Friedrich Christoph Oetinger (1702 –1782)
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Deutscher Mystiker, Theosoph und evangelischer Theologe, der wohl als der eigenartigste, eigenwilligste und konsequenteste Denker des deutschen Pietismus war.und der unter dem Einfluss von Jakob Boehme, Johann Albrecht Bengel , Nikolaus Ludwig Zinzendorf und anderen (Paracelsus, Swedenborg, Leibniz, Malebranche) - seine sogenannte »heilige Philosophie« (philosophia sacra) entwickelte. Siehe auch:Wikipedia , Heiligenlexikon und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die mystische und alchymistische Philosophie der Adepten.
Aus der Selbstbiographie Oetingers
Ich hatte keine Ruhe und las deswegen Tag und Nacht im neuen Testamente, konnte aber nichts finden als die sieben Geister Gottes, als etwas Besonderes vor Gottes Thron, als brennende Fackeln repräsentiert, dazu die Gestalt Gottes, Phil. 2. Ich aber dachte, die Welt wäre nicht wert geschaffen worden zu sein, wenn kein solches ursprüngliches Muster, Prov. 8, präexistiert hätte.
Durch Gottes Schickung geschah es, dass ich zur Rekreation oft bei der Pulvermühle zu Tübingen vorbeiging. Da traf ich den Pulvermüller als den größten Phantasten, der sich eine tiefe Grube in den Boden gegraben, und da verwahrt zu sein, wenn Babel nach seiner Rechnung zu Haufen fallen würde. Dieser trug mir seine Träume vor; ich verlachte ihn, doch mit Modestie. Er sprach: Ihr Kandidaten seid gezwungene Leute, ihr dürft nicht nach der Freiheit in Christo studieren, ihr müsst studieren, wozu man euch zwingt. Ich dachte: es ist fast wahr, aber wir haben doch Freiheit. Er sprach: Ist euch doch verboten, in dem allervortrefflichsten Buche nach der Bibel zu lesen! Ich sprach: Wie so? Er bat mich in seine Stube, zeigte mir Jacob Böhme und sagte: Das ist die rechte Theologie. Ich las das erste Mal in diesem Buch, fürchtete mich aber vor den imaginativen Worten: Sal, Sulphur und Mercurius, womit Jacob Böhme per analogiam die Kräfte der sieben Geister Gottes und des dreifachen Lebens bezeichnete. Ich mokierte mich und ging davon. Ich fand aber gleichwohl unter den imaginativen Ausdrücken etwas Raisonables und dachte: mit Malebranche und Leibniz müsse man die Termini dieses Laien korrigieren. Ich bat sodann, dass er mir das Buch leihen möchte und las nun mit Hinweglegung alles Vorurteils. Da fand ich die Widerlegung meines eingebildeten vorweltlichen Systems. Ich erschrak und sprach: Du hast Jacob Böhme für einen Phantasten gehalten, und nun siehst du, dass du dir ein phantastisches System aus Malebranche gemacht. Böhme refutierte (widerlegen, zurückweisen) die Schwenckfeldischen Sektierer Stiefel und Meth, deren System eben wie dasjenige war, das ich aus dem Malebranche gezogen, nämlich, dass in dem vorweltlichen Schema alles vom Größten bis zum Kleinsten präformiert gelegen. Böhme sagt: so müssten auch alle Würmer in ihm gelegen sein, welches absurd wäre. Endlich sah ich, dass Jacob Böhmes dunkle Worte nach den deutlichen müssen gemessen werden. Er hatte aber so deutlich und rein von dem ewigen Wort geredet, dass mein Malebranchesches System von der Präexistenz aller Menschen vor der reinen Lehre von der Gottheit des Wortes zerronnen, wodurch mir der Arianismus und Malbranchianismus zugleich über den Haufen fielen.
Einer großen chirurgischen Operation einer Hydrocele an mir abzuwarten, welche mir wegen der Verblutung beinahe das Leben gekostet hätte, reiste ich nach Ulm. Doch erhielt mir Gott meinen Odem, und ich danke ihm für so viele Demütigungen, durch welche er mich vieles gelehrt. Ich wollte eigentlich diese Operation in Stuttgart aushalten und suchte darum einen Dienst in der Nähe von da; weil sie aber schon in Ulm vor sich gegangen, so nahm ich jetzt (1746) die Bedienstung in Walddorf an.
Hier fand ich mich, nachdem ich in der Theologie keinen Zweifel mehr hatte, angetrieben, um der Theologia emblematica willen, die Chemie (Chymie) praktisch zu treiben, nachdem ich schon vorher die alchymistischen Autoren von Hermes bis Sendivogius alle gekauft hatte. Diese las ich Jahr und Tag, ohne dass ich einen Grund des Zusammenhangs finden konnte; endlich aber fand ich, nachdem mir Gott die zwei Hauptsubjekte gezeigt, das Mittel, sowohl die via humida als die via sicca zu verstehen, um nun sicher experimentieren zu können.
Die Philosophie der Adepten hilft ungemein viel zur Physik der heiligen Schrift, und diese trägt wieder viel bei zur Erkenntnis der Schrift überhaupt. Daher habe ich alle Geduld, die zu der Sache gehört, aufgewendet. Das Buch: Fabri Anatomia totius Universi ist von großer Wichtigkeit den Spruch Apoc. 14, 7 zu erklären. Gott aber, der die Türe zur Physik schon zu Arndts Zeiten hat aufgehen lassen, wird diesen Spruch durch seine Werkzeuge weiter erklären, dem absurden Naturalismus der Idealisten entgegen.
Arndts Verse über die Alchymie zeigen an, dass er die Manipulation besser verstanden (hat), als Jacob Böhme. Es ist unmöglich die Operation per cognitionem centralem zu lernen. Lullius hatte diese cognitio centralis, aber ohne Lehrmeister wusste er das Subjektum nicht zu traktieren; Arndten aber ist es durch ein Testament eines Adepten gezeigt worden. Seine Verse heißen also:
Corpus Apollineo vivum dissolvimus igne,
Spiritus ut fiat, quod fuit ante lapis.
Hujus et e mediis trahimus penetralibus aurum,
Aegra quod a matris sordibus aera lavat.
Semine natali postquam sejunximus ossa,
Haec consanguinea deinde lavamus aqua.
Nascitur ex illis varios induta colores
Ales, et in coelum candida facta volat.
Tum nos igne novo dejungimus illius alas,
Lacte coloratas imbuimusque suo.
Atque, quod est reliquum, cum sanguine pascimus illum,
Mulciberis rabiem donec adulta ferat.
Es gibt freilich viele Adepten, die nur die Absicht haben, Gold zu machen und nicht weiter aufzusteigen. Ich aber habe in der Chymie die Theologia emblematica zum Grunde und überlasse Gott den Ausgang. Wer meinen ganzen Lebensgang zusammenfasst, wird finden, dass ich mit göttlichem Berufe darin arbeite. Die Adepten zu verstehen, macht freilich mehr Mühe als man meint, das Arbeiten selbst aber, wenn man sui juris ist, ist nicht so schwer, verursacht auch, wenn man es recht angreift, keine großen Unkosten; schwer jedoch und fast unmöglich ist es bei einem Amte. Gleichwohl experimentiere ich je und je, ohne Abbruch meines Amtes, wenn gerade Zeiten der Ruhe für mich kommen.
Man hat mir von einem unbekannten Ort einen Brief geschrieben, darin die Alchymie als ein lächerliches non ens und als eine vergebliche Bemühung durchgezogen wird. Einen Ignoranten kann man freilich leicht zum Lachen bringen, aber verständige Leute kehren sich nicht daran, sondern handeln nach richtigen Gründen. Noch andere Unwissende meinen, man sei hierbei von einer dämonischen Spiegelfechterei bezaubert. Diesen antworte ich: »Ein Weiser erzürnt sich nicht leicht. Als die Pharisäer Jesum geschmäht, er habe den Teufel, sprach er: Ich habe keinen Teufel. Das ist genug. Ihre Knechtschaft der Sünden, des Zornes und der Lust wird Anlass geben, dass sie der heilige Geist straft. Leute, die gar nicht merken, dass der heilige Geist ohne innere nach und nach in einander gehende Weisheitsübung sie nicht weiterbringen wird, muss man mit Mitleiden Gott befehlen, bis sie nüchtern werden und nicht mehr lästern, wovon sie nichts wissen«.
In Walddorf habe ich die Inquisitio in sensum communem lateinisch geschrieben, worin man die Grundbegriffe der Schrift beisammen findet. Der Zweck des ganzen Buches steckt in den letzten Worten:
1) Suche, wie Sokrates, das Nützlichste und Einfältigste aus der Gelehrsamkeit jetziger Zeit heraus.
2) Schaffe, dass du aus der Physik und Moral dir das zu eigen machst, was am nächsten zu den Ausdrücken heiliger Schrift hinreicht, damit selbst die Worte, die du aus dem Grunde schöpfest, eine Ähnlichkeit mit dem Stile der heiligen Schrift haben. Das Übrige spare auf die Auswicklung jener Welt; denn die Zeit ist eine eingwickelte Ewigkeit, und die Ewigkeit eine ausgewickelte Zeit. S. 195-198
Aus: Pietismus und Rationalismus. Herausgegeben von Dr. Marianne Beyer-Fröhlich, Leipzig 1933, Verlag von Philipp Reclam jun.
Über
die heilige Philosophie
Der Theologe, der von Jesus Christus in die wahren Begriffe eingeführt
worden ist, bleibt dabei, daß in der Heiligen Schrift nicht einmal ein
Pünktchen ohne Grund zu finden sei, und ist fest überzeugt, dass,
wenn er gleich zur Zeit die genetischen (die die Entstehung betreffenden) Gründe
noch nicht durchschaut, er doch in der zukünftigen Weltzeit ganz innerlich
erkennen werde, warum die göttlichen Worte so und nicht anders gestellt,
so und nicht anders ausgesprochen seien.
Er setzt also die philosophia sacra darein,
dass er vor allem die nächsten Gründe zu erforschen habe, warum
die von Gott geordneten Worte so und nicht anders wie ein Spiegel vor uns stehen.
Er soll zweitens dafür halten, dass die Heilige Schrift keiner Redensart
sich bedient habe, die nicht im gewöhnlichen Leben vorkommt; er hält
darum die Gründe, die über den sensus communis der ganzen Menschheit
hinausgehen, nicht für so hoch als die Gründe, die ganz klar sind
und jedem vorAugen liegen.
Drittens verachtet er nicht neue Entdeckungen, sondern achtet sie wert nach
Jesu Sinn (Luk. 12, 2), erhebt sie aber nicht über das ganz allgemein Anerkannte.
Viertens hält er für unzweifelhaft, dass die in der Heiligen
Schrift liegenden Gründe dem Verlangen nach Erkenntnis weit mehr Befriedigung
gewähren als der dürftige Hausrat aller Philosophen. Fünftens
statuiert er (setzt er fest) eine der gegenwärtigen Weltzeit, sofern diese
in die Zukunft ausgeht, entsprechende Einsicht in die philosophia sacra und
verheißt von ihr eine zureichende Glückseligkeit, soweit man eine
solche in dem Zustand des Abfalls hoffen darf.
Heutzutage aber richten sich die Akademien nicht genug nach diesen Regeln.
Einmal verlegen sie sich zwar viel auf die heilige Philosophie; sie forschen
aber nicht den Gründen der Fundamentalbegriffe nach, aus denen die heiligen
Worte entspringen, und werden, indem sie die Menge der philosophischen Observationen
(Bestimmungen) nicht auf die höchsten, die eigentlich herrschenden Begriffe:
Leben — Königreich — Herrlichkeit— psychische, pneumatische
Seele zurückführen, in unnötige Streitereien verwickelt.
Zweitens erheben sie dürftige Philosopheme [Ergebnisse
philosophischer Nachforschungen] über
den sensus communis, den die Heilige Schrift voraussetzt und in den Sprüchen
abzeichnet; sie gehen mehr darauf aus, die Weisheit in der Art einer algebraischen
Formel zu besitzen, als die Dinge zu erkennen, wie sie sind.
