Thomas Carlyle (1795 – 1881)

Englischer Lehrer, Dichter und Sozialphilosoph, der - vom schottischen Puritanismus und deutschen Idealismus geprägt - einen erbitterten Kampf gegen den Materialismus des 19. Jahrhunderts führte, der für ihn den Untergang des Abendlandes bedeutete. In seinem ersten größeren Werk »Sartor Resartus, or she life and opinions of Herr Teufelsdrökh« (Der geflickte Flickschneider) entwickelt Carlyle seine Auffassung vom moralischem Wert der Arbeit. Er vertritt ein teleologisches Geschichtsbild, in dem die Weltgeschichte als die Geschichte großer Persönlichkeiten dargestellt wird. Für Goethe ist Carlyle - der Goethes »Meister« und andere Werke ins Englische übersetzt hat - »eine moralische Macht von großer Bedeutung« für die Zukunft. Man kann wohl sagen, dass sich in dem Gottsucher Carlyle nicht nur das Abbild des sozialen Gewissens der Briten, sondern der gesamten Christenheit verkörperte.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Wer bin ich - wer ist dieses Ich?
Das Gerechte ist das Wahre
Zukunft der Religion
  Hunger
Die Unruhen in Manchester
Führer der Industrie
 


»Die Zukunft Deutschlands ist die Zukunft der Welt.«
Thomas Carlyle

Wer bin ich - wer ist dieses Ich?

Menschen von spekulativer Gemütsrichtung haben Zeiten, gedankenvolle, süße und dennoch schauerliche Stunden, wo sie sich neugierig und furchtsam die unbeantwortbare Frage vorlegen: »Wer bin ich, dies Wesen, das sich Ich nennt?« Die Welt mit ihrem lauten Lärmen und Treiben tritt in weite Ferne zurück und durch die Papiertapeten und Steinmauern und dickaufgetragenen Gewebe des Verkehrs und der Politik und all die lebenden und leblosen Umhüllungen (der Gesellschaft und des Körpers), wovon die Existenz des Individuums umgeben ist - dringt der Blick hinaus in die leere Tiefe und du bist allein mit dem Weltall und verkehrst schweigend mit ihm, wie ein geheimnisvolles Wesen mit einem zweiten.

»Wer bin ich; was ist dieses Ich?« Eine Stimme, eine Bewegung, eine Erscheinung; eine verkörperte, sichtbar gewordene Idee des Weltgeistes? Cogito, ergo sum.

Ach armer Cogitatore, damit kommen wir nicht weit. Allerdings ich bin und war vor kurzem noch nicht, aber Woher? Wie? Wohin? Die Antwort liegt rings umher, geschrieben in allen Farben und Bewegungen, ausgesprochen in allen Tönen des Jubels und der Wehklage, in der tausendgestaltigen, harmonischen Natur. Aber wo ist das kluge Auge und Ohr, welchem diese von Gott geschriebene Apokalypse artikulierte Bedeutung gewährt? Wir sitzen gleichsam in einer grenzenlosen Phantasmagorie und Traumgrotte. Grenzenlos ist sie, denn der matteste Stern, das fernste Jahrhundert liegt ihrem Umkreise nicht näher. Klänge und bunte Vision gleiten an uns vorüber, aber ihn, den Nimmerschlummernden, dessen Werk sowohl Traum als Träumer sind, sehen wir nicht, ahnen ihn nicht, ausgenommen in seltenen halbwachen Augenblicken. Die Schöpfung liegt vor uns wie ein strahlender Regenbogen, die Sonne aber, die ihn schuf, liegt hinter uns, verborgen vor uns. Und wie haschen wir in diesem seltsamen Träume nach Schatten, als ob sie Körper wären, und schlafen am tiefsten, während wir uns am wachsten glauben. Welches von unseren philosophischen Systemen ist etwas anderes als eine Traumtheorie, ein zuversichtlicher Quotient, wo Divisor und Divendendus beide unbekannt sind? Was sind alle Völkerkriege mit ihren Rückzügen, alle blutigen, hasserfüllten Revolutionen weiter, als der Somnambulismus, ist, was wir auf Erden Leben nennen, worin die meisten unzweifelhaft wandeln, als ob sie die rechte Hand von der linken unterscheiden könnten und dennoch sind nur die weise, welche wissen, dass sie nichts wissen.

Wie sehr ist es zu beklagen, daß alle Metaphysik sich bis jetzt so unaussprechlich unproduktiv erwiesen hat! Das Geheimnis des Daseins des Menschen ist immer noch wie das Geheimnis der Sphinx, ein Rätsel, welches er nicht lösen kann und weshalb er den Tod, den schlimmsten Tod, den geistigen, erleiden muß. Was sind alle Axiome und Kategorien und Systeme und Aphorismen? Worte, Worte! Hohe Luftschlösser werden schlau aus Worten zusammengebaut, die Worte auch in guten logischen Mörtel gebettet, aber es kommt keine Kenntnis hinein. Das Ganze ist größer als der Teil – wie außerordentlich wahr! Die Natur duldet keinen leeren Raum – wie außerordentlich falsch und verleumderisch! Ferner: Nichts kann anders wirken, als da, wo es ist – ich gebe das recht gern zu, frage aber nur: Wo ist es denn?

Sei nicht der Sklave von Worten.
Ist nicht das Ferne, das schon Gestorbene, während ich es liebe und mich danach sehne, im eigentlichen Sinne des Wortes ebenso wahr als der Boden, auf dem ich stehe? Aber dieses selbe Wo mit seinem Bruder Wann, sind von Beginn an die Grundfarben unserer Traumgrotte oder vielmehr die Leinwand, auf welche alle unsere Träume und Lebensvisionen gemalt werden.

Hat nichtdestoweniger ein tieferes Nachdenken gewisse Gemüter jedes Himmelstrichs und Zeitalters nicht gelehrt, daß die von allen unseren Gedanken so geheimnisvoll unzertrennlichen
Wo und Wann nur oberflächliche irdische Gedankenanhängsel sind, daß der Seher deutlich wahrnimmt, wie sie aus dem himmlischen Überall und Immer hervorgehen? Haben nicht alle Nationen ihren Gott als allgegenwärtig und ewig, als in einem universellen Hier, einem ewigen Jetzt existierend gedacht? Überlege es Dir wohl; auch Du wirst finden, daß der Raum nur ein Modus unseres Menschensinns ist, ebenso wie die Zeit. Es gibt keinen Raum und keine Zeit. Wir sind – wir wissen nicht was: Lichtfunken, die in dem Äther der Gottheit schwimmen.

V
ielleicht ist die so massiv erscheinende Welt im Grunde genommen doch nichts weiter als ein Luftbild, unser Ich die einzige Wirklichkeit und die Natur mit ihrer tausendfachen Produktion und Vernichtung nur der Reflex unserer eigenen innern Kraft, die Phantasie unseres Traums, oder wie der Erdgeist im Faust es nennt, der Gottheit lebendiges Kleid. [...]

