Max Stirner, eigtl. Johann Kaspar Schmidt, (1806 – 1856)

  Deutscher Philosoph, Lehrer und Journalist. Von Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer (Linkshegelianismus) ausgehend, entwickelte er das System eines extremen Individualismus (individualistischer Anarchismus, Solipsismus), nach dem das Individuum das einzig Reale, der Dienst am Ich das einzig Sinnvolle und Werthafte ist (»Der Einzige und sein Eigentum«). Er geriet nach anfänglicher Wirkung (scharfe Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels) in Vergessenheit und wurde durch Eduard von Hartmann wieder bekannt.

Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg
 

Inhaltsverzeichnis

Der Einzige und sein Eigentum
Ich hab‘ Mein Sach‘auf Nichts gestellt
Das Gesetz der Liebe


Wir sind keine Gläubigen mehr
  >>>Christus
Der Spuk
Der Unmensch
Mein Selbstgenuss

Ich hab‘ Mein Sach‘auf Nichts gestellt

Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der
Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«

Sehen Wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache machen, für deren Sache Wir arbeiten, Uns hingeben und begeistern sollen.

Ihr wisst von Gott viel Gründliches zu verkünden und habt jahrtausendelang »die Tiefen der Gottheit erforscht« und ihr ins Herz geschaut, so dass ihr uns wohl sagen könnt, wie Gott die »Sache Gottes«, der wir zu dienen berufen sind, selber betreibt. Und ihr verhehlt es auch nicht, das Treiben des Herrn. Was ist nun seine Sache? Hat er, wie es Uns zugemutet wird, eine fremde Sache? Hat er die Sache der Wahrheit, der Liebe zur seinigen gemacht? Euch empört dies Missverständnis und ihr belehrt uns, dass Gottes Sache allerdings die Sache der Wahrheit und Liebe sei, dass aber diese Sache keine ihm fremde genannt werden könne, weil Gott ja selbst die Wahrheit und Liebe sei; euch empört die Annahme, da
ss Gott uns armen Würmern gleichen könnte, indem er eine fremde Sache als eigene beförderte. »Gott sollte der Sache der Wahrheit sich annehmen, wenn er nicht selbst die Wahrheit wäre«? Er sorgt nur für seine Sache, aber weil er alles in allem ist, darum ist auch alles seine Sache; wir aber, wir sind nicht alles in allem, und unsere Sache ist gar klein und verächtlich; darum müssen wir einer »höheren Sache dienen«. - Nun, es ist klar, Gott bekümmert sich nur ums Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat sich im Auge; wehe allem, was ihm nicht wohlgefällig ist. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur sich. Seine Sache ist eine - rein egoistische Sache. [...]

Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf Sich. Stelle Ich denn meine Sache gleichfalls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem Andern, der Ich mein Alles, der Ich der Einzige bin.

Hat Gott, hat die Menschheit, wie Ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich Alles in Allem zu sein: so spüre Ich, dass es Mir noch weit weniger daran fehlen wird, und dass Ich über meine »Leerheit« keine Klage zu führen haben werde. Ich bin (nicht) Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.

Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist? Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw,, sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist — einzig , wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über mich.
S. 3-5 [...]

Das Gesetz der Liebe
Für den Verkehr mit Menschen wird unter allen, welche religiös leben, ein ausdrückliches Gesetz obenangestellt, dessen Befolgung man wohl sündhafter Weise zuweilen zu vergessen, dessen absoluten Wert aber zu leugnen man sich niemals getraut; dies ist das Gesetz der — Liebe, dem auch Diejenigen noch nicht untreu geworden sind, die gegen ihr Prinzip zu kämpfen scheinen und ihren Namen hassen; denn auch sie haben der Liebe noch, ja sie lieben inniger und geläuterter, sie lieben »den Menschen und die Menschheit.«

Formulieren Wir den Sinn dieses Gesetzes, so wird er etwa folgender sein: Jeder Mensch muss ein Etwas haben, das ihm über sich geht
. Du sollst dein »Privatinteresse« hintansetzen, wenn es die Wohlfahrt Anderer, das Wohl des Vaterlandes, der Gesellschaft, das Gemeinwohl, das Wohl der Menschheit, die gute Sache u. dgl. gilt! Vaterland, Gesellschaft, Menschheit usw. muss Dir über Dich gehen, und gegen ihr Interesse muss dein »Privatinteresse« zurückstehen; denn Du darfst kein Egoist sein.