Drittens erwählen sie sich neuer Erfindungen halber philosophische Päpste,
hängen ihnen sektenmäßig an und kehren die Heilige Schrift zur
bloßen Metapher (ins Bildliche) um, sofern sie mit dem einen oder anderen
Satz jener Lehrer nicht übereinstimmt.
Viertens erwarten sie mehr von einer voreiligen Untersuchung des Unendlich-Kleinen,
als wirklich in diesen Symbolen liegen kann. Man muss sich vor der Neugier
in acht nehmen, die uns das Einfachste und Notwendigste in Schatten setzt.
Fünftens versprechen sie sich von Lehren, die eine hübsche äußere
Gestalt zeigen, die aber keinen wirklichen Bestand haben, vergeblich eine Glückseligkeit.
Die von da kommende Glückseligkeit entspricht weder der Gesundheit noch
der Erquickung des Geistes noch auch den Bedürfnissen des Lebens.
Siehe da ganz deutlich die Ursachen, warum der neumodische Geschmack von dem
alten so sehr abweicht. Die Heilige Schrift schärft die oben angegebenen
Punkte ganz nachdrücklich ein: gesunde Worte nämlich, für jedermann
deutliche Gründe, echte Denkfreiheit, Einsicht ohne Sektengeist. Sie stellt
unter dem Kreuz das höchste Glück in Aussicht; aber die Neumodischen
wissen dieses sanfte Joch nicht zu tragen.
Hier siehst du, ach mein Leser, welche Dinge zu erwägen, auszubilden und
zu berichtigen ich seit vierzig Jahren einzig und allein bemüht gewesen
bin.
Wir müssen der Gefahr begegnen, die der Theologie erwachsen und darunter
die bedeutendste die ist, daß man die Fundamentalbegriffe — Leben
— Herrlichkeit — Königreich — Seele — Geist im
metaphorischen (übertragenen) Sinn faßt, woraus sich eine sehr gefährliche
Sicherheit ergibt. Heutzutage wird die Wiedergeburt aus Geist und Wasser mittelst
Wolff‘scher Ideen als eine Veränderung der Vorstellungen und Bilder
sowie der Kräfte des Gedächtnisses und des Begehrens dargestellt.
Diese Veränderung ohne den Geist Jesu Christi bewirkt aber eine bloße
Politur, wie sie Matthäus 12, 44 beschrieben wird. Es ist wahr, daß
die Veränderung in den Vorstellungen wie auch hinsichtlich der andern Kräfte
notwendig zur Wiedergeburt gehört; was aber Gott durch den Geist und das
Wasser wirkt, wird beiseite gelassen, weil es sich nicht so leicht erklären
läßt als jenes. Weil die Theologen nicht genug auf die letzten Begriffe
ausgehen, so machen sie sich weis, daß dieses uneigentlich genommen werden
müsse. Ich habe in dieser Beziehung ein Buch herausgegeben »Öffentliches
Denkmal der Lehrtafel der Antonia, einer Prinzessin von Württemberg«,
das mehr erkannt hat als jene metaphorischen Lehrer. T
44—46
Die Worte des Lebens nach dem Grund des Lebens verstehen, ist
die höchste Philosophie. Ich nenne aber Philosophie jene Lehre, aus der
ich
erstlich Grund geben kann, warum die Worte Gottes ganz anders als die Worte
der Menschen gesetzt sind;
zweitens, die ohne viele Zeichenkunst, ohne tiefe Rechnungswissenschaft, ohne
exakte Erfahrungen der Naturkunde nach den ursprünglichen, allen Menschen
vor Augen stehenden Mustern der Werke Gottes sowohl von einem nachdenkenden
Laien als auch von einem Akademiker von selbst ohne besondere Anleitung begriffen
werden kann;
drittens, die dem Wissen und Mitwissen aller Menschen durch die Einförmigkeit
der Werke Gottes viel einleuchtender ist als alle Sätze der Weltweisen,
die aus den neuen Entdeckungen neue und den Männern Gottes unbekannte Sätze
hervorgesucht haben;
viertens, die gleichwohl so viel Genüge gibt für den Verstand des
Menschen, als für diese Zeit gehört, worin sich Gott verborgen und
dennoch genug geoffenbart hat;
fünftens, die den Genuß der wahren Glückseligkeit mit der größten
Liebe, Friede und Freude krönt und in der Ausübung die Mühe reichlich
belohnt.
Diese fünf Tugenden fehlen der akademischen Philosophie.
Erstlich führt sie von der Heiligen Schrift weg und sieht die Möglichkeit
der höchsten Vernunft für sehr gleichgültig an, begehrt auch
von der Stellung der Worte keinen andern Grund zu geben, als der sich mit ihrem
kurzen Gesichtskreis vergleicht.
Zweitens kann sie durch ihre Künste nichts zur nützlichsten Weisheit
bringen; das Nützlichste zu finden ist dem allgemeinen Menschenverstand
vorbehalten.
Drittens ist sie sektiererisch auf eine erwählte Weise, entweder Malebranchisch
oder Leibnizisch, oder wie es ein anderer nennt.
Viertens will sie mehr Grund geben, als für diesen Zeitlauf der Welt gehört,
da doch solche Gründe erst in jener Welt sollten erkannt werden.
Fünftens verspricht sie eine Glückseligkeit, die doch weder der Gesundheit
noch der Ergötzung noch der Notdurft des Lebens einigen Vorschub leistet.
Die Heilige Schrift aber hat die Philosophie zum Grund, die obiger Tugenden
sich wahrhaftig rühmen kann. Sie ist jedoch den Weltweisen deshalb so untauglich,
weil sie einen Schein der Torheit an sich nimmt, die aber stärker ist als
alle Weisheit der Welt; denn sie hat in ihrer törichten Aussicht eine perfekte
Proportion (ein vollkommenes Ebenmaß) mit dem höchsten Endzweck.
Auch will sie uns Menschen nicht zu Meistern, sondern zu Kindern vor Gott machen.
Sch II 6, 426-427
Die heilige Philosophie ist das Werkzeug des lebendigmachenden Geistes; die
weltliche ist das Werkzeug des tötenden Buchstabens. E
644
Die Heilige Schrift kann nicht ohne heilige Philosophie sein, weil Paulus an
den falschen Lehrern tadelt, sie wissen nicht, was sie sagen und wovon sie gewiß
seien. So müßte ja dieser Tadel auf Paulus selbst zurückfallen,
wenn er seine Begriffe nicht hinausführen könnte, um vollkommen Rede
und Antwort zu geben von dem, was er sagte und was er als Gewißheit angegebcn
hat. Nun aber weiß man entweder nicht mehr, was man sagt, oder man muß
eine Philosophie oder Grundnotionen (Grundbegriffe) haben. Über den Grundnotionen
ist der allergrößte Streit; Erklärung der Heiligen Schrift
ist die höchste Philosophie. Sch II,
232-433
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Heilige Philosophie
. Ausgewählte Gedanken zum Verständnis der Schrift (S.14-15,17)
Band III Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1965 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Gott
und Gottes Wesen
Der unbekannte Gott muß dir bekannt werden, oder du gehst dem Verderben
zu. Alles, was nicht vorwärts geht, das geht rückwärts dem Verderben
zu. Viel tausend solcher geheimen Andeutungen gehen in allen Menschen vor; aber
in den Christen, zu denen das Licht der Welt ein für allemal in Menschengestalt
gekommen ist, ist ein weit größeres Gericht als in den Heiden; denn
das Licht ist durch die allgemeine Predigt des Evangeliums von Jesu Person und
Geist sehr hell geworden und züchtigt besonders die Christen, daß
sie durch die angebotene Kraft des Geistes in dem in sie gepflanzten Wort und
in der Predigt der Wahrheit mäßig, gerecht und gottselig leben sollen.
Da gehen viel tausend verklagende und entschuldigende Schlüsse in ihnen
vor, und das Wort, das Christus geredet hat und das die Christen geübt
haben, richtet sie wirklich und wird sie auch am Jüngsten Tage richten,
Diesem Gericht macht der Friede Gottes ein Ende. Es ist dann Friede in uns,
wenn der Geist der Wahrheit unsre Herzen durch den Glauben von den eigenliebigen,
selbstgerechten Gedanken gereinigt hat. Sch I
3, 256
Das Wesen Gottes ist offenbar und verborgen. Offenbar ist, daß er über
alles ist. Verborgen ist, daß er in allem und durch alles ist. Was man
sonst von dem Wesen Gottes sagt, ist für diese Zeit eine vergebliche Sache.
Gott offenbart sich selbst in einem jeden, der seinen Zügen folgt. Die
Folge der Zeit wird ein mehreres lehren. Sch I
4, 331 [...]
Das Wesen aller Wesen ist der einzige, ewige, unermeßliche,
allgegenwärtige Gott, welcher weder Anfang noch Ende hat, der alle Dinge
in sich enthält. Sch I 4, 331 [...]
Es ist also keine bloße leere Redensart, sondern es ist in Wahrheit so,
wann ich mein Herz finde, dann leuchtet mir Gottes Angesicht. E 595
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Heilige Philosophie
. Ausgewählte Gedanken zum Verständnis der Schrift (S. 23, 29)
Band III Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1965 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Gott
ist Licht
Es ist eine bekannte Sache, daß die Alten gemeint haben, sie müßten
sterben, wenn sie den Engel des Angesichts Gottes gesehen hätten. So dachte
Gideon (Richt. 6, 22), und Manoa sagte: »Wir müssen des Todes sterben,
daß wir Gott gesehen haben« (Richt. 13, 22) Da ist unter dem Engel
die Offenbarung Gottes zu verstehen, und zwar seine Offenbarung im Licht, womit
übereinstimmt, daß Gott Licht ist. Dieses Licht aber hat seine besonderen
Ausgänge, welche die Alten Sephirot genannt und mit dem aus 1. Chronik
29, 11 genommenen Namen bezeichnet haben. Diese Ausgänge (Mazaot nach Micha
5, 1) sind die sieben Geister. Sie alle sind das Licht, wovon Johannes und Jakobus
sagen, daß Gott Licht ist, nämlich ein Licht
und doch in sieben unterschieden, ausgehend vom Zeuger und Vater der Lichter.
So viel darüber, daß Gott Licht ist.
Gott an sich selbst kann nicht gesehen werden; aber seine Offenbarung kann nach
verschiedenen Graden und Stufen der Weisheit gesehen werden (Spr. 8). Diese
Unterscheidungen im Licht Gottes hat der Evangelist
Johannes in der heiligen Offenbarung zuletzt faßlicher gemacht durch den
Gruß von dem, der ist, der war und der kommt, und von den sieben
Geistern; aber die Offenbarung Gottes im Fleisch des Menschensohnes ist
die größte Offenbarung, die indessen von den Jüngern lange nicht
verstanden worden war (Joh. 14, 9). Doch haben sie alle hernach die Herrlichkeit
und das Licht Gottes in dem Angesicht Jesu verkündigt und sind nicht bei
dem Fleisch Jesu stehengeblieben (Kol. 1).
In vergangenen Zeiten hat Gott dem Jakob Böhme vieles von der Herrlichkeit
Gottes geoffenbart; es wird aber von den Oberflächlichen und Selbstklugen
übel verstanden. Jakob
Böhme sagt in dem Buch »Mysterium
magnum« mehr als alle Kabbala der Juden; aber es ist nur für
die geschrieben, die ihre vorgefaßte Abneigung zu bekämpfen wissen,
wie dies Dr. Spener tat.
Wer nun dies nicht fassen kann, der bleibe bei der einzigen Verkündigung
Jesu, daß Gott Licht ist. Er liebe Gott und werde von ihm erkannt und
halte sich in der Einfalt an die Epistel Johannes. Gott ist die Liebe, und wer
in der Liebe bleibt der bleibt in Gott und Gott in ihm; dann wird ihn der Geist
schon nach und nach weiterführen in alle Wahrheit. W
290 [...]