Ich sage Dir, durch all Deine Kassabücher, Philosophien über Angebot und Nachfrage und die modernsten traurigen Geschäfte und kauderwälschen Redensarten hindurch glänzt die Gegenwart eines Ursprünglichen, eines Unaussprechlichen, und Du wärest weise, wenn du es, nicht bloß mit den Lippen anerkenntest.

Jeder Mensch enthält innerhalb seiner unbeträchtlichen Figur ein ganzes Geisterreich und Spiegelbild des Alls und reicht, obschon für das Auge kaum etwa sechs Fuß groß, aufwärts und abwärts, unabsehbar, und verschwimmt in den Regionen der Unermeßlichkeit und der Ewigkeit. Das Leben, wie es auf jenem wunderbaren »Webstuhle der Zeit« gewebt wird, besteht sozusagen aus einer Kette von Licht und einem Einschlag von geheimnisvoller Nacht – nur Er, des es geschaffen, kann es verstehen.

Wer ein Auge und Herz hat, kann noch heute sagen: Warum sollte er mir grauen? Das Licht ist in die Welt gekommen, zu denen, die das Licht lieben, wie man es lieben muss, mit hingebender, alles ertragender Liebe. Im übrigen soll und der vergebliche Kampf, das Geheimnis der Unendlichkeit zu ergründen, nicht mehr ermatten. Dies Geheimnis werden wir zu keiner Zeit anders als in einzelnen Zeilen, hier eine, dort eine, lesen. Wissen wir nicht bereits, dass der Name des Unendlichen
Güte – Gott – ist. Hier auf Erden sind wir Kriegern gleich, die in einem fremden Land kämpfen; wir verstehen den Plan des Feldzuges nicht und wir brauchen ihn nicht zu verstehen; wissen wir doch, was uns zu tun obliegt. Tun wir das, wie Krieger, gehorsam, mutig, mit heldenhafter Freude. »Was Deine Hand zu tun findet, tue es mit Deiner ganzen Kraft.« Hinter uns, hinter jedem von uns, liegen sechs Jahrtausende menschlicher Anstrengung und Siege; vor uns die grenzenlose Zeit mit ihren noch unerschaffenen und uneroberten Ländern und Eldorados, die wir, ja wir erobern und schaffen sollen; und über uns leuchten die himmlischen, leitenden Sterne der Ewigkeit.

»Mir ward ein Erbteil herrlich schön und weit:
Die Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit.«

[...] Aber dennoch ist es schade, daß unsere Seelen verschollen sind. Wir werden sie ganz gewiss wieder aufsuchen müssen, sonst wird uns in jeder Beziehung Schlimmeres zustoßen.

Ein gewisser Grad von Seele ist unumgänglich nötig, um den Körper vor Zerstörung der furchtbarsten Art zu bewahren, um die Ausgabe für Salz zu ersparen. Man hat Menschen gekannt, welche Seele genug besaßen, um ihren Körper und ihre fünf Sinne vor Fäulnis zu bewahren und Salz zu ersparen – auch Menschen und auch Nationen.

Also man verlangt einen Beweis für das Dasein Gottes? Einen beweisbaren Gott! Das kleinste der endlichen Geschöpfe gibt sich Mühe, sich das höchste Unendliche zu beweisen, das heißt, wenn wir es recht betrachten, es wie eine Zeichnung zusammenzustellen und in sich einschließen – das höchste Unendliche, in welchem es lebt, webt und ist! Du willst kein Geheimnis und keinen Mystizismus haben; Du willst im Sonnenschein dessen was Du Wahrheit nennst oder auch mit der Handlampe dessen, was ich Advokatenlogik nenne, durch Deine Welt wandeln und alles »erklären«, von allem Dir »Rechenschaft geben« oder nichts davon glauben? Ja, Du willst sogar zu lachen versuchen? Jeder, der das unergründliche, alles durchdringende Reich des Geheimnisses anerkennt, das überall unter unsern Füßen und zwischen unsern Händen ist, dem das Weltall ein Orakel und Tempel sowohl als auch eine Küche und ein Viehstall ist, gilt in Deinen Augen für einen wahnsinnigen Mystiker; ihm bietest Du mit spöttischem Mitleid Deine Handlampe und kreischest wie verletzt und beleidigt laut auf, wenn er mit dem Fuße danach stößt? – Armer Teufel! Kalbt nicht Deine Kuh? Zeugt nicht Dein Stier? Und Du selbst, wurdest Du nicht geboren? Wirst Du nicht sterben? »Erkläre« mir alles dies, oder tue eins von zwei Dingen: Ziehe Dich mit Deinem törichten Gegacker an abgelegene Orte zurück, oder, was noch besser ist, gib es auf und weine, nicht daß die Herrschaft der Bewunderung vorüber und Gottes Welt ihrer Schönheit entkleidet und prosaisch geworden sei, sondern dass Du bis jetzt ein Dilettant und kurzsichtiger Pedant gewesen ist. [...]

Der Mensch ist hierher gesendet, nicht um zu zweifeln, sondern um zu arbeiten; der Zweck des Menschen – so steht es längst geschrieben – ist eine Handlung, nicht ein Gedanke. Im vollkommenen Zustande war alles Denken nur das Bild und begeisternde Symbol der Tätigkeit und die Philosophie existierte nur in der Gestalt der Poesie und Religion. Und dennoch, wie kann sie in diesem unvollkommenen Zustande vermieden, wie kann sie entbehrt werden? Der Mensch steht gleichsam im Mittelpunkte der Natur; sein Bruchteil Zeit ist von der Ewigkeit, seine Handbreit Raum von der Unendlichkeit umgeben. Wie soll er sich nun enthalten, sich zu fragen: Was bin ich? Woher komme ich? Wohin werde ich einst gehen? Und wie kann er auf diese Fragen eine andere Antwort bekommen, als in oberflächlichen teilweisen Andeutungen und in freundlichen Versicherungen und Beruhigungen, so wie wir sie von einer Mutter zu hören pflegen, wenn sie ihr neugieriges, unwissendes Kind zu beschwichtigen sucht?

Die Krankheit der Metaphysik ist demgemäß eine dauernde. In allen Zeitaltern müssen diese Fragen über Tod und Unsterblichkeit, Ursprung des Bösen, Freiheit und Notwendigkeit, unter neuen Formen wieder zum Vorschein kommen, und fortwährend muß von Zeit zu Zeit der Versuch, uns ein Theorem des Weltalls zu schaffen, wiederholt werden. Aber leider stets ohne Erfolg, denn welches Theorem des Unendlichen könnte wohl vom Endlichen in genügender und vollständiger Weise aufgestellt werden?