Die Liebe ist eine weitgehende religiöse Forderung, die nicht etwa auf die Liebe zu Gott und den Menschen sich beschränkt, sondern in jeder Beziehung obenansteht. Was Wir auch tun, denken, wollen, immer soll der Grund davon die Liebe sein. So dürfen Wir zwar urteilen, aber nur »mit Liebe«. Die Bibel darf allerdings kritisiert werden und zwar sehr gründlich, aber der Kritiker muß vor allen Dingen sie lieben und das heilige Buch in ihr sehen. Heißt dies etwas anderes als: er darf sie nicht zu Tode kritisieren, er muß sie bestehen lassen, und zwar als ein Heiliges, Unumstößliches?

— Auch in unserer Kritik über Menschen soll die Liebe unveränderter Grundton bleiben. Gewiß sind Urteile, welche der Haß eingibt, gar nicht unsere eigenen Urteile, sondern Urteile des Uns beherrschenden Hasses, »gehässige« Urteile.. Aber sind Urteile, welche Uns die Liebe eingibt, mehr unsere eigenen? Sie sind Urteile der Uns beherrschenden Liebe, sind »liebevolle, nachsichtige« Urteile, sind nicht unsere eigenen, mithin gar nicht wirkliche Urteile. Wer Vor Liebe zur Gerechtigkeit brennt, der ruft aus: fiat iustitia, pereat mundus. Er kann wohl fragen und forschen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich sei oder fordere und worin sie bestehe, aber nicht, ob sie etwas sei.

Es ist sehr wahr »Wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm«. (1. Joh. 4, 16.) Der Gott bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und er bleibet in Gott, kommt nicht zu sich und in seine eigene Heimat, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos.

»Gott ist die Liebe! Alle Zeit und alle Geschlechter erkennen in diesem Worte den Mittelpunkt des Christentums.«
Gott, der die Liebe ist, ist ein zudringlicher Gott: er kann die Welt nicht in Ruhe lassen, sondern will sie beseligen. »Gott ist Mensch geworden, um die Menschen göttlich zu machen.« Er hat seine Hand überall im Spiele, und nichts geschieht ohne sie; überall hat er seine »besten Absichten«, seine »unbegreiflichen Pläne und Ratschlüsse«. Die Vernunft, welche er selbst ist, soll auch in der ganzen Welt befördert und verwirklicht werden. Seine väterliche Fürsorge bringt Uns um alle Selbständigkeit. Wir können nichts Gescheites tun ohne daß es hieße: das hat Gott getan! und können Uns kein Unglück zuziehen, ohne zu hören: das habe Gott verhängt; Wir haben nichts, was Wir nicht von ihm hätten: er hat alles »gegeben«. Wie aber Gott, so macht‘s der Mensch. Jener will partout die Welt beseligen, und der Mensch will sie beglücken, will alle Menschen glücklich machen. Daher will jeder »Mensch« die Vernunft, welche er selbst zu haben meint, in Allen erwecken: Alles soll durchaus vernünftig sein. Gott plagt sich mit dem Teufel und der Philosoph mit der Unvernunft und dem Zufälligen. Gott läßt kein Wesen seinen eigenen Gang gehen, und der Mensch will Uns gleichfalls nur einen menschlichen Wandel führen lassen.