Leute, die von Gott sich nicht wollen ziehen lassen, geben auf diese Ordnung
gar nicht acht, und Leute, die zuviel Licht auf einmal von Gott haben wollen,
geben auch nicht darauf acht. Vor beiden verbirgt sich Gott, bis sie ihre Flatterei,
ihre Verkehrtheit und ihre Torheit erkennen, sich in die rechte Ordnung begeben
und eins nach dem andern sich zunutze machen, um nach der Regel Jesu zu wandeln:
»Wer da hat, dem wird gegeben«. Sch
I 2, 562
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Heilige Philosophie
. Ausgewählte Gedanken zum Verständnis der Schrift (S. 25-26)
Band III Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1965 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Über
die Dreieinigkeit
Das Wort Dreieinigkeit ist kein Schriftwort. Wenn es 1. Johannes 5, 2 heißt:
»Drei sind eins«, so ist es nicht die arithmetische Eins, sondern
die wahre Eins (Joh. 17), die auswendig zwar eins ist, inwendig aber eine Myrias (Vielzahl), ein Inbegriff des verborgenen Vielen, das aus dem Einen geht und
in dem Einen besteht. Daher kommt der Irrtum über den Begriff der Dreiheit.
Wenn man sich aber zu tief und doch nicht rief genug in die Sache einlässt,
dann erblindet man an dieser Sonne. Man warte lieber, bis der Herr selbst zeigt,
dass der Herr nur Einer und sein Name nur Einer sei. Man bleibe bei den
Ausdrücken der Schrift, ohne die Lücken alle metaphysisch auszufüllen.
Ein jeder nahe sich zu Gott und vertraue sich ihm an, so wird er ihm nach seinem
Glauben sein Gott sein. E 391, 117
Wollen wir nicht eher fröhlich sein, als bis wir alle subtilen Fragen von
der Einheit und von der Dreiheit Gottes erörtert haben, dann hindern wir
uns sehr sowohl an der Einfalt als auch an der Freude. Ich meinerseits bleibe
bei dem apostolischen Symbolum (Glaubensbekenntnis); aber ich lasse mich nicht
in dasselbe so sehr einspannen, daß ich nicht aus dem Zeugnis Jesu und
seiner Apostel allen Rat Gottes von A bis O durchsehe. Und auf diese Art kann
jeder Laie, jeder Unstudierte, der mehr auf die Liebe Gottes als auf viel voreilige
Wissenschaft sieht, sich bald beruhigen. E 391,
114
O du dreieinige Gottheit, die du in drei Gestalten dich geoffenbart, lass
uns nie an dich denken ohne dies, dass du in der Höhe wohnest und
zugleich in den zerbrochenen Herzen, zu erquicken den Geist der Gedemütigten
und das Herz der Zerschlagenen. Der du allen Odem gemacht, gib unserem Odem
wie ein Kleid deinen Heiligen Geist, damit unsere Seele nicht leer, sondern
von dir bewohnt erfunden werde. Amen.
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Heilige Philosophie
. Ausgewählte Gedanken zum Verständnis der Schrift (S. 30-31)
Band III Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1965 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Das Ziel der Theologie ist die Ehre Gottes.
Alle Theologie, die natürliche wie die übernatürliche, geoffenbarte,
die der gegenwärtigen wie die der zukünftigen Weltzeit hat die Ehre
und Verherrlichung Gottes zu ihrem Ziele. Was die natürliche Theologie
betrifft, so geht dies aus Römer 1, 21. 24 hervor, wo gesagt wird, die
Heiden seien nicht zu entschuldigen, weil sie Gott nicht als Gott verherrlichten,
obwohl sie ihn kannten. In Vers 28 heißt es weiter:
»Gleichwie sie es für nichts geachtet haben,
dass sie Gott erkannten, hat sie auch Gott dahingegeben in verworfenen
Sinn, zu tun, was nicht taugt«. Dass die übernatürliche
Theologie eben dahin strebt, erhellt aus dem Wort Johannes 17, 3: »Das
ist das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und
den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen«. Dass die Theologie
der gegenwärtigen wie der zukünftigen Weltzeit gleichfalls darauf
abzielt, ist aus 2. Korinther 5, 6. 7. 9 klar: »So
sind wir denn getrost allezeit und wissen: solange wir im Leibe wohnen, wallen
wir ferne vom Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Darum
befleißigen wir uns auch, wir seien daheim oder wallen, daß wir
ihm wohlgefallen.« Hinsichtlich der Theologie der zukünftigen
Weltzeit ergibt sich das Nämliche aus Johannes 17, 24: »Vater, ich
will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast,
auf dass sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast«.
Der
Gegenstand der Theologie ist Gott in seiner Tätigkeit oder als Leben spendendes
Leben.
Aus dem Bisherigen folgt, daß Gott in der Theologie nicht als ein bloßer
Gegenstand betrachtet werden kann, sondern daß man ihn zugleich als das
Ziel und als die antreibende Ursache seiner Verherrlichung ins Auge zu fassen
hat. Was man von Gott zu glauben hat, kann zwar in Kraft des Verstandes, der
verallgemeinert, eine kleine Weile bloß gegenständlich betrachtet
werden; aber eben dieser so liebenswürdige Gegenstand reizt in dem Moment
der wahren Erkenntnis selber zu seiner Verherrlichung. Infolge unserer Zerrüttung
muß man wohl einen gewissen Zwischenraum zwischen dem, was man zu glauben
und was man zu tun hat, zwischen dem Gegenstand und dem Endziel, zwischen dem
Wesen und der Verehrung zugeben. In der Tat aber verhält sich die Sache
so, daß wir wegen unserer Schläfrigkeit und wegen unseres geistlichen
Unvermögens so unterscheiden; denn die Erkenntnis der göttlichen Herrlichkeit
und Gerechtigkeit erweckt uns, wie in einem Spiegel Gott in seinen eignen Ausstrahlungen
zu verherrlichen (Römer 1, 17 ff.). Indessen können wir in unserem
gegenwärtigen Zustand das, was wir zu glauben haben, als Gegenstand und
nicht als Endziel betrachten; die wirkliche Tätigkeit der Verherrlichung
gewinnen wir aus dem Endziel, nicht aus dem bloßen Gegenstand.
Wir erkennen, dass wir als Sünder Gott nicht verherrlichen können.
Wir empfinden wohl die unzerstörbaren Triebe hierzu, sehen aber auch, wie
schnell sie gehemmt werden. Gott ist zufrieden mit unserer Sehnsucht, in seinem
Licht zu wandeln und ihn zu verherrlichen (1. Johannes 1). So werden in uns
die ersten Anfänge der göttlichen Herrlichkeit oder des göttlichen
Bildes durch Gottes Gnade und durch das Blut Christi wiederhergestellt. So entsteht
bei uns die Hoffnung, im ewigen Leben Gott zu genießen, und so folgt denn
auch, daß alle theologischen Schlüsse praktisch sind und also die
Theologie theoretisch-praktischer Natur ist, wobei man sie teils objektiv, teils
subjektiv zu betrachten hat. Objektiv, denn sie wird 1. Korinther 2, 6. 7 Gottes
Weisheit, die im Geheimnis bleibt, das heißt jene verborgene Weisheit
genannt, die Gott vor den Weltzeiten zu unserer Herrlichkeit vorherbestimmt
hatte; im subjektiven Sinn aber wird sie, 2. Timotheus 3, 14. 15, als das dargestellt,
was weise macht und dadurch zum Heil bringt, ferner Philipper 1, 9 als Erkenntnis
und allerlei Erfahrung, Epheser 1, 8.9. 17. 18, Titus 1, 1. 2 als erfahrungsgemäße
Erkenntnis jener Wahrheit, die zur Gottseligkeit leitet auf Hoffnung des ewigen
Lebens.
Hieraus ergibt sich ferner, daß, wenn die Theologie ohne die Absicht erlernt
wird, Gott zu verherrlichen, die besondere Erleuchtung hierbei mangelt (2. Timotheus
3, 5 —7). Aus Psalm 119 geht hervor, dass man die Offenbarung als
einen Gegenstand der Theologie zu betrachten hat, nicht nur in Hinsicht auf
die Worte oder auf die bloßen Tatsachen, sondern auch in Hinsicht auf
den göttlichen, übernatürlichen Beistand. Wer sich diesem entzieht,
dessen Erkenntnis, wenn sie schon eine historische und wörtliche ist (Jakobus
2, 19), kann doch nicht eine reiche und fruchtbare wörtliche Erkenntnis
(Römer 2, 18. 27), geschweige denn eine geistliche sein (1. Korinther 2,
14; Johannes 14, 27). Ebenso klar ist, dass, wer durch die Theologie Gott
zu verherrlichen strebt, Gott als das ewige Leben erkennt und so durch die Wiederherstellung
des göttlichen Bildes die Belohnung für sein Aufspüren Gottes
in sich selbst erlangt.
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Die Weisheit auf
der Gasse . Aus den theologischen Schriften (S. 27-30)
Band II Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1962 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Gott
ist das ewige unauflösliche Leben; die Geschöpfe dagegen haben ein
auflösliches, aber doch in seinem Innersten unzerstörbares Leben.
Bei Vergleichung der Eigenschaften des erschaffenen mit dem unerschaffenen Leben
würden die Philosophen erkennen, daß Gott das höchste, von aller
Unvollkommenheit losgelöste Leben ist...
Wer den Eigenschaften des Lebens in den Kreaturen nachspüren will, der
wird zuallererst die Auflöslichkeit der Kräfte, aus deren Vereinigung
das Leben sich ergibt, und dann die gegenseitige zirkular-(kreis)förmige
Umtreibung dieser tätigen und leidenden, natürlichen und himmlischen
Kräfte erkennen. Die Vereinigung von Kräften in Gott ist nichts Widersprechendes.
Das Leben in Gott ist unauflöslich (akatalutos — Hebräer 7,
16), in der Kreatur dagegen auflöslich (Matthäus 10, 28). Das Leben
in Gott ist eine unzerstörliche, ewige Kraft (aphthartos dynamis aidios — Römer 1, 23; 1. Timotheus 1, 17), in den Kreaturen ist es zerstörlich (phtharton — Jakobus 4, 14). Gott und das unzugängliche Licht (phos
aprositon) sind voneinander unterschieden (1. Timotheus 6, 16), und doch sind
sie eins wegen der göttlichen Unauflöslichkeit, wegen der Notwendigkeit
ihrer Existenz und ihrer Unveränderlichkeit (Jakobus 1, 17), während
den Kreaturen die Veränderlichkeit eigen ist.
Das Tätige und Leidende in Gott anzuerkennen, ist nicht widersprechend;
nur muss man die den Kreaturen verwandte Art zu leiden und aufzunehmen
hier entfernt halten; denn Gott ist lautere Tätigkeit (actus purissimus),
aber sich in sich selbst offenbarend und darum in göttlicher Weise in sich
selbst empfangend und leidend ohne Wandel, ein brennendes, unverzehrliches Licht (2. Mose 3, 2), obwohl es alles Widerwärtige verzehrt (5. Mose 32, 22). Diese Begriffe des göttlichen Lebens und der göttlichen Unzerstörbarkeit
sind geläufige, leichte, angeborene Begriffe und stimmen gar sehr mit der
heiligen Schrift zusammen. Dies alles kommt Gott vor aller Schöpfung zu.
In
Gott ist zu unterscheiden das absolute Leben an sich und in sich selbst und
die Offenbarung seiner selbst außer ihm.
Gott ist ein Wesen, das in sich selbst frei ist von aller Besonderheit der Zeit,
der Teile, der Geschwindigkeit, Aufeinanderfolge, Veränderung und Wechsel
des Lichts und der Finsternis. In der Offenbarung seiner selbst zeigt sich Licht
und Glanz, der in ihn selbst wieder zurückfließt, hervorbringend
und hervorgebracht, tätig und leidend, dabei aber erhaben über jegliche
Unvollkommenheit. Diesen Begriffen von dem Leben Gottes, die sich dem gesunden
Menschenverstand von selbst darbieten, haftet gar leicht etwas Unreines und
Unwürdiges an; wer sich aber selber in aller Einfachheit siebt, der reinigt
sich auch wieder von allem Bilderwesen und ist in Ruhe und Reinheit des Geistes
den von Gott selbst ihni dargebotenen Worten gemäß emsig darauf gerichtet,
würdig von Gott zu denken, bescheiden von Gott zu reden und Gott hoch zu
verherrlichen. Doch freut er sich bei seiner Erkenntnis des Lebens Gottes, wie
er sie teils durch Betrachtung der Kreaturen, teils durch Abwendung von den
Kreaturen gewonnen hat, in der heiligen Schrift die Bezeichnung der Namen und
göttlichen Eigenschaften zur Verfügung zu haben, wodurch er zum einzigen
und nach aller Bekenntnis höchsten Mysterium (Geheimnis) Gottes des Vaters
und Jesu Christi gelangen kann. »Niemand kennt den Sohn denn nur der Vater;
und niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren«
(Matthäus 11. 27).