Aus: Thomas Carlyle: Arbeiten und nicht verzweifeln. Auszüge aus seinen Werken. Deutsch von Maria Kühn und U. Kretzschmar
Karl Robert Langwiesche Verlag. Königstein i.T. und Leipzig. S.55-61, 136/7, 139f..

Das Gerechte ist das Wahre
Glaubst Du, dass in dieser Gotteswelt mit ihren wild wirbelnden Strudeln und tollen Schaumozeanen, wo Menschen und Nationen umkommen wie ohne Gesetz und das Gericht über die Ungerechten oft lange aufgeschoben wird, deshalb keine Gerechtigkeit walte? Dies ist es, was der Tor in seinem Herzen sagt. Dies ist es; weswegen die Weisen in allen Zeiten weise waren, weil sie es leugneten und wussten, dass es niemals sein könne. Ich sage Dir nochmals, es gibt nichts anderes als Gerechtigkeit und nur eins ist stark hienieden – das Gerechte, das Wahre.

Warte den Ausgang ab. In allen Kämpfen, wenn Du den Ausgang abwartest, hat jeder Kämpfer so viel errungen, als ihm seine Rechte nach zukam. Sein Recht und seine Macht sind am Ende ein und dasselbe. Er hat mit all seiner Macht gekämpft und in genauem Verhältnis zu all seinem Rechte sich behauptet. Sogar sein Tod ist kein Sieg über ihn. Er stirbt allerdings, aber sein Werk bleibt und lebt in der Tat.

Durchsuche das ganze Weltall, und wenn Du mit andern als mit Eulenaugen siehest, so wirst Du nichts darin genähret, nichts am Leben erhalten antreffen, als was Recht auf Leben und Nahrung hat. Das übrige, wenn Du es nur mit andern als Eulenaugen ansiehest, ist so gut wie tot! Gerechtigkeit ward von Begründung der Welt an eingesetzt; und wird dauern so lange wie die Welt, und länger.

Woraus ich den Schluss ziehe, dass das innere Wesen der Tatsache, bei uns sowohl wie anderwärts, unendlich verschieden ist von dem äußeren Wesen des Scheines und der Erscheinungen; dass das Zeitweilige, hier wie anderwärts, nur zu häufig dem Ewigen vorgezogen wird; dass, wer in den zeitweiligen Dingen des Scheines lebt und nicht in das Ewigwesentliche eindringet, das Sphinxrätsel des heutigen oder irgend eines anderen Tages nicht lösen wird. Denn das Wesentliche allein ist wirklich, das ist das Gesetz der Tatsache: wenn du das nicht wahrnimmst, so wird die Tatsache selbst, welche es wohl weiß, dich nachgerade es auch wissen lassen!

Was ist Gerechtigkeit? Das ist im ganzen die Frage der Sphinx an uns. Das Gesetz der Tatsache ist, dass Gerechtigkeit geschehen muß und geschehen wird. Je eher je besser; denn die Zeit drängt und droht gar schrecklich! »Was ist Gerechtigkeit?« fragen viele, denen die herbe Tatsache allein genügende Wahrheit geben wird. So fragte Pilatus, frevelnd scherzhaft: Was ist Wahrheit? Der scherzende Pilatus hatte nicht die mindeste Wahrscheinlichkeit für sich, die Wahrheit zu entdecken. Er wäre nicht imstande gewesen, sie zu erkennen, wenn auch ein Gott sie ihm gezeigt hätte. Blinde Undurchsichtigkeit, blinder als der Star, verschleierte seine lächelnden Augen vor der Wahrheit; die innere Netzhaut seiner Augen war gelähmt und abgestorben. Er blickte auf die Wahrheit; und erkannte sie nicht, da wo sie stand. »Was ist Gerechtigkeit?«

Die bekleidete verkörperte Gerechtigkeit, die in Gerichtshöfen sitzt, mit Strafen, Dokumenten, Polizeistöcken, ist allerdings sehr sichtbar. Aber die nicht verkörperte Gerechtigkeit, wovon jene andere das Abbild oder aber eine furchtbare Unbeschreiblichkeit ist, die ist nicht so sichtbar! Denn die nicht verkörperte Gerechtigkeit ist vom Himmel; ein geistiges göttliches Wesen des Himmelreichs, - unsichtbar allen, außer denen, die edlen und reinen Herzens sind. Die Unreinen, Unedlen starren mit den Augen, und sie ist nicht da. Sie beweisen es Euch mit Logik, mit endlosen Debatten, mit Ausbrüchen parlamentarischer Beredsamkeit. Es ist nicht tröstlich mit anzusehen.

Nicht was der Mensch besitzt, macht sein Glück, noch macht, was ihm fehlt, sein Elend aus. Blöße, Hunger, Not aller Art, selbst der Tod ist freudig erduldet worden, wenn das Herz in der richtigen Verfassung war. Es ist das Gefühl der Ungerechtigkeit, das allen Menschen unerträglich ist. Der roheste Neger erträgt es nicht, ungerecht behandelt zu werden. Kein Mensch erträgt es, oder sollte es ertragen. Ein Gesetz, tiefer als irgend eines, das wir auf Pergament aufgezeichnet lesen, ein Gesetz von Gottes Hand unmittelbar in des Menschen innerstes Wesen geschrieben, ist ein ewiger Widerspruch dagegen. Was ist Ungerechtigkeit?

Ein anderer Name für Unordnung, Unwahrhaftigkeit, Schein; ein Ding, das die wahrhaftig erschaffene Natur, gerade weil sie kein Chaos, kein Trugbild ist, verwirft und verleugnet. Der äußere Schmerz der Ungerechtigkeit – zerfetzten auch Geißelhiebe den Rücken, fiele der Kopf unter die Guillotine – ist eine verhältnismäßig geringfügige Sache gegenüber dem, was die Seele leidet, dem Brandmal, das sie empfängt, dem Schaden, den das persönliche Leben nimmt. Der größte Tölpel rüstet sich zum Kampf, zum Widerstand bis zum Tod, wenn ihm solches geboten wird. So kann er nicht leben. Mit lauter Stimme ruft ihm die eigene Seele, mit stillem Winken sagt ihm das Weltall: Es darf nicht sein. Er muss sich rächen, sich selbst wiederherstellen, - dass jedem das Seine werde, alles fest auf eigner Grundlage stehe und die Ordnung wiederkehre. Hierin liegt etwas unendlicher Achtung Wertes, und wir dürfen sagen, allgemein Geachtetes; es ist der Stempel der Männlichkeit, die sich in uns allen verteidigt, die Grundlage alles dessen, das in uns von Wert und bei oberflächlichen Verschiedenheiten, in allen das gleiche ist.