Wer aber voll heiliger (religiöser, sittlicher, humaner) Liebe ist, der liebt nur den Spuk, den »wahren Menschen«, und verfolgt mit dumpfer Unbarmherzigkeit den Einzelnen, den wirklichen Menschen, unter dem phlegmatischen Rechtstitel des Verfahrens gegen den »Unmenschen«. Er findet es lobenswert und unerläßlich, die Erbarmungslosigkeit im herbsten Maße zu üben; denn die Liebe zum Spuk oder Allgemeinen gebietet ihm, den nicht Gespenstischen, d. h. den Egoisten oder Einzelnen, zu hassen; das ist der Sinn der berühmten Liebeserscheinung, die man »Gerechtigkeit« nennt.

Der peinlich Angeklagte hat keine Schonung zu erwarten, und Niemand deckt freundlich eine Hülle über seine unglückliche Blöße. Ohne Rührung reißt der strenge Richter die letzten Fetzen der Entschuldigung dem armen Angeschuldigten vom Leibe, ohne Mitleid schleppt der Kerkermeister ihn in seine dumpfe Wohnung, ohne Versöhnlichkeit stößt er den Gebrandmarkten nach abgelaufener Strafzeit wieder unter die verächtlich anspeienden Menschen, seine guten, christlichen, loyalen Mitbrüder! Ja, ohne Gnade wird ein »todeswürdiger« Verbrecher auf das Blutgerüst geführt, und vor den Augen einer jubelnden Menge feiert das gesühnte Sittengesetz seine erhabene — Rache. Eines kann ja nur leben, das Sittengesetz, oder der Verbrecher. Wo die Verbrecher ungestraft leben, da ist das Sittengesetz untergegangen, und wo dieses waltet, müssen jene fallen. Ihre Feindschaft ist unzerstörbar.

Es ist gerade das christliche Zeitalter das der Barmherzigkeit, der Liebe, der Sorge, den Menschen zukommen zu lassen, was ihnen gebührt, ja sie dahin zu bringen, daß sie ihren menschlichen (göttlichen) Beruf erfüllen. Man hat also für den Verkehr obenan gestellt: dies und dies ist das Wesen des Menschen und folglich sein Beruf, wozu ihn entweder Gott berufen hat oder (nach heutigen Begriffen) sein Menschsein (die Gattung) ihn beruft. Daher der Bekehrungseifer. Daß die Kommunisten und Humanen mehr als die Christen vom Menschen erwarten, bringt sie keineswegs von demselben Standpunkte weg. Dem Menschen soll das Menschliche werden! War es den Frommen genug, daß ihm das Göttliche zu Teil wurde, so verlangen die Humanen, daß ihm das Menschliche nicht verkümmert werde. Gegen das Egoistische stemmen sich beide. Natürlich, denn das Egoistische kann ihm nicht bewilligt oder verliehen werden (Lehen), sondern er muß es selbst sich verschaffen. Jenes erteilt die Liebe, dieses kann Mir allein von Mir gegeben werden.

Der bisherige Verkehr beruhte auf der Liebe, dem rücksichtsvollen Benehmen, dem Füreinandertun. Wie man sich‘s schuldig war, sich selig zu machen oder die Seligkeit, das höchste Wesen in sich aufzunehmen und zu einer vérité (einer Wahrheit und Wirklichkeit) zu bringen, so war man‘s Andern schuldig, ihr Wesen und ihren Beruf ihnen realisieren zu helfen: man war‘s eben in beiden Fällen dem Wesen des Menschen schuldig, zu seiner Verwirklichung beizutragen.

Allein man ist weder sich schuldig, etwas aus sich, noch Andern, etwas aus ihnen zu machen: denn man ist seinem und Anderer Wesen nichts schuldig. Der auf das Wesen gestützte Verkehr ist ein Verkehr mit dem Spuk, nicht mit Wirklichem. Verkehre Ich mit dem höchsten Wesen, so verkehre Ich nicht mit Mir, und verkehre Ich mit dem Wesen des Menschen, so verkehre Ich nicht mit den Menschen.