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Die Weisheit auf
der Gasse . Aus den theologischen Schriften (S. 31-33)
Band II Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1962 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Betrachtung über das Geheimnis
Gottes und des Vaters und Christi
1. Das Geheimnis Gottes
Das Geheimnis Gottes heißt ein Geheimnis, weil es weit von jener Erkenntnis
zu unterscheiden ist, die wir durch die bloße Anschauung der Welt überhaupt
erlangen können. Jedes Geschöpf lehrt uns zwar etwas von den unsichtbaren
Schönheiten in Gott; aber es fehlt sehr viel, daß das Geheimnis Gottes
als Gottes, hierin als in einer Sache, die allen Menschen offenbar ist, allein
bestehen sollte. Gott an und für sich kann in seinem unsichtbaren Geistwesen
weder von den Engeln noch von den allerseligsten Menschen erblickt werden. Hat
er sich jedoch insbesondere bekannt gemacht, so ist es doch auf eine solche
Art geschehen, daß man sich aus der Betrachtung der kreatürlichen
Eigenschaften keine Gedanken von ihm bilden kann, das heißt, als im Fleisch
sich offenbarend ist er nur den Engeln in Gestalt eines körperlichen Geistwesens
sichtbar. Dahin zielen alle Redewendungen der heiligen Schrift, die insgesamt
so sinnlich, so leiblich, so ungekünstelt und bildlich in das Gehör
und in die Augen fallen, wie denn die Redewendung hierher zu rechnen ist, daß
Gott aus seiner Unendlichkeit sich zusammenzieht und
sich selbst nach seinem eignen Wohlgefallen menschliche Gestalten gibt. Der
vortreffliche Urisperger in Augsburg hat sich in seinem »Geheimnis Gottes
und Christi« hierüber nach seiner Art ungemein schön geäußert,
während im Gegenteil dies aus Nieuwentyts Weltbeschauung in Ewigkeit nicht
eingesehen werden kann. Das Geheimnis Gottes als Gottes ist und bleibt indessen
an und für sich ein Geheimnis. Es kann, wenn es uns erlaubt ist, es so
auszudrücken, nicht anders als ein verdecktes Essen bei der himmlischen
Mahlzeit angesehen werden, das der Vernunft im Sichtbaren nicht aufgedeckt wird;
denn wie ist die Vernunft imstande, das zusammenzureimen, was bei Gelegenheit
des babylonischen Turmbaus (1. Mose 11) gesagt wird: Gott sei herniedergefahren,
daß er die Stadt und den Turm sehe? Wie können hier Gott (Vers 7)
und die Weisheit in der Mehrzahl sagen: »Wohlauf, lasset uns herniederfahren
und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe!«?
Erhellt nicht aus diesen Worten ganz klar, daß sich Gott als Gott eine
eigne Gestalt und geschöpfmäßige Art beigelegt hat, daß
er, in einem Raum beschlossen, wirklich in die Tiefe hat herabfahren können?
Man erkläre uns aber, wie dieses vor sich gegangen ist. Finden wir hierin
der bloßen Vernunft nach nicht etwas der Gottheit Widersprechendes?
Die Bestätigung dieses Geheimnisses bei der dem Abraham widerfahrenen Erscheinung
fällt uns gleichwohl mehr als zu deutlich in die Augen. Gott zeigte sich
dem Erzvater noch lange vor der großen Offenbarung im Fleisch in einer
geschöpfmäßigen Gestalt. Er machte sogar einen Bund mit ihm
(1. Mose 17), und dies zwar nur in Absicht auf Christus. In gleicher Gestalt
zeigte sich Gott dem Abraham (1. Mose 18), als die Verheißung erfolgte,
daß Sara noch einen Sohn zur Welt bringen soll: »Ich will wieder
zu dir kommen«, spricht er, »siehe, so soll Sara, dein Weib, einen
Sohn haben«. Abraham redet bei dieser Gelegenheit mit ihm wie ein Freund
mit dem andern; er setzt ihm sogar irdische Speise vor (1. Mose 18, 6—8),
er bittet für Sodom und Gomorra, nachdem der Herr ihm den über diese
Städte beschlossenen Untergang eröffnet hatte. Wie bei dem Turmbau
zu Babel drückt sich Gott hier ebenso aus: »Ich will hinabfahren
und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen
ist, oder ob‘s nicht also sei,‘ daß ich‘s wisse«.
Aus keinem andern als aus dem Gesichtspunkt der Leiblichkeit sind alle Erscheinungen
des höchsten Wesens zu betrachten, und vergeblich ist die Bemühung
derer, die der Sache dem Verstand nach eine ganz andere Gestalt zu geben suchen.
So menschlich, wie alle diese in der heiligen Schrift vermerkten Vorgänge
gezeichnet sind, ebenso und auf keine andre Art können und sollen wir sie
verstehen, weil sie nicht aus dem Wesen, sondern aus dem Wohlgefallen Gottes
hervorgehen. Wie sich nun auf solche Art Gott offenbar erniedrigt, so ist es
auch nicht erlaubt, hierbei allzuweit über die Grenzen unserer Vernunft
hinauszuschweifen. Es ist vielmehr nötig, daß wir sie noch mehr einzuschränken
suchen und lediglich bei dem aus diesen großen Begebenheiten folgenden
Schluß stehen bleiben, daß es Gott niemals unmöglich gewesen
ist, sich aus seiner Unendlichkeit selbst zusammenzuziehen
und in einer bestimmten Größe und Gestalt zu erscheinen, wie
er nach den Zeugnissen der heiligen Bücher wirklich erschienen ist. Seht
da, Freunde, das Geheimnis des großen Gottes (Titus 2, 13)!
2. Das Geheimnis
des Vaters
Eine andere Bewandtnis hat es gewissermaßen mit dem Geheimnis Gottes des
Vaters. Daß sich Gott in den sieben Geistern, die Johannes vor dem Thron
des Allmächtigen gesehen hat, eine besondere Art und Gestalt geben kann
und daß er sich, wie wir schon gehört haben, aus seiner Unendlichkeit
zusammenzieht, darin besteht, es noch nicht. Daß Gott aber als Vater sowohl
zeugt als gebiert, das ist das Geheimnis, über das sich der Herr selbst
nach Jesaja 66, 9 sowohl beweisend als leiblich zugleich ausdrückt,, wenn
es heißt: »Soll ich andern die Mutter brechen und selbst nicht auch
gebären?« In Anbetracht, daß Gott der
Vater der Lichter ist, läßt sich dies begreifen und gar leicht
der Schluß machen, daß alles, was väterlich, was mütterlich,
was männlich, was weiblich heißt, ursprünglich aus ihm entstehen
muß. Er ist es also, der das Land (in dem Sinne nämlich, wie die
Sache zu nehmen ist) beschwängert und nach Gutdünken die Völkerschaften
vermehrt. Er endlich ist es, der sogar hei allen Geburten mitwirkt (Psalm 139,
13— 16) und sie nach Gutbefinden stärkt und erhält. Wie unbillig
war demzufolge das Mißtrauen, das der bereits hundert Jahre alte Abraham
in die Verheißung einer zahlreichen Nachkommenschaft Isaaks setzte, der
noch geboren werden sollte (1. Mose 17)! Wie unbedachtsam war das Lachen der
bereits betagten Sara, als ihr noch ein Sohn verkündigt wurde (1. Mose
18)! Dem sei indessen, wie ihm wolle. Da Gott der Vater der Lichter ist, dem
alles das Dasein zu danken hat, so folgt daraus, daß er nicht nur der
Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, sondern vielmehr der Vater Jesu Christi ist,
durch dessen Gebet wir überzeugt werden, daß er (Gott) auch unser
aller Vater ist. Erlaubt auch die Blödigkeit (Schwäche) unserer Augen
nicht, in dieses Geheimnis noch tiefer hineinzuschauen, so wird doch noch ein
jeder die Stärke dieser Wahrheit empfinden, sooft der Geist ruft: »Abba,
lieber Vater!«
3. Das Geheimnis
Christi
Jetzt wagen wir einen Schritt weiter zu tun und auch einen Blick auf das Geheimnis
Christi zu werfen. Dieses zeichnet sich vor jenen beiden, deren wir bereits
gedacht haben, abermals besonders aus; denn wie in der heiligen Offenbarung
der Gruß dessen, der da ist, der da war und kommt, von dem Gruß
der sieben Geister, dieser aber wiederum von dem Gruß Jesu Christi, des
Herrn über alle Könige und Fürsten auf Erden, unterschieden ist,
so läßt sich auch ein bemerkenswerter Unterschied zwischen diesem
Geheimnis und jenen, sowohl Gottes als des Vaters bemerken. Hierzu wird nun
aller Reichtum der Einsicht (Kolosser 2, 2) in die Schätze gefordert, die
in Christus verborgen liegen, der Schätze, sagen wir, die in der heiligsten
Leiblichkeit und Reinheit offenbar werden müssen. Dieser Reichtum der Einsicht
ist teils wesentlich, teils aber nach der Haushaltung der Zeiten in Betracht
zu ziehen.
Von jenem, dem wesentlichen nämlich, ist zwar bereits etwas berührt
worden; hier aber ist, ehe wir zu der Haushaltung der Zeiten fortschreiten,
eigentlich der Ort, die Beschaffenheit des Wesentlichen (Reichtums der Einsicht)
etwas ausführlicher zu zeigen. Postell [Postellus
– französischer Mystiker], ein wirklich großer Mann,
hat aus der Chemie deutlich gemacht, daß die himmlische Erde der Grund
und das Untergestell der Substanz ist. Diese Art von Erkenntnis gehört
in der gegenwärtigen Zeit insofern zu der Wesentlichkeit des zuerst erwähnten
Reichtums der Einsicht, als nämlich in Christus die Fülle der Gottheit
leibhaftig wohnt, so daß leibhaftig sein keine Platonische oder Leibnizsche
Unvollkommenheit, sondern eine wahre Vollkommenheit ist. Auch aus diesem Grunde
wird an dem Tag des ewigen Gerichts alles durch Christus aus der Tiefe der Gottheit
leibhaftig hervorgehen und in diesem Zustand dargestellt werden.
Die Menschwerdung Christi ist demnach nichts weniger als ein Kerinthisch-Leihnizisches
phaenomenon regulatum [regelmäßige,
natürliche Erscheinung]. Christi Leben, Leiden und Tod sind von
der Leibhaftigkeit so wenig ausgeschlossen, daß man sie sozusagen vielmehr
mit Händen greifen kann. Der Leibnizische Irrtum hat bereits in Kerinthus
seinen Anfang genommen, und wir hoffen der Sache nicht zu viel zu tun, wenn
wir behaupten, daß dieser (Irrtum) durch die die Körper spiritualisierende
Monadenlehre heutigentags nicht wenig unterstützt und erneuert wird. Dies
ist aber eben »der Geist des Widerchrists, von dem ihr gehört habt,
daß er kommen wird und ist schon jetzt in der Welt« (1. Johannes
4. 3). So gewiß es nun also ist, daß das Leiden und der Tod Christi
als eine leibhaftige, wesentliche Sache in alle Äonen hinaus anzusehen
ist, so gewiß ist es auch, daß beide, sowohl das Blut als das Wasser,
die aus seiner Seite geflossen sind, von allen Rechtgläubigen, solange
die Welt stehen wird, als der Grund der Sakramente erkannt und die Wichtigkeit
dieser Wahrheit sogar von den Irrgläubigen auch wider ihren Willen endlich
bestätigt werden muß.