Wie die ihrer Natur nach ungesunde Unordnung dem Menschen am verhasstesten ist, welchem Gesundheit und Ordnung Lebensbedingungen sind, so ist Ungerechtigkeit das schlimmste Übel, viele sagen, das einzige Übel in dieser Welt. Alle Menschen unterwerfen sich der Arbeit, den Enttäuschungen und dem Unglück, das ist ihr Los hienieden; aber in allen Herzen redet eine leise Stimme, die sich nicht durch skeptische Logik, durch Kummer, Druck und Verzweiflung unterdrücken lässt, davon, daß es nicht ihr endliches Los sei; dass wie wild, wüst und zusammenhangslos es scheinen mag, Gott es bestimme, daß es nicht ungerecht, sondern gerecht sei. Gewalt, der zu widerstehen keine Hoffnung ist, hat zweifelsohne eine beruhigende Wirkung; es genügt uns, unbeseelten Wüstenwinden und manchem anderen derartigen Verhängnis mit vollkommener Ruhe zu begegnen. Dennoch würde dauernde Ungerechtigkeit, ginge sie auch von unendlicher Macht aus, sich als den Menschen unerträglich erweisen. Wenn diese den Glauben an Gott verloren hätten, würde ihnen als einzige Zuflucht vor einem blinden Nicht-Gott der Notwendigkeit und des Mechanismus, der sie wie eine scheußliche Weltmaschine umfasste, Empörung, mit oder ohne Hoffnung, bleiben. Sie könnten wie Novalis sagt, durch gleichzeitigen, allgemeinen Selbstmord aus der Weltmaschine ausscheiden, und wenn nicht im Sieg, doch in einem nicht zu dämpfenden, unbezwinglichen Widerspruch gegen eine solche Maschine enden.

Aus: Thomas Carlyle: Arbeiten und nicht verzweifeln. Auszüge aus seinen Werken. Deutsch von Maria Kühn und U. Kretzschmar, Karl Robert Langwiesche Verlag. Königstein i.T. und Leipzig. S.61ff.

Zukunft der Religion
Schön ist es, zu verstehen und zu wissen, dass ein Gedanke noch niemals gestorben ist, dass ebenso wie Du, der Urheber desselben, ihn aus der ganzen Vergangenheit geschöpft und geschaffen hast, Du ihn auch ebenso der ganzen Zukunft überliefern wirst. Auf diese Weise fühlt und sieht das heroische Herz, das sehende Auge der ersten Zeiten noch in uns, die wir den letzten angehören. So wird der Weise fortwährend durch eine Wolke von Zeugen und Brüdern umgeben und geistig umarmt, und es gibt eine lebendige, buchstäbliche Gemeinde der Heiligen, soweit als die Welt selbst und als die Geschichte der Welt. [...]

Der erste Mensch, welcher mit geöffneter Seele diesen erhabenen Himmel und die Erde, dieses Schöne und Furchtbare, betrachtete, was wir Natur, Weltall und dergleichen nennen und dessen Wesen immerdar unnennbar bleibt, der Mensch sagen wir, der zuerst, indem er dies sah, ehrfurchtsvoll und höchst wahrscheinlich schweigend aus seine Kniee niedersank. Er hatte, von innerer Notwendigkeit getrieben, als »kühnes Original« etwas getan, wovon alle nachdenklichen Herzen sofort einsahen, daß es etwas Ausdrucksvolles und Nachahmungswertes war! Und von dieser Zeit betete man mit gebeugtem Knie. Dieses stumme Gebet ist älter als alle gesprochenen Gebete, Litaneien oder Liturgien, der Beginn aller Anbetung, die nur eines Beginnes bedurfte, so vernünftig war sie. Welch ein Dichter war dieser erste Anbetende!

Sei guten Mutes! Du bist nicht allein, wenn Du Glauben hast. Sprachen wir nicht von einer Gemeinde der Heiligen, die unsichtbar, aber wirklich vorhanden ist und Dich begleitet und brüderlich umarmt, sofern Du ihrer würdig bist? Ihre heroischen Leiden steigen aus allen Ländern und aus allen Zeiten wie ein heiliges Miserere und ihre heldenmütigen Taten wie ein grenzenloser, ewiger Triumphpsalm melodisch zum Himmel auf. Auch sage nicht, daß Du jetzt kein Symbol des Göttlichen habest. Ist nicht Gottes Universum ein Symbol des Göttlichen? Ist nicht die Unermeßlichkeit ein Tempel? Ist nicht die Geschichte des Menschen und der Menschheit ein immerwährendes Evangelium? Horche nur und statt der Orgel wirst Du wie in alten Zeiten die Morgensterne singen hören. [...]

»Die Zeit wird kommen,« sagt Lichtenberg mit bitterer Ironie, »wo der Glaube an Gott sein wird, wie der Glaube an Ammenmärchen,« oder wie Jean Paul sich ausdrückt, wo man »aus der Welt eine Weltmaschine, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, und aus dem Jenseits einen Sarg« machen wird. Wir aber glauben, dass ein solcher Tag nicht kommen wird. Auf alle Fälle gestatte man, während die Schlacht noch wogt und diese Sarg- und Gasphilosophie sich noch mit Zehnten und peinlichen Statuten gewappnet hat, dem Mystizismus oder was sich sonst auf ehrliche und redliche Weise dieser Philosophie widersetzt, freien Spielraum. Unparteilichkeit und freie Bahn und das Recht wird den Sieg behaupten.

Wenn unser Zeitalter das Zeitalter des Unglaubens ist, warum sollen wir deshalb murren? Wird nicht eine besseres kommen? Ja, ist es nicht schon da? Wie in langgezogener Systole und in langgezogener Diastole muß die Periode des Glaubens mit der Periode des Leugnens abwechseln, muss das Frühlingswachstum, die Sommerüppigkeit aller Meinungen und Schöpfungen von dem Tode des Herbstes und der Auflösung des Winters begleitet sein und wiederum auf diese folgen. Der Mensch lebt in der Zeit; sein ganzes irdisches Sein, Streben und Schicksal wird für ihn durch die Zeit geformt und nur in dem vorübergehenden Zeitsymbole offenbart sich die stets regungslose Ewigkeit, auf der wir stehen. Und dennoch ist es in solchen Winterzeiten des Leugnens für die mit edlerem Sinne Begabten vielleicht ein verhältnismäßiges Elend, geboren worden zu sein, wach zu sein und zu arbeiten, und für die Stumpfsinnigeren ein Glück, wenn sie gleich im Winterschlafe liegenden Tieren sicher wohnend in irgend einer Universität Salamanca oder einer Sybaritenstadt oder in einem andern abergläubischen oder wollüstigen Schlosse der Trägheit dumpf träumend schlafen zu können und erst erwachen, wenn die laut donnernden Hagelstürme ihr Werk verrichtet haben und unserm Gebet und Märtyrertum der neue Frühling endlich gewährt ist.