Die Liebe des natürlichen Menschen wird durch die Bildung ein Gebot. Als Gebot aber gehört sie dem Menschen als solchem, nicht Mir; sie ist mein Wesen, von dem man viel Wesens macht, nicht mein Eigentum. Der Mensch, d. h. die Menschlichkeit, stellt jene Forderung an Mich; die Liebe wird gefordert, ist meine Pflicht. Statt also wirklich Mir errungen zu sein, ist sie dem Allgemeinen errungen, dem Menschen, als dessen Eigentum oder Eigenheit: »dem Menschen, d. h. jedem Menschen ziemt es zu lieben: Lieben ist die Pflicht und der Beruf des Menschen usw.»

Folglich muß Ich die Liebe Mir wieder vindizieren [als Eigentum beanspruchen] und sie aus der Macht des Menschen erlösen.

Was ursprünglich mein war, aber zufällig, instinktmäßig, das wurde Mir als Eigentum des Menschen verliehen; Ich wurde Lehnsträger, indem Ich liebte, wurde der Lehnsmann der Menschheit, nur ein Exemplar dieser Gattung, und handelte liebend nicht als Ich, sondern als Mensch, als Menschenexemplar, d. h. menschlich. Der ganze Zustand der Kultur ist das Lehnswesen, indem das Eigentum das des Menschen oder der Menschheit ist, nicht das meinige. Ein ungeheurer Lehnsstaat wurde gegründet, dem Einzelnen Alles geraubt, »dem Menschen« Alles überlassen. Der Einzelne mußte endlich als »Sünder durch und durch» erscheinen.

Soll Ich etwa an der Person des Andern keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuß, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was Mir ohne ihn das Teuerste wäre, das kann Ich für ihm in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus. Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben. Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und - genieße ihn. Wenn ich ihm Alles opfere, was Ich ohne die Liebe zu ihm behalten würde, so ist das sehr einfach und sogar gewöhnlicher im Leben, als es zu sein scheint; aber es beweist nichts weiter, als daß diese eine Leidenschaft in Mir mächtiger ist, als alle übrigen. Dieser Leidenschaft alle andern zu opfern, lehrt auch das Christentum. Opfere Ich aber einer Leidenschaft andere, so opfere Ich darum noch nicht Mich, und opfere nichts von dem, wodurch Ich wahrhaft Ich selber bin, nicht meinen eigentlichen Wert, meine Eigenheit. Wo dieser schlimme Fall eintritt, da sieht‘s um nichts besser mit der Liebe aus, als mit irgend welcher andern Leidenschaft, der Ich blindlings gehorche. Der Ehrgeizige, der vom Ehrgeiz fortgerissen wird und gegen jede Warnung, welche ein ruhiger Augenblick in ihm erzeugt, taub bleibt, der hat diese Leidenschaft zu einer Zwingherrin anwachsen lassen, wider die er jede Macht der Auflösung verloren gibt: er hat sich selbst aufgegeben, weil er sich nicht auflösen, mithin nicht aus ihr erlösen kann: er ist besessen.

Ich liebe die Menschen auch, nicht bloß einzelne, sondern jeden. Aber Ich liebe sie mit dem Bewußtsein des Egoismus; Ich liebe sie, weil die Liebe Mich glücklich macht, Ich liebe, weil Mir das Lieben natürlich ist, weil Mir‘s gefällt. Ich kenne kein »Gebot der Liebe«. Ich habe Mitgefühl mit jedem fühlenden Wesen, und ihre Qual quält, ihre Erquickung erquickt auch Mich: töten kann Ich sie, martern nicht. Dagegen sinnt der hochherzige, tugendhafte Philisterfürst Rudolf in den Mysterien von Paris, weil ihn die Bösen »entrüsten«, auf ihre Marter. Jenes Mitgefühl beweist nur, daß das Gefühl der Fühlenden auch das meinige, mein Eigentum, ist, wogegen das erbarmungslose Verfahren des »Rechtlichen» (z. B. gegen den Notar Ferrand) der Gefühllosigkeit jenes Räubers gleicht, welcher nach dem Maße seiner Bettstelle den Gefangenen die Beine abschnitt oder ausreckte: Rudolfs Bettstelle, wonach er die Menschen zuschneidet, ist der Begriff des »Guten». Das Gefühl für Recht, Tugend usw. macht hartherzig und intolerant. Rudolf fühlt nicht wie der Notar, sondern umgekehrt, er fühlt, daß »dem Bösewicht Recht geschieht«; das ist kein Mitgefühl.