Nicht weniger gehört zu dem Wesentlichen des Reichtums der Einsicht das
ewige Hohepriestertum, das Christus von seinem himmlischen Vater anvertraut
worden ist. Kraft dessen hat er zugleich die Statthalterschaft über die
unsichtbaren Dinge erhalten, und daher sind ihm auch die Schlüssel zu den
Pforten des ersten und andern Todes anvertraut. Von ihm lediglich hängt
die Einrichtung des Zwischenzustandes nach dem menschlichen Abscheiden ab, und
eben darum ist er in die untern Behältnisse der Erde hinabgefahren und
hat den Toten das Evangelium verkündigt, auf daß sie gerichtet werden
nach dem Menschen am Fleisch, aber im Geist Gott leben (1. Petrus 3, 19. 20;
4, 6).
Petrus ist der einzige unter den Aposteln, der diese wichtige Wahrheit in so
deutlichen Worten der Nachwelt überliefert hat. Es ist zwar nicht zu leugnen,
daß die Apostel eigentlich erst durch die Hinabfahrt Christi in die Tiefen
die Gewißheit von dem Zwischenzustand nach dem Tod erlangt haben; dennoch
aber war es für sie nicht unumgänglich nötig, eine etwas ausgedehntere
Erkenntnis davon zu besitzen, weil sie, aus dem Munde Jesu selbst von der Kraft
des Evangeliums und der Herrlichkeit in jenem Leben verversichert, nach dem
Tod unmittelbar und ohne Empfindung von dem Zwischenzustand von der Erde in
die frohe Ewigkeit aufgenommen zu werden glaubten. Eine ganz andere Beschaffenheit
hat es mit uns. Wir leben in einem Zeitabschnitt, wo die Welt jener großen
Auflösung zueilt, aus der sie Gott als einen verklärten, vollkommenen
und keinen weiteren Veränderungen unterworfenen Körper wieder hervorrufen
wird. Uns ist also eine genauere Kenntnis von dem Zwischenzustand nach dem Tod
weit nötiger. Daher ist die gütige Vorsehung nicht genug zu preisen,
daß sie auch nach den Zeiten der Apostel einsichtsvolle Männer erweckt
hat, die darin unserer Schwäche und Unwissenheit, wenn wir etwas Gründliches
zu wissen begehren, ungemein zu Hilfe kommen.
Die leibliche Auferstehung und das ewige Gericht sind die Folgen des Zwischenzustandes
nach dem Tod. Als ein vorzügliches Stück des großen Geheimnisses
Gottes und Christi sind diese ein besonderer Grundartikel der apostolischen
Glaubenslehre, worin noch der größte Reichtum der Einsicht liegt.
Das in unseren Zeiten aufs höchste gestiegene Verderben scheint bei dem
größten Teil der Menschheit in diesem Stück nicht wenig Gleichgültigkeit
zu erwecken, und bei vielen dürfte es ungemein schwer, wenn nicht gar unmöglich
fallen, sie von den Irrwegen, auf denen sie wandeln, abzubringen. Unter anderen
haben die Juden von der Auferstehung der Toten sehr unbestimmte Begriffe. Hierüber
darf man sich umso weniger wundern, weil sie ihre Lehre von der Wiederkehr der
Seele gänzlich verwirrt und sie überdies an die Wiederherstellung
aus der Erlösung Jesu nicht glauben. Wir für unser Teil sind weit
entfernt, daß wir hier von dem richtigen Pfad der heiligen Bücher
als der einzigen und wahren Philosophie abweichen sollten. Diesen zufolge sind
wir versichert, daß viele Heilige in jener Welt zwar bereits mit geistlichen
Leibern umgeben sind, daß ihnen nichtsdestoweniger aber noch besonders
bevorsteht, mit verklärten Leibern der Auferstehung entgegenzukommen, damit
sie dem verklärten Leib Christi ähnlich werden (Philipper 3, 11. 21).
Von dieser leiblichen Auferstehung redet Paulus an einer andern Stelle (1. Korinther
15> so nachdrücklich und mit so klaren Worten, daß wir hier sowohl
der Bengel‘schen als anderer gekünstelten Auslegungen gänzlich
enthoben sein können. Wer hierauf das von dem weisen Daniel und andern
Propheten so deutlich beschriebene jüngste Gericht des ewigen Gottes, wer
die Zukunft Jesu auf weißen Pferden zum Gericht des Antichristen, wer
endlich die prächtige Schilderung der Stadt Gottes in der Offenbarung,
die den Vorsatz der Ewigkeit abschließt, wer dies alles, sagen wir, unter
dem rechten Gesichtspunkt betrachtet und trotzdem an die Leiblichkeit der Auferstehung
und des Gerichts noch zu zweifeln gedenkt, der muß entweder sehr kurzsichtig
sein oder aus Bosheit dem klaren Wortverstand mit Gewalt aus dem Weg gehen und
sich ein besonderes Verdienst daraus machen wollen.
Dies, Leser, ist es, was wir von dem Wesentlichen des Reichtums der Einsicht
in das Geheimnis Gottes und Christi uns vorgenommen hatten, in Kürze mitzuteilen.
Jetzt kommen wir auch auf die Haushaltung der Zeiten zu sprechen, inwieweit
sie nämlich auch hier in Betracht zu ziehen ist. Um der Weitläufigkeit
aber auch ferner auszuweichen, wollen wir unsere Gedanken auf einige kurze Sätze
beschränken.
1. Die Geschöpfe Gottes der gegenwärtigen Welt sind nichts als Zubereitungen
auf die zukünftige Welt.
2. Der Mensch ist bestimmt, dem Thron Gottes gegenüberzustehen, wie in
dem Sendschreiben an die Epheser angedeutet ist. Um deswillen hat
3. Gott vor der Schöpfung der Welt einen Vorsatz in Christus gehabt, daß
von Anfang bis zum Ende, vom A bis O viele Zeitläufte oder Ewigkeiten ablaufen
sollen, bis der Mensch geschickt werde, daß Gott in ihm alles in allem
ist.
4. Dies kann aber nicht anders als nach und nach geschehen. Gott hat sieben
Tage zu der Schöpfung erwählt, und daraus läßt sich schließen,
und der Erfolg bewährt es, daß die Geschöpfe durch viele Geburten
und Gestaltungen gehen müssen, so wie Jesus von Nazareth im Fleisch durch
vieles Leiden hindurchdringen mußte, um den Streit in der Materie beizulegen.
5. Der Leib, das Fleisch oder die Materie kann und soll in das reine Wesen des
Geistes erhöht werden, und dies zwar a. sowohl der Fortdauer und Dichtigkeit,
als b. auch zu gleicher Zeit der Penetrabilität [Durchdringbarkeit]
oder Perspirabilität [von perspirare: überall
atmen, beständig durchwehen] nach.
6. Daher sind Wasser und Feuer der Urstoff aller Dinge, wie sich denn Christus
dieser zur Wiedergeburt und Erhöhung aller Kreaturen bedient hat.
7. Was durch das Blut ex traduce [Lehre des Traduzianismus,
nach der alle menschlichen Seelen aus der Seele Adams hervorgegangen sind] geboren
ist, muß durch Wasser und Geist oder durch das Feuer wiedergeboren
werden. Durch die Zusammenmischung der Säfte entsteht in der Materie die
Fäulnis oder Trennung des Kontinuums (Zusammenhängenden); darum muß
das Blut samt dem Fleisch Christi die Kontinuität (den fortdauernden Zusammenhang)
wieder einführen, und dadurch muß die Korruption (Verderbnis) aufgehoben
werden.
8. Durch alle Zeitläufte hindurch werden die obern Wasser und das Feuer
in die verderbten untern Elemente herabgegossen. Also will der Herr durch die
zwei höheren Elemente die untern, fast erstorbenen vereinigen.
9. Schon seit dem Leiden und Tod Jesu geht das Gericht über die Welt. Die
Korruption, die der Satan verursacht hat, muß nach und nach aufgehoben
werden; denn die böse Rinde, mit der die Erde wie mit einem Kleister überzogen
ist, rührt von diesem Verführer der Unschuld her.
10. Christus ist im Fleisch geboren und muß nach dem Fleisch gerechtfertigt
oder vielmehr im Geist höher gesetzt werden. Dadurch erhält er die
Macht, das ganze Weltall chemisch zu tingieren4. Diese Wirkung aber geschieht
ganz unbemerkt, weil sie sich nur nach und nach bis auf Christi erste Geburt
in dem Ganzen verbreitet. Die zweite Geburt wird in dem männlichen Samen,
der sich über alle Völkerschaften ausbreitet, wesentlich, und auf
solche Art werden die Absichten Gottes zuerst verborgentlich und danach in dem
Reich Christi offenbar erfüllt, so daß alle Welt von der Herrlichkeit
des Herrn voll ist. Um sich dieser Herrlichkeit desto würdiger zu machen,
genießen die Gläubigen das Fleisch und Blut Christi, nachdem sie
vorher durch Wasser und Geist dazu geschickt gemacht worden sind. Auf solche
Weise muß die Materie bis zum Geistigen erhoben werden, um so viel mehr,
als beide, Materie und Geist, nicht so heterogen (ungleichartig) sind, daß
dies unmöglich sein sollte. Die Irdigkeit (die Bindung an das Irdische)
ist zuerst das wirksam Widerstehende; aus diesem Widerstand entspringt aber
eine desto größere Wirksamkeit. Das Geistige ist in dem irdischen
Wesen verborgen; es gewinnt aber die Oberhand, so daß die Kontinuität
und Zartheit in einem beisammen sind. Durch den öfteren Empfang der in
dem allerheiligsten Leib und Blut enthaltenen göttlichen Kräfte müssen
nun also alle Leiber dem höheren Zustand so genähert werden, daß
durch die göttliche Erde alle korrumpierende Zufälligkeit der Substanz
vernichtet wird. Dieses physisch zu begreifen, ist kein Engel. geschweige denn
ein Mensch imstande. Dann erst, wenn wir in den Äonen so erhoben sein werden,
daß wir die Fähigkeit besitzen, durch das Dichteste das Feinste zu
erkennen, dann, sagen wir, werden wir uns einer vollkommeneren Einsicht hierin
zu erfreuen haben.
11. Weil wir nach unserm gegenwärtigen Zustand die Fähigkeit nicht
haben, dies hinlänglich einzusehen, so ist es eine besondere Gnade Gottes,
daß er uns, damit wir auf das Zukünftige zubereitet werden, sein
Geheimnis des Evangeliums auf eine dem schlichtesten Verstand angemessene Art
verkündigt hat. Durch den Vorwitz des ersten Menschen, der alles vor der
Zeit und noch dazu physisch schauen wollte, ist der Fall und aus dem Fall die
göttliche Verheißung erfolgt, daß des Weibes Same der Schlange
den Kopf zertreten soll. Diese Verheißung ist nicht durch die Naturwissenschaft,
sondern durch äußere, wiewohl für uns zur Zeit noch unergründliche
Zeichen des Evangeliums kundgetan worden, und durch die Versöhnung und
Erlösung in dem Leiden und Tod Christi ist sie in Erfüllung gegangen.
12. Diese uns zwar geoffenbarte, gleichwohl aber noch unergründete Erfüllung
werden wir erst in dem sichtbaren Reich Christi (Daniel 2, 44) und nach erfolgter
Bekehrung der Juden körperlich empfinden. So wird dann endlich
13. der stufenweise sich äußernde Vorsatz Gottes in der Einteilung
von Äonen durch die Wiedererlangung aller Dinge [Wiederbringung aller Dinge
(Apokatastasis)] in Jesus, dem A und O, vollendet werden, wie dieser schon durch
die Worte am Kreuz »Es ist vollbracht!« ganz deutlich anzeigt, daß
er das Zukünftige als gegenwärtig gesehen hat. Dies ist der Grund
der göttlichen Zurechnung.
14. Das Geheimnis Gottes besteht demnach nicht in gekünsteltem Untersuchen
und Ergrübeln des Wesens der Dreiheit, sondern in der Erkenntnis der Haushaltung
der Zeit, nach der alle Dinge zusammen unter ein Haupt werden verfaßt
werden in Christus, »beides, das im Himmel und auf Erden ist« (Epheser
1, 10).