Dass mit dem Aberglauben auch die Religion hinwegschwinde, scheint uns eine noch unbegründetere Furcht zu sein. Die Religion kann nicht vergehen. Ein kleines qualmiges Strohfeuer kann die Sterne des Himmels unsichtbar machen, aber die Sterne sind nichtsdestoweniger da und werden wieder zum Vorschein kommen.

Im ganzen genommen müssen wir den bekannten Ausspruch wiederholen, dass es einen religiösen Menschen unwürdig ist, einen irreligiösen mit Schrecken oder Abscheu oder mit irgend einem andern Gefühl als Bedauern, Hoffnung und brüderlicher Teilnahme zu betrachten. Wenn er die Wahrheit sucht, ist er nicht unser Bruder und zu bemitleiden? Und wenn er die Wahrheit nicht sucht, ist er dann nicht immer noch unser Bruder und noch mehr zu bemitleiden?

Können wir nicht all dieses entsetzliche Elend, von welchem wir uns jetzt umringt sehen, als eine Stimme aus dem stummen Schoße der Natur betrachten, welche zu uns sagt: »Sehet! Angebot und Nachfrage ist nicht das einzige Naturgesetz; Barzahlung ist nicht die einzige Verpflichtung der Menschen gegeneinander. Tief, weit tiefer als Angebot und Nachfrage liegen Gesetze und Verbindlichkeiten, so heilig wie das Menschenleben selbst. Auch diese werdet ihr, wenn ihr fortfahrt zu wirken, kennen und ihnen gehorchen lernen. Wer sie kennen und ihnen gehorchen lernt, wird die Natur auf seiner Seite haben. Er wird arbeiten und hoher Lohn wird sein Teil sein. Wer sie dagegen nicht kennen lernt, der hat die Natur gegen sich und er wird nicht imstande sein, im Bereiche der Natur zu wirken, Empörung, Streit, Hass, Vereinsamung und Verwünschung werden fortwährend seinen Tritten folgen, bis alle Menschen erkennen, dass das, was er erreicht, wie golden es auch aussehen mag, doch nicht Erfolg, sondern Mangel an Erfolg ist.

Mittlerweile wollen wir uns freuen, dass man wenigstens so viel erkannt hat, dass in allen Sprachen, wenn auch nur halb artikuliert, das hohe Evangelium gepredigt zu werden beginnt: Der Mensch ist noch Mensch. Der Genius des Mechanismus wird nicht immer wie ein drückender Alp auf unserer Seele sitzen, sondern endlich, wenn durch ein neues magisches Wort der alte Zauber gebrochen ist, unser Sklave werden und als vertrauter Geist alles tun, was wir ihm heißen. »Wir sind dem Erwachen nahe, wenn wir träumen.« Wer Auge und Herz besitzt, kann selbst jetzt sagen: Warum sollte ich schwanken? Das Licht ist in die Welt gekommen, für die, welche das Licht lieben, so wie das Licht geliebt werden muss, mit einer grenzenlosen, aufopfernden, alles duldenden Liebe.

Lasset die Menschen wissen, dass sie Menschen sind, von Gott geschaffen, Gott verantwortlich und die in dem geringsten Augenblicke der Zeit wirken, was in alle Ewigkeit dauert. Es ist in der Tat eine große Aufgabe. Nicht Pflüg- und Hämmermaschinen, nicht Verdauungsmaschinen, um das Produkt jener ersten zu verdauen, auch nicht geborene Sklaven, weder ihrer Mitmenschen noch ihrer eigenen Gelüste, sollen sie sein, sondern vor allen Dingen Menschen.
Ein weiter und weitester »Umriß« sollte eigentlich in jeder Beziehung uns klar sein, nämlich der, daß ein »Glanz Gottes« in einer oder der andern Form sich aus dem Herzen auch diese auch dieses unseres industriellen Zeitalters entwickeln muß.

Ja, hier wie dort kommt Licht in die Welt. Die Menschen lieben nicht die Finsternis, sondern sie lieben das Licht. Ein tiefes Gefühl der ewigen Natur, der Gerechtigkeit, schaut überall unter uns heraus.

Der Mensch ist nämlich von jeher ein kämpfendes, sich mühendes und trotz der weitverbreiteten Verleumdungen zum Gegenteile ein wahrheitsliebendes Geschöpf gewesen.

Alle Menschenseelen, seien sie auch noch so sehr in Finsternis versunken, lieben das Licht; ist das Licht einmal entzündet, so breitet es sich nach allen Seiten aus. [...]

Die Menschen empören sich selten oder vielmehr niemals auf die Dauer oder mit Überlegung gegen etwas, was nicht verdient, daß man sich dagegen empöre. Bereitwillig und eifrig ist der Gehorsam und die Hingebung, welche sie den Großen, den wirklich Hohen beweisen, indem sie sich mit allem, was sie haben und sind, mit Körper, Herzen, Seele und Geist unter die Füße dessen werfen, was wirklich und wahrhaft über ihnen ist.

Ein Land, dessen ganzes Volk im innersten Herzen von einer unendlichen religiösen Idee ergriffen und erfüllt ist oder dies auch nur einmal gewesen ist, hat einen Schritt getan, den es nicht wieder zurücktun kann. Der Gedanke, das Bewußtsein, das Gefühl, daß der Mensch Bürger eines Weltalls, Geschöpf einer Ewigkeit ist, hat die fernste Hütte, das einfachste Herz durchdrungen. Schön und ehrfurchtgebietend überschattet das Gefühl eines himmlischen Berufes, einer von Gott auferlegten Pflicht, das ganze Leben. Es lebt Begeisterung in einem solchen Volke und man kann in engerem Sinne sagen: Die Begeisterung des Allmächtigen gibt diesen Menschen Verstand.


Es ist eine der tröstlichen Wahrheiten, dass große Männer in Menge vorhanden sind, obschon in unbekanntem Zustande. Ja, unsere größesten sind, da sie von Natur auch unsere ruhigsten sind, vielleicht die, welche unbekannt bleiben. Der Philosoph Fichte tröstete sich mit diesem Glauben, als er von allen Kanzeln und Kathedern nichts hören konnte, als das unendliche Geschwätz und Gezwitscher ehrgeizig gewordener Gemeinplätze; als durch die unendliche nach allen Seiten zerfahrende Bewegung und durch das Getöse, welches Schweigen hätte sein sollen, alles zu einem wie vom Sturme erregten Schaume geschlagen zu sein schien und der ernste Fichte fast wünschte, dass man die Kenntnis besteuern möchte, um sie ein wenig zu beschwichtigen; - er tröstete sich, sagen wir, mit dem unerschütterlichen Glauben, dass das Denken in Deutschland noch existiere, dass denkende Menschen, ein jeder in seinem Winkel, wahrhaftig ihr Werk verrichten, obschon auf schweigende, verborgene Weise.