Ihr liebt den Menschen, darum peinigt Ihr den einzelnen Menschen, den Egoisten, eure Menschenliebe ist Menschenquälerei. S. 319-325
Aus: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer
Reclams Universalbibliothek Nr. 3057 (S. 3-5, 319-325) © 1972 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Wir sind keine Gläubigen mehr
Ihr meint immer noch eine Religion haben zu müssen neben Euren sonstigen Überzeugungen. Erkennet Euch, so erkennt Ihr Gott und die Welt, liebet Euch, so liebet Ihr alle, suchet Euch, so sucht Ihr Gott, habt Euch, so habt Ihr alles, trachtet im höhern Sinne zuerst nach Euch, so fällt Euch alles andere zu. Nichts ist Euch so verborgen, als Ihr Euch selbst; nichts kann Euch aber auch so offenbar werden, als Euer Selbst: und auch darin offenbart sich Gott Eurem suchenden Geiste.

Und forschet nur in Euch nach, ob Ihr wirklich damit zufrieden seid, wenn Ihr von Euren Predigern stets an Gott gewiesen werdet, an den Gott, der nicht Euer eigenes Selbst ist. Könnt Ihr mit ihm jemals eins werden? Nur mit Euch könnt Ihr eins und einig werden, nicht mit einem andern, der Euch immer, auch in der innigsten Verbindung noch fremd bleiben muß, ein Herr und Vater in unnahbarer Majestät. Schleudert die Demut von Euch, die einen Herrn braucht, und seid Ihr selbst.

Gesteht es Euch selbst, daß Ihr das wollt, habt nur den Mut, es Euch nicht länger zu verhehlen, fürchtet Euch nur nicht, zu denken, was Ihr unbewußt doch tut; denn Ihr seid längst nicht mehr gottesfürchtig nach alter Art, und Eure Geistlichen sagen es Euch, daß Ihr den kirchlichen Sinn verloren habt. Ihr schlendert noch so in der alten Gewohnheit hin und meint gute Christen zu sein; nehmt aber das Wort Eurer Geistlichen Euch zu Herzen und lasset es nicht ungehört und unbeachtet verhallen: sie, die Eure berufenen Lehrer sind, verkündigen es Euch, daß Ihr schlechte Christen seid. Ja, kommt dadurch zur Erkenntnis und bekennet es frei: Wir sind keine Gläubigen mehr! Wir glauben nicht ernstlich mehr an den alten Herrgott, und wenn wir nur wüßten, wie ohne ihn die Welt hätte entstehen und bestehen können, so würden wir dieser ganzen unbegründeten Voraussetzung nicht mehr bedürfen. Und wenn Ihr mit diesem Selbstbekenntnisse die Last Eurer Selbsttäuschung abgeworfen und Euch wenigstens offen gesagt habt, wie es um Euch und Euren Glauben steht, so fordert für Eure Lehrer das freie Wort, die unveräußerliche Lehrfreiheit. Ihr werdet schwerlich verlieren, was Ihr noch länger besitzen möchtet, viel aber gewinnen, wovon Ihr in Eurer träumerischen Anhänglichkeit am Alten nie zu träumen wagtet.
Aus: Max Stirners kleinere Schriften und Entgegnungen. Treptow 1914, S.33 bis 34
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden. Band 3: Auf dem Wege zur Klassik, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei 276 (S.359f.)