15. Alle durch Gott entstandenen Dinge und die ganze Einrichtung der Zeit fließen
nicht aus dessen Wesen, sondern lediglich aus dessen freiem Willen und Wohlgefallen.
Wenn sie nämlich aus dem Wesen der Gottheit flössen. dann müßte
ein ewiger Wille auch eine ewig einförmige Wirkung haben ohne Ende. Dies
ist aber nicht der Fall, was wenige Heilige, selbst Jakob Böhme nicht,
erkannt haben. Indessen kann es genug sein, daß Gott der König der
Ewigkeiten ist (1. Timotheus 1, 17).
16. Die Verheißungen Gottes sind allzu gewiß und allzu wichtig,
als daß sie einigem Zweifel unterworfen sein sollten. Es ist nicht möglich,
daß ein Schüler der Weisheit weder vom Geistlichen noch vom Irdischen
wesentliche Begriffe erlangen kann, ohne sie mit ausreichenden Glaubensgründen
zu ergreifen. Die Wesentlichkeit dieser Begriffe aber besteht hauptsächlich:
1. in der Erkenntnis von Gott,
2. von dem Menschen nach seinem Geist, Seele und Leib,
3. von der Sünde, als einer Trennung der Kontinuität des Geistes und
des Leibes,
4. von der Wiederherstellung oder Wiederaufrichtung des Geistes und des Leibes,
teils durch materielle Mittel des Fleisches und des Blutes, teils durch die
Immaterialität [Stofflosigkeit, hier etwa im Sinne von die geistigen Kräfte]
des Wortes und endlich
5. von der Gemeinde als einer Fülle dessen, der alles erfüllt, woraus
der Grund der Taufe und des Abendmahls zu ersehen ist, wenn sich nämlich
Wasser, Blut und Geist nicht nur erscheinungsweise, sondern materiell und körperlich
in die Glieder ergießen. Aus all diesem zusammen lassen sich dann die
oben erwähnten letzten Dinge in dem einigen Geheimnis Gottes und Christi
ganz wohl zusammenfassen, und glücklich ist, wer dieses zur Anlage mit
in jene Welt bringt.
17. Schließlich gehört noch zu dem Reichtum der Einsicht des Geheimnisses
Gottes und Christi im Hinblick auf die Haushaltung der Zeit, daß allem
Vermuten nach das Weltgebäude in dem Zustand nämlich, in dem es sich
bisher befunden hat, kein höheres Alter als 7000 Jahre erreichen dürfte.
Um aber übrigens mit Herrn Urisperger allzu weit in die Erforschung der
Gottheit zurückgehen zu wollen, dazu möchte wohl der menschliche Verstand
nicht fein genug und noch weniger Beruhigung damit verbunden sein. Genug, wer
Jesu Wort: »Wer mich liebt, der wird mein Wort halten«, nachspürt,
der wird die Süßigkeit einer wahren Ruhe des Gemütes weil mehr
als alle Grübler der Welt empfinden, und dieses zwar umso viel mehr, wenn
er erwägt, daß Jesus selbst nicht alles wissen wollte, was zu der
Vollführung des größten Zwecks gehört.
So hoffen wir nun, Leser, dich über dieses große Geheimnis nach unseren
Begriffen für diesmal hinreichend unterrichtet zu haben. Wenn du kein elender
Sklave des Schulsystems bist, dann sind unsere freimütigen Gedanken der
Gefahr, dir zu mißfallen, glücklich entgangen. Das schwache Gift
einiger gelehrter Insekten, man nennt sie Journalisten, achten wir ebensowenig,
als wir uns vor dem lächerlichen Schreckbild des Materialismus fürchten.
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Die Weisheit auf
der Gasse . Aus den theologischen Schriften (S. 144-156)
Band II Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1962 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Die kabbalistische Lehrtafel der Prinzessin Antonia
Die kabbalistische Lehrtafel der Prinzessin Antonia aus dem Jahre 1679 befindet sich in der Dreifaltigkeitskirche in Bad Teinach im schönen Nordschwarzwald.
Die linke Abbildung zeigt das Außenbild: »Der Hochzeitszug der Sualamith«. Der Hochzeitszug, der in der chymischen Hochzei mit Jesus als Bräutigam und der gläubigen Seele als Braut gipfelt, zeigt Frauen, die auf dunklen Wolken von der Erde in den Himmel steigen. Ganz oben kommt Jesus, mit einer roten Tunika bekleidet aus den Wolken und setzt der Braut, die die Anführerin des Zuges ist, eine goldene Krone auf ihr Haupt.
Die rechte Abbildung zeigt die Lehrtafel, von der Friedrich Christoph Oetinger sagt: »Es ist schön und nützlich, die Lehrtafel der Prinzessin Antonia zu erklären und diese schon seit hundert Jahren unbekannte Tafel ins Licht zu rücken«.
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Es ist schön und nützlich, die Lehrtafel der Prinzessin Antonia zu
erklären und diese schon seit hundert Jahren unbekannte Tafel ins Licht
zu rücken. Ich muß aber zunächst melden, was mir an der Lehrtafel
schon oft einige Bedenken erweckt hat. Die herrlichsten Dinge der sich selbst
durch zehn Ausgänge offenbarenden Gottheit können nicht anders als
unbeweglich gemalt werden. Dies läßt den Eindruck entstehen, als
ob die Gottheit ein unbewegliches und ruhendes Bildwerk von zehn Hauptfiguren
wäre; und das ist es gewiß nicht. Die Gottheit in der heiligen Dreiheit
ist mehr einer lebendigen Quelle ähnlich als einem Gemälde. »In
dir«, spricht der Geist Christi, »ist die lebendige Quelle, und
in deinem Licht sehen wir das Licht« (Ps. 36, 10). So ist auch die Seele
als das Gleichnis der Gottheit kein ruhender Spiegel, sondern auch eine abgeleitete
Quelle von verschiedenen Ein- und Ausflüssen. Das paßt nun sehr gut
zur Teinacher Heilquelle. [Die Tafel befindet sich in der Dreifaltigkeitskirche
in Bad Teinach]. Ach, daß die Brunnengäste angesichts der Quelle
mehr an die Worte Davids und Jesu denken möchten als den leeren Zeitvertreib
mit Genealogien und mit Erzählungen über Familien und Adelshäuser
und anderem. Es mag als Zeitvertreib nebensächlich sein; aber wenn dabei
das Augenmerk aufs Ewige fehlt, bewirkt es, daß die Jahre wie ein Geschwätz
vorübergehen. Das Wasser des Lebens ist bei dem Teinacher Brunnen kein
Geschwätz. Jesus sagt: »Wer aber von dem Wasser trinken wird, das
ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten; sondern das Wasser, das
ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in
das ewige Leben quillt« (Joh. 4,14). Oder allerlautersten, o der allersüßesten
Worte Jesu! Wer aber macht dies beim Trinken des Teinacher Brunnens zu seiner
hauptsächlichen Erquickung? Man würde weit mehr gesunden, wenn man
diese Worte in sich aufnehmen möchte; aber man versteht sie so wenig wie
die Sephirot der Antonia. Wenn sie nach diesen Worten recht durstig wären
und ihre Seele nicht nur als einen Spiegel, sondern als eine Wasserquelle erkennen
möchten, die in der Hand Gottes bewegt wird, dann wären sie erst fähig,
die Lehrtafel der Antonia zu verstehen.
Diese Prinzessin wird einmal gegen alle auftreten, die die Brunnenkur gebrauchen
und an den Glanz der zehn Gestalten des Lebenswassers nicht denken, geschweige
Glauben und Festigkeit des Herzens dadurch gewinnen mögen. Hagar war ein
rauhes und wildes Weib; sie war eine ausgestoßene Magd, und doch würdigte
sie Gott, den Brunnen des Lebendigen und Sehenden zu erblicken. »Gewiß«,
sagte sie, »hier habe ich den gesehen, der mich vorher angesehen, ehe
ich an ihn gedacht«. O daß die wilden Weltleute — ich meine
die Mägde des Sündendienstes — genötigt werden möchten,
diesen inneren Adel wie Hagar zu sehen, daß sie bedenken möchten,
wie sie sich selbst durch ihren Spott über die Sara, über die freie,
obere Mutter und über den ursprünglichen Brunnen der Gottheit, der
in Christus gefaßt ist, ausstoßen aus dem himmlischen Adel und Erbe.
Jesus spricht: Wer will euch, ihr Untreuen, geben, was euer ist? Es ist euer,
was die zehn Ausgänge Gottes in Christus bedeuten; aber ihr erschreckt
davor. Ihr sorget, es möchte euch die Weltlust verleiden (Matth. 13). Wenn
ihr den Glanz und die Herrlichkeit Gottes einen Augenblick sehen würdet,
dann sollte euch wohl alles wie nichts dagegen sein, was ihr jetzt so hoch achtet:
die Pracht der Kleider, den Reichturn und die Ehre der Welt. Gott will euch
aber durch einen wirklichen Lichtglanz jetzt nicht nötigen; ihr sollt vielmehr
durch die anfangs dunklen, aber hernach klaren Worte des Lebens dahin gebracht
werden zu glauben, was ihr nicht sehr, und zu verstehen, was Nikodemus anfangs
nicht verstanden hat. So seht demnach die Tafel an! Es ist ein dunkles Wort,
ein unbewegliches Bild. Der Geist und die Begierde des Lebens muß es in
euch zu einer beweglichen, springenden Quelle machen. Die sieben Geister Gottes,
an die ihr glauben könnt, wiewohl ihr sie durchaus nicht begreift, müssen
euch beweglich, lebendig, fröhlich und voll Hoffnung machen, wenn ihr eure
Seele als einen solchen Brunnen erkennt, in dem eure bitteren Affekte sich sollen
absetzen und die Süßigkeit der Liebe die quellende Obermacht haben.
Die Affekte machen euch sauersehend, hart, bitter und feurig; aber die Gnade
Gottes macht euch voll heiliger Sanftmut, Demut und Liebe. Die Seele ist bildbar in alles, was sie sieht; wohin sie sich mit Begierde wendet, das wird sie. Das
ist die Quelle der Affekte; aber sie müssen in Liebe verwandelt werden.
Die Ausflüsse Gottes in Christus müssen sie aus der flüchtigen,
wellenförmigen Unruhe zu dem bringen, was Bestand hat; das ist das süße
Evangelium, das die Engel gesungen haben: Herrlichkeit sei Gott in der Höhe,
Friede auf Erden, an den Menschen Gottes ein Wohlgefallen!
Die Tafel in der Dreifaltigkeitskirche in Teinach ist sehr groß und hoch.
Als Herzog Eberhard III. den Grundstein zu dieser Kirche gelegt hat, sind Fürsten,
Grafen und viele hohe Standespersonen dabei gewesen, wie dies am Eingang durch
den Bildhauer in Stein dargestellt ist. Die gottselige Prinzessin Antonia wollte
das Ihrige in himmlisch gerichteter Absicht auch beitragen und sowohl den Gästen
als ganz Württemberg eine sichtbare Predigt halten:
erstens von der Dreifaltigkeit, die die heilige Offenbarung nach kabbalistischer
Art ausdrückt nach den drei Selbständigkeiten Gottes, der ist, der
war, der kommt;
zweitens von den sieben Geistern Gottes, so daß drei und sieben in zehn
persönlich gemalten Bildern an zwei Säulen dargestellt sind, oben
aus einem Hause herausgehen und unten in einem ovalrunden Garten in Christus
zusammengeführt werden;
und drittens von Christus, der in dem Mittelpunkt des Gartens steht.
Alle Gläubigen empfangen den holdseligen Gruß erstens von der Dreiheit
besonders, zweitens von den sieben Geistern besonders und drittens von Jesus
Christus besonders. Das ist ein sehr kabbalistischer Stil, wie ihn Rhenferd
des längeren von dem kabbalistischen Stil des Johannes beweist.