Ein großer Fortschritt liegt nach unserer Meinung unter den gegenwärtigen Umständen in der klaren Überzeugung, daß wir im Fortschritt begriffen sind. Von dem erhabenen Walten der Vorsehung und ihren endlichen Absichten mit uns können wir nichts oder beinahe nichts wissen; der Mensch beginnt in Finsternis und endet in Finsternis; Geheimnis ist überall um uns und in uns, unter unseren Füßen, zwischen unseren Händen. Trotzdem ist jedem so viel klar geworden, dass diese wunderbare Menschheit nach irgend einer Richtung vorschreitet, dass wenigstens alle menschlichen Dinge in Bewegung und Veränderung sind, gewesen sind und stets sein werden, wie denn in der Tat Wesen, welche in der Zeit und kraft der Zeit existieren und aus der Zeit geschaffen sind, dies schon längst hätten verstehen können. [...]

Du bedurftest keine »neue Religion«, auch ist es nicht wahrscheinlich, dass Du eine bekommen werdest. Du besitzest schon mehr »Religion«, als Du anwendest. Heute kennst Du zehn anbefohlene Pflichten, siehst in Deinem Geiste zehn Dinge, die getan werden sollten, für eins, welches Du tust. Tue doch eins davon; dies wird Dir von selbst zehn andere zeigen, die getan werden können und sollen. »Aber mein künftiges Schicksal?« Ah so, Dein künftiges Schicksal! Dein künftiges Schicksal scheint mir, während Du es zur Hauptfrage machst – im höchsten Grade fraglich! Ich glaube nicht, dass es gut sein kann. Lehrte uns nicht der Nordländer Odin vor undenklichen Jahrhunderten in der Morgendämmerung der Zeiten, obschon er ein armer Heide war, dass es für den Feigling kein gutes Schicksal gebe und geben könne, keinen Hafen irgendwo, außer unten bei Hela, in dem Pfuhle der Nacht. Feiglinge und Buben sind aber die, welche nach Vergnügen gelüstet, die vor dem Schmerz zittern. Für diese Welt und für die nächste sind Feiglinge eine Klasse von Geschöpfen, die geschaffen sind, um »festgenommen« zu werden. Sie taugen zu nichts anderem, sie können nichts anders erwarten. Ein Größerer als Odin ist hier gewesen. Ein Größerer als Odin hat uns gelehrt – nicht größere Feigheit hoffe ich. Mein Bruder, Du musst um eine Seele beten; mit einer Energie wie auf Leben und Tod kämpfen, Deine Seele wieder zu gewinnen! Wisse, dass »Religion« keine Pille von außen ist, sondern ein Wiedererwecken Deines eigenen Ich von innen, - und vor allen Dingen verschone mich mit Deinen »Religionen« und »neuen Religionen« hier und anderwärts.

Sehr wahr ist, was ein weiser Mann uns lehrt, daß »Zweifel irgend einer Art nicht anders entfernt werden kann, als durch Handeln«. Aus diesem Grunde möge der, welcher mühsam im Finstern oder in unsicherem Lichte tastet und inbrünstig betet, daß die Dämmerung zum Tage reifen möge, diese anderweite Vorschrift zu Herzen nehmen, welche für mich von unschätzbarem Werte war: Tue die Pflicht, welche Dir am nächsten liegt, von welcher Du weißt, dass sie Deine Pflicht ist! Deine zweite Pflicht wird dann schon viel klarer geworden sein.

O Bruder, wir müssen womöglich Seele und Gewissen in uns erwecken, unsere Dilettantismen mit redlichen Bestrebungen und unsere toten steinernen Herzen mit lebendigen Herzen von Fleisch vertauschen. Dann werden wir nicht ein Ding erkennen, sondern in klarer oder dunklerer Reihenfolge eine ganz endlose Schar von Dingen, die getan werden können. Tue das erste von diesen, tue es, und das zweite wird schon klarer und tunlicher geworden sein; das zweite, dritte und dreitausendste wird dann angefangen haben, für uns möglich zu sein.

Frömmigkeit gegen Gott, der Edelsinn, welcher eine menschliche Seele dafür begeistert, himmelan zu streben, kann durch keine auserlesensten Katechismen, durch kein noch so emsiges Predigen und Drillen »gelehrt« werden. Ach nein. Nur durch ganz andere Methoden - hauptsächlich durch stilles, beständiges Beispiel, stilles Abwarten der günstigen Stimmung und des rechten Moments und dann gefördert durch eine Art Wunder, wohl richtiger »Gottes Gnade« genannt, kann jene heilige Ansteckung von Seele zu Seele übergehen. Wie unendlich eindringlicher als ganze Bibliotheken orthodoxer Theologie ist nicht zuweilen die stumme Tat, der unbewusste Blick eines Vaters, einer Mutter, welche »Gottesfurcht, frommen Edelsinn« besaßen. - - - - [...]

Vor allen Dingen kann jener »matte mögliche Deismus«, welcher jetzt unsern gewöhnlichen englischen Glauben bildet, nicht schnell genug aus der Welt verbannt werden. Was ist wohl das eigentliche Wesen des Menschen, welcher mit krampfhafter Heftigkeit einen Gott, vielleicht ein offenbares Symbol und den Kultus Gottes theoretisch verficht und übrigens in Gedanken, Worten und Taten, mag man ihn sehen, wo man will, lebt, als ob seine Theorie eine höfliche Redensart und sein theoretischer Gott ein fernes Götzenbild wäre, mit welchem er für seinen Teil weiter nichts zu tun hat?

Du Narr! Der Ewige ist kein auf einen Raum beschränktes Bild; Gott ist nicht bloß dort, sondern hier oder nirgends, in Deinem Lebenshauche, in Deinen Gedanken und Handlungen und Du wärst weise, wenn Du darauf achtest. Wenn es keinen Gott gibt, wie der Narr in seinem Herzen gesagt hat, so lebe nur weiter mit dem äußeren Schicklichkeitsgefühl und der Lippenhuldigung, der innern Gier und Falschheit und all der hohlen, schlau besonnenen Halbheit, welche Dich dem Mammon dieser Welt empfiehlt; wenn aber ein Gott ist, sagen wir, so nimm Dich in acht! Und dennoch, in dem einen wie in dem andern Falle, was bist Du? Der Atheist wandelt auf Irrwegen und dennoch ist, wie wir sehen, ein Bruchteil Wahrheit in ihm. Er ist wahr im Vergleich mit Dir, denn Du unglücklicher Sterblicher lebst gänzlich in einer Lüge, bist gänzlich eine Lüge.

