken, entsprechend einem gewöhnlichen Amtsrichter oder obersten Militärrichter,
der eine so weitläufige Sache nicht bewältigen kann — deshalb
schließt man: «Es wird in der Ewigkeit ganz genauso geben. Lasst
uns darum nur zusammenhalten, uns sichern, dass die Pfarrer auf solche Art predigen.
Und sollte es einen Einzelnen geben, der anders zu reden wagte, einen Einzelnen,
der töricht genug wäre, sein Leben mit Kümmernis und Verantwortung
in Furcht und Zittern selbst zu belasten, und dann auch andere zu plagen beabsichtigte:
Dann wollen wir uns sichern, indem wir ihn für verrückt ansehen oder,
falls erforderlich, indem wir ihn totschlagen. Wenn wir nur viele dabei sind,
dann ist das kein Unrecht. Es ist Nonsens und antiquiert, dass viele Unrecht
tun können; was die Vielen tun, ist Gottes Wille. Wie wir aus Erfahrung
wissen — denn wir sind keine grünen Jünglinge, wir machen kein
leeres Gerede, wir sprechen als Männer mit Erfahrung —, haben sich
dieser Weisheit bisher alle Menschen gefügt, Könige und Kaiser und
Exzellenzen; mit Hilfe dieser Weisheit wurde bisher allen unseren Kreaturen
aufgeholfen — da wird auch Gott, zum Kuckuck, lernen, sich zu fügen.
Es kommt nur darauf an, dass wir viele werden, wirklich viele, die zusammenhalten;
wenn wir das tun, dann sind wir vor dem Gericht der Ewigkeit geschützt.« — Ja, freilich sind sie geschützt, sollte es ihnen erst in der Ewigkeit widerfahren, dass sie Einzelne werden. Aber vor Gott waren und sind sie ständig
Einzelne; vor Gott ist jeder Mensch von einer Durchsichtigkeit, dass sich keiner,
der im Glasschrank sitzt, so seht geniert. Dies ist das Gewissens-Verhältnis. Mit Hilfe des Gewissens ist es so eingerichtet, dass mit
jeder Schuld sogleich die Meldung verbunden ist und dass der Schuldige sie selber
schreiben muss. Weil aber unsichtbare Geheimtinte dafür benutzt wird, ist
die Schrift erst in der Ewigkeit, gegen das Licht gehalten, recht deutlich,
während die Ewigkeit die Gewissen revidiert. Im Grunde kommt jeder solcherart
in der Ewigkeit an, dass er selbst die genaueste Anzeige auch der kleinsten
Geringfügigkeit, die er verbrochen oder hinterlassen hat, mitbringt und
übergibt. Gericht in der Ewigkeit halten, das könnte daher ein Kind
bestreiten; für einen Dritten gibt es eigentlich nichts zu tun, alles,
auch das unbedeutendste Wort, das gesagt wurde, ist in Ordnung. Dem Schuldigen,
der sich auf der Reise durchs Leben zur Ewigkeit befindet, ergeht es wie jenem
Mörder der mit der Eisenbahn und so schnell wie sie vom Tatort —
und seinem Verbrechen floh: Ach, gerade unter jenem Wagen, in dem er saß,
lief der elektromagnetische Telegraf mit seinem Signalement und dem Befehl,
ihn auf der ersten Station festzunehmen. Als er dort ankam und aus dem Wagen
stieg, war er arrestiert — er hatte die Anzeige gewissermaßen selbst
mitgebracht.
Also, Verzweiflung an der Vergebung der Sünden ist Ärgernis. Und Ärgernis
ist Potenzierung der Sünde. Daran denkt man im Allgemeinen überhaupt
nicht; man zählt das Ärgernis gewöhnlich wohl kaum zur Sünde
und spricht dann auch nicht von Sünde, sondern von solchen Sünden,
unter denen das Ärgernis keinen Platz findet. Noch weniger fasst man es
als Potenzierung der Sünde auf. Der Grund dafür ist, dass man, christlich,
den Gegensatz nicht zwischen Sünde — Glauben bildet, sondern zwischen
Sünde — Tugend.
Aus: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode
Aufs dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela
Perlet, Nachwort von Uta Eichler
Reclams Universalbibliothek Nr. 9634 (S. 140-142)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
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