Der Sohar, das uralte (und in das Zeitalter des Paulus reichende) Buch,
schreibt etwa so: Die drei oberen Sephirot machen etwas Besonderes aus, die
sieben unteren auch, und der König Messias, unser Jesus und Seligmacher,
steht auch besonders, und dennoch läuft alles in Christus in eins zusammen.
Man mag nun einwenden, was man will, so geht die schriftgemäße Bildung
unsrer Gedanken allen menschlichen Bildern von Gott weit vor, und wir sind auch
nicht schuldig, alle Einwürfe zu beantworten.
Genug, wir sollen Ehrfurcht und Liebe in gleichem Maße daraus entnehmen,
und es zu unserm Hauptanliegen machen, daß wir aus Wasser und Geist neugeboren
werden.
Wenn es dem natürlichen Menschen fremd vorkommen will, daß zehn Ausflüsse
Gottes sein sollen, dann bedenke er, daß die Heilige Schrift von einer
Fülle Gottes rede, also von etwas, das durch viele Ausgänge oder Ausflüsse
Gottes erfüllt wird. Der Ausdruck pleroma (Fülle) zeigt eine
passive Erfüllung an.
»In Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig«.
In Kapitel 5 des Propheten Micha steht deutlich, daß Christus nach seiner
Gottheit nicht nur einen, sondern mehrere Ausgänge (Mazaot) habe von Ewigkeit.
Diese Ausgänge sind in Jesus Christus der Geist Christi, der sich in verschiedenen
Kräften wieder den verschiedenen angeborenen Charakteren oder Orten der
Komplexionen (Temperamente) mitteilt und die Natur eines jeden Gläubigen
erhöht.
Man beachte vor allem die zu unterst beim Eingang des Gartens stehende Person,
die jeden Gläubigen bedeutet, der seinen Glauben, seine Liebe und seine
Hoffnung stärken will. Die Hoffnung hat den paradiesischen Garten
zum Gegenstand; der Glaube hat das zwischen den Säulen abgebildete
Priestertum zum Gegenstand, und die Liebe hat Gott mit seinen mitteilenden
Ausflüssen selbst zum Gegenstand. Deswegen heißt Gott, den seine
Mutterliebe zur Erhöhung seines Geschöpfs bewegt, die Liebe selbst.
»Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und
Gott in ihm«.
Die Tafel will ferner soviel sagen, daß wir in Christus lernen sollen,
das Alte und das Neue Testament in einem Blick zusammenzufassen.
O welch eine große Sache ist es, seine Seele durch alle Vielfalt der heiligen
Vorstellungen der Schrift in die Einfalt und Konzentration des Geistes leiten
zu lassen!
Wer es sich in diesem Leben keine Mühe kosten läßt, so vereinfacht
und in ein einiges durch vieles gebracht zu werden, dem wird es Gott zur Frucht
auf die künftige unaussprechlich verherrlichte Freude auf der Neuen Erde
machen. Es steht jedem frei, alle Bilder dieser Tafel und jedes einzeln zu verstehen;
doch ist es genug, wenn er das vernimmt, was zur Versieglung mit dem Geist Gottes
gehört, und wenn er veranlaßt wird, der Hauptsache über den
Geist nachzudenken.
Ein jeder soll versuchen, als getaufter Christ ein fröhliches Christentum
in lauter Dankbarkeit zu führen. Die Taufe begreift schon in sich alle
Ausflüsse Gottes mit drei Worten, mit Wasser, Wort und Geist.
Nun arbeite und ringe danach, daß du zu aller Gottesfülle noch in
dieser Welt mögest zusammengefaßt werden. Man muß es nicht
schwer nehmen; es muß eine lautere Freudenarbeit sein. Disputiere nur
nicht viel über die Wahrheit, sondern genieße die Wahrheit! Die Zeit
ist kurz. Satan hat einen großen Zorn in der Nachäffung der heiligsten
Dinge. Er gibt dir die süßeste Meinung von deinem Gnadenstand ein;
aber du mußt aus der eigenen Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn wissen,
daß der Geist Gottes, der dir auf kreatürliche Art mitgeteilt wird,
dich versiegelt habe auf den Tag der Erlösung. Du mußt denken: Ich
bin erlöst, ich lebe, ich sterbe nimmermehr, warum soll ich meinen Geist
betrüben? So denke denn kräftig, du seist erlöst von den schrecklichen
Dingen, die im zukünftigen Zorn und ewigen Gericht werden offenbar werden!
Siehe das ewige Gericht mit den Augen der Heiligen Schrift und nicht mit den
Augen landläufiger Meinung, dann wirst du als ein Erlöster Gottes
in lauter Danksagung wandeln!
Nun muß ich noch das eine oder andere beantworten. Was bedeuten die zwei
Säulen? Ich wage nicht, mit Hutchinson! darunter die ursprünglichen
Kräfte und Bewegungen zu verstehen. Das System Salomos führt uns nicht
so weit, wie wir aus seinen Sprüchen schließen dürfen. Man müßte
dann auch die zwei konträren (entgegengesetzten) Grundsäulen der Natur,
nämlich die Stärke und die Sanftmut, nach Simsons Rätsel deuten,
da die höchste Schärfe und die höchste Süßigkeit in
einem einzigen Löwenkörper abgebildet sind (Richt. 14, 14): »Speise
ging von dem Fresser und Süßigkeit von dem Starken«; aber dazu
kann ich mit Recht niemand überreden. Darum bleibe ich hier lieber bei
dem stehen, was die Grundworte im Blick auf den Tempelbau sagen. Jachin
heißt: Er wird befestigen. Boas heißt: In ihm ist
die Stärke.
Gott, in dem alle Stärke ist, wird auch die Lehrtafel der Prinzessin Antonia
als einen Turm befestigen; dies ist genug. Wer alles darin zusammenfassen will,
hat viel zu tun. Gott läßt sich die problematischen Versuche über
die Wahrheit besonders in dieser gärenden Zeit gefallen; nur gehe ich immer
zurück auf das Nützlichste, denn es ist auch das Leichteste.
Wie soll man sich die Lehren von den zehn Ausflüssen Gottes einfältig
vorstellen?
Antwort: Gott ist die unergründliche Tiefe, der En Soph, der oben
an der Tafel steht und der in sich selbst wohnt. Er will sich den Geschöpfen
mitteilen. Darum heißt der erste Ausgang aus dem En Soph, aus dem Ungrund,
ursprünglich wie wir im Lied beten: »Dem dreieinigen Gott, als der
ursprünglich war, der ist und bleiben wird, jetzund und immerdar«.
Durch die erste (Keter) tritt Gott als eine >Krone< oder unermeßliche
Peripherie der Ausbreitung seines innersten Punktes (Psalm 150, 1) oder Konzentration
zu seiner Selbstoffenbarung heraus.
Durch die andere als die Weisheit beschaut er sich in sich selbst (Chokma).
Durch die dritte gibt er die Unterscheidung der vorweltlichen Originalideen
in sich selbst hervor. Die Weisheit spielt Gott vor, und Gott bestätigt
seinen Vorsatz (Spr. 8). Der Heilige Geist unterscheidet die Verborgenheiten
der Weisheit durch zwei in drei und durch diese in sieben und noch weiter ins
Unendliche (Bina, Hiob 11, 6).
Durch die vierte (Gedulla) breitet er seine Kräfte aus in sich selbst (Ps.
150, 1). Lobet ihn in der Ausbreitung seiner Kraft!
Durch die fünfte (Gebhura) zieht und faßt er sie wieder zusammen,
daß wir ihn in seinen Kräften (Gebhurot) loben.
Durch die sechste (Tiphärät) setzt er die Extension (Ausdehnung) und
Intension (Zusammenziehung) aus dem Streit in die lieblichste Schönheit,
wie der Psalmist singt: »Lob und Zierde ist vor ihm, und Schönheit
ist in seinem Heiligtum« (Ps. 96, 6).
Durch die siebte (Näsach), die unter den sieben niederen die vierte ist,
überwindet er, so daß der Streit der verzehrenden Kräfte mit
den erhaltenden in den Sieg (lanäsach) actu purissimo (durch die
reinste Bewegung) übergeht. Wiewohl in Gott kein Übergang aus einem
Streit in die Ruhe ist, so sagt er doch nicht umsonst, daß er geruht habe.
Es gehen also Gottes wirkende Kräfte und Ausgänge solange fort, bis
sie zur Ruhe kommen. In Gott ist kein Wechsel, aber ein ewiger actus (Bewegung),
der zur Ruhe geht, eine ewige Bewegung in der Ruhe. Man frage einen gelehrten
Juden, warum die vierte Sephira Überwindung heiße.
Durch die achte (Hod), Herrlichkeit genannt, geht es näher zur Ruhe. Herrlichkeit
ist das Grundwort des Neuen Testaments; darauf läuft alles hinaus. Es ist
2. Korinther 3 des Paulus Kabbala.
Durch die neunte (Jesod) bekommt alles seinen Bestand. Alle alles, was dauernd
und bestandhaltend ist, hat da seine Wurzel. Gott ist ein Fels, darum ist sein
Werk vollkommen (5. Mose 32, 4).
Durch die zehnte (Malkut) kommt die Gottheit aus dem actu purissimo endelechico,
das ist aus dem wirkend fortschreitenden Übergang zur Ruhe, zur ewigen
Fassung, zum Sabbat, zum Königreich, und das geschieht im Adonai,
in dem Herrn aller Herren, in Christus. Da begibt sich die Gottheit in einen
neuen, von ewigen Zeiten her verschwiegenen Stand für die Menschen und
die Engel. Da wird das Geheimnis Gottes auch das Geheimnis Christi.
Die zweite Frage lautet, was für eine Ordnung darin sei?
Meine Antwort: Drei und sieben hat eine Ordnung; es ist aber keine die erste
und keine die letzte. Die Ausgänge sind gleich ewig, und dennoch muß
in der Offenbarung etwas sein, das drei Stände anzeigt, drei selbständige
Wirkungen. Es würde sonst nicht heißen: Der ist, der war, der kommt.
Ferner müssen die sieben Geister, die als Fackeln vor dem Thron Gottes
stehen, etwas Sukzessives in simultaneo (etwas Nacheinanderwirkendes bei Gleichzeitigkeit)
sein.
Die dritte Frage lautet; ob sie völlig schriftgemäß seien?
Ja, gewiß! Die sieben Geister werden schon im Alten Testament als sieben
Augen auf dem einen Stein genannt; sie sind beweglich und gehen aus in alle
Lande (Sach. 4, 10), und in der heiligen Offenbarung liegt es ja klar zu Tage.
Der goldene Leuchter (Sach. 4) hat sieben Röhren, und jedes Rohr teilt
sich wieder in sieben Ausgänge. Was kann klarer sein, als den Geist Gottes
in seinen Kräften zu erkennen?
Die Dreiheit ist höchst intellektual. Die Siebenheit ist eine doppelte
Wohnung der Dreiheit, vereinigt in die Einheit; aber in der siebten Zahl gibt
sich die Dreiheit in der Herrlichkeit ein gewisses Maß der Kräfte,
obgleich die Herrlichkeit Gottes ohne Maß ist. Ach, wie will unser Maulwurfverstand
sich unterstehen, anders als durch Lücken des Verstandes aus kurzen Worten
sich Begriffe zu machen? Selig ist, wer erfährt: »Wir wollen zu ihm
kommen und Wohnung in ihm machen«. Schön aber ist es, wenn sich eine
Seele, obwohl mangelhaft, eine Vorstellung von den heiligen Worten Gottes geben
läßt. Der Glaube hat eine große Standhaftigkeit, eine große
Macht, wenn auch große Lücken des Verstands dabei sind. Plato hat,
soweit ich von dem Juden Kappel Hecht durch chronologische Berechnung vernommen
habe, nur ein wenig davon gehört durch die babylonischen Weisen Jeremia
und Hesekiel. Er selbst verstand es nicht.
Übrigens glaube ich nicht, daß die Dreiheit im Alten Testament anders
als auf sephirotische Art bekannt gewesen sei. In den Propheten nennt sich Jehova
den Schöpfer, aber auch den Erlöser und den Heiligmacher; aber die
hellere Erkenntnis des Geheimnisses Gottes ist dem Neuen Testament allein vorbehalten.
Gott ist das A und das O, und Jesus Christus ist auch das A und das O in Gott,
und der Herr ist der Geist (Offb. 1, 8; 22, 13. 17; 2. Kor. 3, 18).
Die vierte Frage lautet: Wie kann man sie mit des Paulus Geheimnis Gottes und
Christi vergleichen? Ich antworte: Gar schön! Man lese nur alle Worte,
man erwäge sie, man lasse sich nicht müde machen, dann wird man von
der Gottheit die reinsten Begriffe finden! Paulus allein gedenkt der Fülle
der Gottheit. Sie setzt Ausgänge aus den Tiefen Gottes voraus, und in Christus
macht sich Gott leibhaftig.
Aristoteles nennt die Seele eine Endelechia, eine stufenweise fortschreitende
Kraft von einer Sephira zur andern. Das hat er von der Tradition entlehnt. Die
Seele ist ein Ebenbild Gottes. Gott ist actus purissimus; er ist in einem ewigen
Ausgang aus sich in sich selbst von einer Sephira zur andern (endelechice).
Er ist ein Ens manifestativum sui (ein sich selbst offenbarendes Wesen);
er ist nicht nur eine ewige Vorstellungskraft der Welten, sondern seiner selbst
durch die zehn Ausgänge als Vater, Sohn und Geist in dem Wohnhaus der sieben
Geister, das die Herrlichkeit Gottes ist. Darum heißt er der Vater und
Gebärer der Herrlichkeit (Eph. 1, 17) oder der zehn Abglänze. Seine
Wirkung geht ewig in die Ruhe; und dies geht fort, bis er sich in Christus leibhaftig
gemacht hat, und geht fort durch Christus, bis er alles in allem sein wird.
Dies ist der würdige Begriff der alten Hebräer. Die Prinzessin Antonia
will sagen, daß das Heil hierin von den Juden komme. Dies bestätigt
Jesus (Joh. 5,19.26; 14,28; 10, 30).
Gott helfe wieder den Universitäten, die durch den Wolffianismus, der Gott
als eine Kraft beschreibt, sich alle möglichen Welten vorzustellen, dahin
gekommen sind, daß sie die Idiopiiam und die Metaiiam
oder die communicationem idiomatum [dogmatischer
Ausdruck für die Gemeinschaft bzw. den Austausch der beiden Naturen innerhalb
der einen Person Christi] nicht mehr wie unsre alten Theologen berühren
und es übergehen und unausgewickelt lassen, weil es mit der Wolff‘schen
Philosophie unvereinbar ist.
Die Dreiheit und alle Ausgänge der sieben Geister, bis sie in Christus
seine sieben Augen geworden sind, nennt Paulus das Geheimnis Gottes und Christi.
Ich werde aber von diesem allen ausführlicher handeln in der Vergleichung
der Philosophien mit Hesekiel; denn Hesekiel gibt uns die wahren Grundideen.
Ehe ich schließe, gedenke ich noch der Einweihungsrede, die der Lehrmeister
des Informators der Prinzessin, Doktor der Theologie Raith, in seinem »Turris
Antonia« über diese Lehrtafel — ich weiß nicht, ob in
Tübingen oder in Teinach — gehalten und in Druck gegeben hat. Auf
Seite 9 liest man, daß das Wort Turris Antonia dem 14. und 15.
Buch der »Altertümer« des Josephus entnommen sei. Es hat nämlich
Johannes Hyrkanus, der makkabäische Fürst zu Jerusalem, in der Nähe
des Tempels zu dessen Schutz einen Turm erbaut, der in nördlicher Richtung
auf einem Felsen lag und fünfzig Ellen hoch war. Im Tempel wurde noch das
hohepriesterliche Amtskleid samt dem ewigen Licht verwahrt.
Diesen Turm hat Herodes der Große durch den Anbau von vier Türmen
in den vier Ecken erweitert, von denen der größte siebzig Ellen und
die übrigen nur fünfzig Ellen hoch waren. Er hat ihn zu Ehren des
Antonins, eines der drei römischen Regenten, Turris Antonia nennen lassen.
Von ihm hat die Prinzessin den Namen entlehnt und gedacht, daß diese Lehrtafel,
wenn man sie im Geist verstehe, der Dreifaltigkeitskirche und allen Besuchern
eine Zuflucht sein werde. Sie dachte, die Fülle der Gottheit in Christus,
das heißt der durch die zehn Sephirot ausgelegte Name Jehova, werde den
Gläubigen das feste Schloß, wohin die Gerechten in aller Not fliehen
(Spr. 18, 10) und besonders bei den gesellschaftlichen Zerstreuungen die Gäste
sich wieder sammeln können, weil in Sprüche 18 vor allem davon gehandelt
wird, wie man sich in Gesellschaft betragen soll.
Der Einweihungsrede ist auch der Kupferstich von den zehn
Abglänzen Gottes beigefügt. Jeder Abglanz
geht aus von dem En Soph, von dem Abgrund der göttlichen
Tiefe. Die erste heißt Keter oder Krone. Jeder Abglanz ist als Jungfrau dargestellt, weil, wie man ohne Zweifel aus dem Auszug aus
dem Sohar sieht, die ganze Herrlichkeit Gottes als eine Matrone, das heißt
in weiblicher Gestalt, beschrieben ist. Es ist zu ihren Füßen ein
Paradiesvogel gemalt, weil die Himmelsbürger sich dem Ursprung der himmlischen
Sophia nahen und das dreimal »Heilig« hören
dürfen; oben aber um ihr Haupt sind sieben Augen. Der andere
Abglanz heißt die Weisheit oder die >>Sophia
. Sie hat ein
Maßkännlein in einer Schale in der einen Hand und einen Becher in
der andern, weil die Weisheit alles mit Maß und Zahl und Gewicht tut.
Oben um das Haupt sind sieben Sterne, und unten sitzt ein Adler, weil die Beschauer
an der zweiten Sephira die Zahl sieben als Band der Kräfte aller Kreatur
in ihrem Urstoff erhöht sehen werden.
Der dritte Abglanz ist die unerschaffene Intelligenz
oder Bina, weil sie als die dritte sogenannte Person die Tiefen
der Gottheit erforscht.
Um das Haupt dieser Matrone sind sieben feurige Zungen. In der rechten Hand
hat sie eine Schlange als Zeichen, die Klugheit
vom Heiligen Geist zu lernen,
und in der linken Hand einen Spiegel, weil dies alles im Spiegel der Worte von
uns soll beherzigt werden. Unten ist abermals ein Adler mit einem Anker. Dies
bedeutet die beschauende Hoffnung, in der Lehre weiterzukommen. Diese drei machen
die oberen Sephirot und die Dreiheit aus. Um jedes Haupt sind sieben im Unterschied
von der oberen Dreiheit.
Nun kommen die sieben unteren, die die Kabbalisten Sephirot
hatachtoniot nennen. Dies sind die sieben
Geister Gottes, jeder in weiblicher Gestalt, wie denn im Hebräischen
auch das Wort Geist weiblich ist.
Die erste, Gedulla, hat in der Rechten
ein Horn voll Früchte, in der Linken ein Zepter mit dem Ölzweig des
Friedens und zu den Füßen ein Lamm. Das bedeutet die sanfte Quelle
der vermehrenden und ausbreitenden Kraft Gottes in der Weisheit, die das Kleid
Gottes ist.
Die zweite heißt Gebhura oder Strenge
als Gegenteil der vermehrenden Kraft. Sie setzt der Ausbreitung ein Ziel durch
Konzentration und Intension der Extension. Darum hat diese Matrone einen Zügel
in der Hand, die unendlich mitteilbare Kraft Gottes anzuziehen. Hier ist die
scharfe Quelle aller Gerechtigkeit, aller Löwenstärke, wie es die
Waagschale, das Schwert, der Löwe, der Bogen und die Säule anzeigen.
Die dritte heißt Tiphärät
oder Lieblichkeit, innere Schönheit, Herzlichkeit. Sie hat ihren
Sitz im Herzen des Menschen. Kinder an der Mutter Brust, die Küchlein bei
der Henne, die Täublein in den Ölzweigen, das sind lauter herzliche,
zärtliche Dinge. In der Herrlichkeit Gottes ist sie die erste Kraft des
Lebens, der Ursprung der Liebe, die kein Wasser auslöschen kann; denn sie
ist ein Feuer.
Die vierte heißt Näsach, Überwindung
oder Ewigkeit. Die Jungfrau trägt in der Rechten Aarons Mandelstab und
in der Linken eine Siegesfahne. Auf dem Boden sind viele Kriegswerkzeuge und
zur Linken ist eine Korngabe. Siehe, mein Leser, es stehen allezeit zwei Kräfte
gegeneinander und vereinigen sich in der dritten. Hier steht die überwindende
Kraft und die ausbrechende Herrlichkeit, die verzehrende und erhaltende Kraft
im Ringen, bis in der sechsten der Bestand herauskommt. Die Kabbalisten wissen
dies alles durch die Theologie hindurchzuführen, aber in unsrer Theologie
muß es anstehen bis zuletzt.
Die fünfte heißt Hod, eigentlich Herrlichkeit, Lob, Ehre. Die Harfe in ihren Händen, der scharf
lauschende Hirsch und die Orgel besagen alle das Lob des guten Namens. Suchet
die Ehre von Gott, nicht nur die Ehre der Welt (Joh. 5, 44)!
Die sechste heißt Jesod, Bestand. Da steht das apokalyptische Weib mit zwölf Sternen, mit der Sonne
bekleidet. Die zeigt an, daß die Kräfte aus Gott durch die Gemeine
gefaßt und in der Reflexion der Seele standhaft erkannt seien. Die sechste
Kraft ist in der Weisheit, die Quelle aller geistlichen, unzerstörlichen
Verstandeskraft; das ist etwas Bleibendes. Da ist die manifestatio sui aus der
Kabbala genommen.
Die siebte, Malkut, ist die Konzentration
aller Fülle Gottes leibhaftig in Christus. Davon ist schon oben geredet
worden. Jesus schwört oft vor den Sündern: »Wahrlich, wer lebt
und glaubt an mich, stirbt nimmer«. Er hält ihnen sein Kreuz als
die Bedingung der Herrlichkeit vor. Aus seiner Seite fließt Blut und Wasser,
unter seinen Füßen ist der überwundene Drache. Seht, ihr Beschauer
dieser Lehrtafel, seht die himmlische Weisheit in weiblicher und männlicher
Gestalt! Haltet eure Urteile zurück und denkt, daß unsre Denkbilder
nicht der Brunnen selbst, sondern Anweisungen zu dem Brunnen des Lebendigen
und Sehenden seien! Faßt die Bilder, aber verwandelt sie in Verstand;
tut sie wieder weg und behaltet alles in einem! Alles in allem Christus.
In aller Lehre sind Gleichnisse; im Geist läßt man sie wieder fahren
und behält allein die Sache selbst ohne Wortstreit. Wer es fassen mag,
der fasse es; ist jemand unwissend, der sei unwissend (1. Kor. 14, 38)! Kommt
es dir allzu räumlich vor, dann denke, Gott habe Mose auf den Raum gestellt,
es zu sehen!
Es ist hier an dem fast zuviel. Gott gebe uns nur gute Verstandeskräfte
für die Heilige Schrift, er gebe uns gesunden Verstand; denn leider wird
durch die Wolff‘schen Grundideen von Gott und den Monaden die ganze Theologie
der Heiligen Schrift fremd und dem Bild des Heiligen Geistes unähnlich.
Es soll aber die heilige Lehre von Gott in Christus eine gesunde und unumstößliche
Lehre sein (Tit. 2, 1. 7). Sch II 1, 11—22
Aus: Friedrich Christoph Oetinger, Heilige Philosophie
. Ausgewählte Gedanken zum Verständnis der Schrift (S. 106-119)
Band III Zeugnisse der Schwabenväter, herausgegeben und mit Einführung
und Anmerkungen versehen von Dr. theol. J. Roessle
Copyright 1965 Verlag Ernst Franz, Metzingen
Fortsetzung