Aus: Thomas Carlyle: Arbeiten und nicht verzweifeln. Auszüge aus seinen Werken. Deutsch von Maria Kühn und U. Kretzschmar, Karl Robert Langwiesche Verlag. Königstein i.T. und Leipzig. S.84ff., 140f.

Hunger
Ihr müsst gestehn, daß die Arbeiterschaft dieser reichen englischen Nation in einen Zustand gesunken oder in schnellem Sinken begriffen ist, wie er buchstäblich, von welcher Seite man ihn auch betrachten mag, nie ähnlich vorgekommen ist. In den Schwurgerichtsverhandlungen zu Stockport — (auch dies Faktum steht nicht in Beziehung zur gegenwärtigen Handelsstockung, welche jüngern Datums ist) — wurde ein Elternpaar angeklagt und für schuldig befunden, drei seiner Kinder vergiftet zu haben, um eine Begräbniskasse um 3 £, 8 sh., fällig beim Tode jedes Kindes, zu betrügen. Die Schuld ist erwiesen und die obrigkeitlichen Personen deuten, wie man hört, an, dass der Fall wohl nicht vereinzelt dastehen dürfte und dass es vielleicht besser sein würde, diesen Dingen nicht zu sehr auf den Grund gehen zu wollen.

Auf britischem Boden haben menschliche Eltern, Europäer und Christen, eine solche Tat vollbringen können; sie sind dazu getrieben worden durch ihre Not. Solche Geschehnisse sind wie hohe Berggipfel, die plötzlich vor dem Blick des Beschauers auftauchen, während unter ihnen noch ganze Berglandschaften verschleiert daliegen. Menschliche Eltern haben zueinander gesagt: »Was sollen wir tun, um dem Hungertode zu entgehn? Wir sind hier in tiefster Vereinsamung und jede Hilfe ist weit.« Ach, es geschehn furchtbare Dinge in solchen Ugolinotürmen; das Lieblingskind, der kleine Gaddo (Dante, Inferno c.33, v.67), sinkt tot zusammen auf seines Vaters Schoß! — Jene Eltern in Stockport mögen wohl gegrübelt und unter sich geflüstert haben: »Unser armer kleiner Hungerleider Tom, der den ganzen Tag nach Nahrung schreit und der es in dieser Welt nur jämmerlich und nie gut haben wird, wäre es für den nicht besser, er wäre tot und all das Elend los — und vielleicht bleiben wir dann leben?« Zuerst denkt man daran, dann flüstert man davon, endlich geschieht es. Und wenn nun Tom getötet und sein Erlös verbraucht und verzehrt ist, soll nunmehr der kleine Hungerleider Jack oder lieber erst Willi an die Reihe kommen? Was für ein entsetzlicher Finanzausschuss!


Von ausgehungerten, belagerten Städten, vom alten Jerusalem, unter Gottes Zorn zerstört, wurde geweissagt:
»Es haben die barmherzigsten Weiber ihre Kinder selbst kochen müssen« (Kgl. 4.10). Denn keinen schwärzern Abgrund des Elends konnte selbst die düstere jüdische Phantasie ersinnen; es war das Äußerste und Letzte des geschlagenen, vom Zorne Gottes verfolgten Menschen. Und diese Grenze sollten wir jetzt erreichen?

Die Unruhen in Manchester
Blusterowsky, Colacorde (Pseudonyme) und andre prophetische Redakteure der demokratischen Bewegung auf dem Festland haben in ihren Leitartikeln eine starke Tendenz gezeigt, die Unruhen von Manchester zu schmähen, da sich bei den Aufrührern ein äußerstes Widerstreben gezeigt habe, zu Schlägen überzugehen.

Eine Million hungriger Arbeiter, sagt Blusterowsky, erhoben sich, kamen heraus auf die Straßen und —standen da. Was sonst sollten sie tun? Ihre Unbilden und Beschwerden waren bitter, unerträglich, ihre Wut darüber war gerecht: aber wer sind sie, die diese Unbilden verursacht haben und die sich redlich bemühen wollen, ihnen abzuhelfen? Wer oder was unsre Feinde, wer unsre Freunde sind, wir wissen es nicht. Wie sollen wir also irgend jemand angreifen? auf wen sollen wir schießen? wer soll wieder auf uns schießen? Zeigt einem Menschen das göttliche Antlitz der Gerechtigkeit und dann das teuflische Untier, das es verdunkelt; er wird das Untier, so schrecklich es auch sei, an der Kehle packen, ohne sieh viel nötigen zu lassen. Durch Kartätschenkugeln mag man Straßen rein fegen und Tausende von Menschen in Atome zersprengen: aber wenn dieser Hagel die göttliche Gerechtigkeit nur verdunkelt, das Gotteslicht selbst durch den Kartätschenhagel noch durchbricht, dann, ja dann ist die Zeit des Kampfes, des Angriffs gekommen. Hört, das Feuer des ganzen Artillerieparks wird schwächer, vereinzelter: vor Gottes Donner verlangsamt, verendet sein armseliges Getöse; denn er beginnt selbst zu fühlen, daß er in vollster Bedeutung des Wortes rohe Gewalt ist!

Daß die Manchester-Aufrührer still auf der Straße standen ohne jeden Versuch zum Brennen und Morden, war mitten im Aufstand weise gehandelt. Mag ein Aufstand auch noch so notwendig sein, so ist er doch immer eine höchst traurige Notwendigkeit, und Regierende, die ihn erst abwarten, um sich eine Lehre daraus zu ziehen, geraten sicherlich in die verderblichsten Bahnen — und stellen sich als Abkömmlinge der Nacht, des Chaos und der blinden Feigheit, nicht der hellsichtigen Tapferkeit dar!


Wer will das Verderben, die Verluste, die Störungen jeder Art berechnen, die allein durch Peterloo bei Manchester hervorgebracht worden sind. An dreizehn wehrlose Männer und Frauen sind zusammengehauen worden — die Zahl der Toten und Verwundeten läßt sich berechnen: aber die angesammelte Wut, die seitdem offen oder versteckt in aller Herzen brennt, deren sonstiges Trachten und Streben sie seitdem mehr oder weniger verdirbt, ist von unberechenbarer Ausdehnung. »Wie sprengtet ihr unter uns, ihr namenlosen Grafschaftsmilizen mit geschwungenen Säbeln, auf prunkenden Rossen und säbeltet uns nieder mit tierischer Freude, taub und blind für all unsre Magen und Schmerzen und Schäden, aber scharfsichtig und -sinnig, wo es sich um euren eignen Vorteil handelte! Da liegen die armen bleichen, abgearbeiteten Weber und beklagen sich nicht mehr; selbst Frauen fallen durch Säbelstiche und Hiebe, und heulender Schrecken erfüllt die Luft, indessen ihr nach gelungener Attacke siegesbewußt einherreitet, — o ihr Namenlosen: gebt uns doch auch Säbel, und dann versucht es!“ Das war Peterloo. In allen Herzen, die Zeugen davon waren, ist mit Flammenschrift oder mit schwarzem Dampf, der rasch wieder in Flammen ausbrechen kann, eine furchtbare Rechnung grimmiger Rache ausgestellt; und wie solche Abrechnungen pflegen, ist sie ungerecht ausgestellt, stark übertrieben: dennoch zahlbar auf Sicht, der volle Betrag mit Zinseszins! Solche Dinge müßten wie die Pest vermieden werden. Denn der Menschen Herzen sollten nicht gegeneinander, sondern zueinander stehn, und alle sollten vereint sein gegen das Böse in der Welt. Der Menschen Seelen sollten klar blicken lernen, sie sollten nicht vergällt, verblendet und verkümmert werden durch flache, Abscheu voreinander und dergleichen. Ein Aufstand, der die Krankheit erkennen läßt und der sich dann zurückzieht, ohne eine solche Bilanz zu hinterlassen, hat den größtmöglichsten Erfolg erreicht.

Und dies haben die Arbeiter von Manchester trotz aller Dunkelheit, die sie erfüllte und umgab, erreicht. Sie stellten ihre ungeheure stumme Frage: »Was wollt ihr mit uns tun?« so deutlich, dass sie von jeder denkenden Seele in diesem Königreich gehört werden mußte. In den guten Menschen erregten sie tiefes Mitleid, in allen überhaupt aber tiefe Befürchtungen: nirgends ist dieses Gefühl durch Zerstörungslust oder Ausbrüche von Wut abgeschwächt worden, überall kann es in seiner ganzen Stärke wirken. Ganz England hat die Frage gehört; sie ist die erste praktische Verwirklichung unseres Sphinxrätsels: England muß es beantworten, oder es wird alles in allem zugrundegehen. Sogar die vierfüßigen Arbeitstiere besitzen schon alles, was die zweihändigen begehren! Wie oft soll ich euch daran erinnern? Nicht ein Pferd gibt es in England, das willig und fähig zur Arbeit ist und nicht seine Nahrung und Stallung hätte und nun glatt und zufrieden einhergeht*. Und ihr sagt: es sei unmöglich. Brüder, antworte ich, was soll aus euch werden, wenn es für euch unmöglich ist? Für uns ist es unmöglich, es für unmöglich zu halten. Das menschliche Hirn weigert sich, wenn es dieser wohlgenährten englischen Pferde ansichtig wird, an solche Unmöglichkeit für englische Menschen zu glauben.
* Dieser Gedanke der Kontrastierung des Loses der Armen und der Pferde ist von Booth, dem General der Heilsarmee, verwertet worden in seinem berühmten Programm: »Wir wollen den englischen Armen auf das Niveau der Lebenshaltung unserer Pferde heben.«

Wäre es nicht besser, wenn solch eine gemeine Welt, worin alle Arbeitspferde gut gefüttert werden und unzählige Arbeitsmenschen verhungern müssen, aufhörte? Wenn sie abgetan würde und ein für allemal den Jötuns <der Edda>, Schlammriesen, Eisriesen und chaotischen Göttern der Urzeit zurückgegeben würde? Für die uranfänglichen Tiergottheiten mag sie gut genug sein; aber die Menschen sollten darüber hinaus sein, durch ihre Gegenwart eine solche Gemeinheit zu unterstützen. Wir bitten euch, laßt in dieser Sache das Wort unmöglich aus eurem Wörterbuch verschwinden. Es ist von schrecklicher Vorbedeutung für uns alle und für euch zu allererst.

Führer der Industrie
Die Leiter der Industrie — wenn Industrie je zu leiten ist — sind die eigentlichen Führer der Welt. Wenn in ihnen kein Edelsinn steckt, wird es niemals mehr eine Aristokratie geben.

Die Liebe der Menschen kann durch bares Geld nicht erkauft werden, und ohne Liebe miteinander zu leben ertragen die Menschen nicht. Du kannst keine kämpfende Welt anführen, ohne sie in Regimenter eingereiht, sie ritterlich gemacht zu haben.

Blickt um euch. Eure Weltheere sind alle voller Meuterei, voller Verwirrung, voller Mangel, am Rande der Zerstörung und des Wahnsinns! Sie wollen für euch um sechs Groschen den Tag nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage nicht mehr weiter marschieren; sie wollen es nicht, auch brauchen sie es nicht, können es nicht. Ihr sollt sie wieder zur Ordnung zurückführen, wenigstens anfangen, sie zurückzuführen. Zur Ordnung, zur ehrlichen Unterordnung, zu edler Treue als Dank für edle Leitung. Ihre Seelen sind fast bis zur Verrücktheit getrieben, laßt eure vernünftig sein und immer vernünftiger werden. Diese Menschen werden in Zukunft nicht mehr als ein verblüffter und verblüffender Pöbel marschieren, sondern nur noch als eine feste in Regimenter eingereihte Menschenmasse mit wirklichen Hauptleuten an ihrer Spitze. Alle menschlichen Interessen, vereinigten menschlichen Bestrebungen und sozialen Erscheinungen in dieser Welt haben in einem gewissen Stadium ihrer Entwicklung der Organisation bedurft — und jetzt erfordert sie das größte der menschlichen Interessen, die Arbeit.

Weiß Gott, die Aufgabe wird schwer sein; doch nie war je eine edle Aufgabe leicht. Diese Aufgabe wird euer Leben verzehren und das eurer Söhne und Enkel; doch zu welchem Zweck, wenn nicht zu diesem wurde den Menschen das Leben gegeben? Ihr sollt aufhören, die Edlen unter euch sollen aufhören, ihre Tausendpfundskalpe zu zählen. Nein, die Skalpe selbst werden, wie ich schon sagte, auch nicht mehr lange euch gelassen werden, wenn ihr nur sie zählt. Ihr sollt gänzlich aufhören, barbarische, räuberische Chactaw-Indianer zu sein, und an Stelle davon edle Europäer des neunzehnten Jahrhunderts werden. Ihr sollt wissen, daß Mammon auch in noch so schönen Equipagen und bedientenhafter Respektabilität nicht der alleinige Gott ist, daß er für sich allein nur ein Teufel und selbst nur eine Tiergottheit ist.

Schwer? Ja, es wird sehr schwer sein.

Ihr seid sehr stark, ihr Söhne des eisigen Nordens, des weiten Ostens — die ihr ferne herkommt von den rauhen östlichen Wildnissen bis hierher durch die graue Dämmerung der Zeiten! Ihr seid Söhne des Jötunlandes, des Landes der besiegten Schwierigkeiten. Schwer? Ihr müßt diese Sache versuchen. Versucht sie nur einmal mit der Überzeugung, daß sie getan werden soll und muss.

Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp (S.196-203)
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen