Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 – 1881)
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Russischer Schriftsteller der aus einem verarmten Adelsgeschlecht und seit seiner Jugend an Epilepsie litt. Belinski erregte Dostojewskijs Interesse am atheistischen Sozialismus. Wegen Teilnahme an den Treffen des sozialistischen Petraschewski-Kreises wurde er 1849 zum Tode verurteilt und auf der Richtstätte zu vierjähriger Zwangsarbeit begnadigt, die er in Sibirien abbüßte. Erst 1859, nach Dienstjahren als Soldat, kehrte er nach Petersburg zurück. Während der in den »Aufzeichnungen aus einem Totenhause« (1861/62) dargestellten Leidensjahre kam er zu der Überzeugung, dass allein das Volk die christliche Wahrheit unverfälscht hütet, während sie den Intellektuellen durch unkritischen Anschluss an die westeuropäische Entwicklung verlorengegangen sei. Reisen nach Westeuropa (seit 1862) und ein durch drohendes Schuldgefängnis erzwungener Westeuropaaufenthalt 1867—71 bestärkten ihn darin. Er setzte sich für einen idealen patriarchalischen Zarismus und panslawistische Ideen ein. Seine Romane sind formal von Honoré de Balzac, Victor Hugo und George Sand beeinflusst. Er schildert in ihnen mit großer psychologischer Eindringlichkeit und Menschenkenntnis breit angelegte, anfangs an christlichen Denkschemen, später vorwiegend an religionsphilosophischer Problematik orientierte Auseinandersetzungen. Im »Großinquisitor« (Brüder Karamasoff) setzt er sich in origineller und tiefsinniger Weise äußerst kritisch mit dem christlichen Christusverständnis auseinander. Sowohl in den »Dämonen« als auch den »Brüdern Karamasoff« entwickelt er Vorstellungen, in denen Gott zugunsten eines gottgleichen Übermenschen vernichtet wird, die sich im wesentlichen bei Nietzsche wiederfinden, der von Dostojewski tief beeindruckt war: »Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugnis Dostojewskys von Belang — Dostojewskys, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich etwas zu lernen hatte: er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens . . .« (Götzendämmerung, 45) Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Gibt es Gott? (Die Brüder Karamasoff)
Über Nächstenliebe (Die Brüder Karamasoff)
Kann man Richter sein über seinesgleichen? (Die Brüder Karamasoff)
Über den Glauben bis ans Ende
Von der Hölle und dem höllischen Feuer — eine mystische Betrachtung
Der Mensch wird Gott sein (Die Dämonen)
Die ewige Harmonie im freien Fall der Epilepsie? (Die Dämonen)
Der Teufel. Iwan Fjodorowitschs Fiebertraum (Die Brüder Karamasoff)
Antwort auf Hiob (Die Brüder Karamasoff)
>>>Christus
Der Großinquisitor (Die Brüder Karamasoff)
Gibt es
Gott?
»Weißt du, mein Lieber, mich packt zuweilen die Wut! Denn wenn es Gott
gibt, wenn er wirklich existiert, — nun ja, natürlich, dann bin ich
schuldig und werde es verantworten müssen, aber wenn es ihn überhaupt
nicht gibt, wozu braucht man sie dann noch, diese deine Patres? Dann wär‘s
doch viel zu wenig, sie bloß zu köpfen, halten sie doch die ganze
Entwicklung auf! Wirst du‘s mir glauben, Iwan, das kränkt oft meine
besten Gefühle. Nein, du glaubst es mir nicht, ich sehe es deinen Augen
an. Du glaubst den Leuten, wenn sie sagen, daß ich ja doch nur ein Possenreißer
sei und nichts weiter. Aljoscha, glaubst du, daß ich nur ein Possenreißer
bin?«
»Ich glaube, daß Sie nicht nur ein Possenreißer sind.«
»Und ich glaube dir, daß du es glaubst und daß du aufrichtig
sprichst. Du blickst mich aufrichtig an und sprichst auch aufrichtig. Iwan aber
nicht. Iwan ist hochmütig. . . Aber trotzdem würde ich mit deinem
Kloster ein Ende machen. Diese ewige Mystik auf der ganzen russischen Erde einfach
beseitigen und ausrotten, um endgültig alle diese Esel zur Vernunft zu
bringen. Und wieviel Silber, wieviel Gold dabei in den Münzhof käme!«
»Wozu denn beseitigen?« fragte Iwan.
»Damit die Wahrheit erstrahle! — Siehst du jetzt, wozu!«
»Aber wenn diese Wahrheit erstrahlt, wird man doch Sie als ersten berauben
und danach . . . beseitigen.«
»Wieso? Ach, natürlich, weiß der Teufel, du hast recht! Ich
Esel!« Fjodor Pawlowitsch begriff sofort und schlug sich leicht mit der
Hand vor die Stirn. »Nun, dann mag also dein liebes Kloster stehenbleiben,
so lang es will, Aljoschka, wenn‘s so ist! Aber weißt du auch, Iwan, daß das alles von Gott dann wahrscheinlich unbedingt absichtlich so eingerichtet
worden ist? Iwan, sag: Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Wart: sage deine Überzeugung, sag sie im Ernst! Warum lachst du wieder?«
»Ich lache nur, weil Sie selbst vorhin eine scharfsinnige Bemerkung machten
über Ssmerdjakoffs Glauben an die zwei Einsiedler, die einen Berg vielleicht
doch versetzen könnten.«
»Ja, bin ich ihm denn jetzt ähnlich?«
»Sogar sehr.«
»Nun, schön, also bin auch ich ein Russe, also habe auch ich einen
russischen Zug! Aber auch bei dir, mein Philosoph, kann man solch einen Zug
entdecken. Willst du, soll ich? Wetten wir, daß ich dich morgen noch bei
so etwas ertappe! Aber trotzdem, sag, gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Ganz
im Ernst! Ich will es jetzt im Ernst wissen!«
»Nein, es gibt keinen Gott.«
»Aljoschka, gibt es einen Gott?«
»Es gibt einen Gott.«
»Iwan, aber gibt es Unsterblichkeit, nun, dort, irgendeine, meinetwegen
auch nur eine ganz kleine, klitzekleine?«
»Nein, auch Unsterblichkeit gibt es nicht.«
Ȇberhaupt
keine?«
»Überhaupt keine.«
»Das heißt, eine absolute Null oder doch etwas? Vielleicht ist doch
noch etwas da? Das wäre dann immer noch nicht Nichts!«
»Eine absolute Null.«
»Aljoschka, gibt es Unsterblichkeit?«
»Ja, es gibt eine Unsterblichkeit.«
»Gott und Unsterblichkeit?«
»Ja, Gott und Unsterblichkeit.«
»Hm! Wahrscheinlicher ist, daß Iwan recht hat. Herrgott, wenn man
bloß bedenkt, wieviel Glauben der Mensch hingegeben hat, wieviel Kräfte
aller Art er ganz umsonst für diese Idee vergeudet hat, und das seit wie
vielen Jahrtausenden! Wer macht sich denn dort lustig über den Menschen,
Iwan? Noch einmal, Iwan, zum letztenmal, aber jetzt endgültig: gibt es
einen Gott oder nicht? Ich frage zum letztenmal!«
»Und zum letztenmal: nein.«
»Wer macht sich denn lustig über die Menschen, Iwan?«
»Der Teufel vielleicht«, meinte Iwan Fjodorowitsch sarkastisch mit
halbem Lächeln.
»Ja, gibt es denn einen Teufel?«
»Nein, auch einen Teufel gibt es nicht.«
»Schade. Weiß der Teufel, was ich mit demjenigen machen würde,
der zuerst Gott erdacht hat! Ihn an einer Zitterpappel aufzuhängen, wäre
ja noch viel zu wenig!«
»Dann würde es überhaupt keine Kultur geben, wenn man sich nicht
Gott ausgedacht hätte.«
»Nicht geben? Ohne Gott, meinst du?«
»Ja. Und auch Ihren Kognak gäbe es dann nicht. Aber jetzt werde ich
doch die Flasche fortstellen müssen.« [...]
»Nun, sag also, womit wir beginnen sollen? Es soll geschehen, wie du befiehlst.
— Mit Gott? — Ob Gott existiert, nicht wahr?«
»Womit du willst, damit beginne, meinetwegen auch ,vom anderen Ende aus‘.
Du erklärtest doch gestern beim Vater, daß es Gott nicht gebe«,
sagte Aljoscha mit plötzlich forschendem Blick geradeaus in die Augen des
Bruders.
»Gestern bei Tisch neckte ich dich absichtlich damit — um den Alten
war es mir nicht zu tun — und ich sah es wohl, wie deine Augen aufblitzten.
Ich bin gar nicht abgeneigt, nochmals mit dir auf dieses Thema einzugehen. Ich
meine das vollkommen im Ernst. Ich möchte gern, daß wir uns nähertreten,
Aljoscha, denn ich habe keinen Freund. Ich will es einmal versuchen. Nun, stelle
dir mal vor, vielleicht erkenne auch ich Gott an«, sagte Iwan lachend.
»Das kommt dir wohl unerwartet, wie?«
»Ja, natürlich, wenn du nur jetzt nicht scherzest!«
»Scherzest! Das sagst du, weil gestern beim Staretz gesagt wurde, ich
scherzte bloß. Sieh, mein Liebling, im achtzehnten Jahrhundert lebte ein
großer Sünder, und der hat von Gott gesagt: S‘il n‘existait pas, il faudrait l‘inventer. [Wenn
es ihn nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Voltaire] Und tatsächlich
hat sich der Mensch Gott ausgedacht. Doch nicht das ist sonderbar, nicht das
wäre wunderbar, daß Gott tatsächlich existiert, wohl aber ist
wunderbar, daß solch ein Gedanke — der Gedanke von der Unentbehrlichkeit
Gottes — in den Kopf eines so wilden und bösartigen Tieres, wie es
der Mensch ist, hat kommen können: dermaßen heilig, dermaßen
rührend, dermaßen weise ist er, und dermaßen große Ehre
macht er den Menschen. Was nun mich dabei anbetrifft, so habe ich schon vor
langer Zeit beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, ob der Mensch
Gott oder Gott den Menschen geschaffen hat. Auch werde ich, versteht sich, nicht
etwa anfangen, alle zeitgenössischen Axiome der russischen Knaben durchzunehmen
— Axiome, die alle ohne Ausnahme aus europäischen Hypothesen entstanden
sind; denn was dort erst Hypothese ist, das ist bei unseren russischen Knaben
sofort Axiom, und nicht nur bei den Knaben, sondern auch bei unseren Professoren,
denn auch die russischen Professoren sind jetzt sehr häufig selbst nichts
anderes als solche kleinen russischen Knaben. Darum übergehe ich alle Hypothesen.
Worin besteht aber nun unsere Aufgabe? Nun, selbstverständlich darin, daß
ich dir so schnell wie möglich mein ganzes Wesen erkläre, das heißt,
was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube, worauf ich hoffe. Nicht wahr,
das ist es doch? Nun, und darum erkläre ich denn auch, daß ich Gott
einfach und ohne Einwand akzeptiere. Einstweilen aber gilt es noch eines zu
vermerken: wenn es einen Gott gibt, und wenn er die Erde erschaffen hat, so
hat er sie ganz gewiß nach der Geometrie des Euklid geschaffen und den
menschlichen Verstand nur mit dem Vermögen begabt, die drei Ausdehnungen
des Raumes zu begreifen. Indessen aber hat es andere Mathematiker und Philosophen
gegeben, und es gibt ihrer auch heutzutage noch welche, und sie gehören
sogar zu den bemerkenswertesten, die bezweifeln, daß das Weltall —
oder sagen wir noch umfassender —, daß alles Sein nur nach Euklids
Geometrie geschaffen sei, ja, sie erdreisten sich sogar zu denken, daß zwei parallele Linien, die doch nach Euklid nie
und nimmer und unter keiner Bedingung auf Erden zusammenlaufen können,
vielleicht doch irgendwo in der Unendlichkeit zusammenlaufen. Weißt du,
Liebling, ich sage mir nun, wenn ich nicht einmal das begreifen kann, wie soll
ich dann noch etwas von Gott begreifen können, das ist doch dann viel zu
hoch für mich. Bescheiden bekenne ich, daß ich nicht die geringsten
Fähigkeiten zur Lösung solcher Probleme besitze; ich habe nur einen
euklidischen, einen irdischen Verstand, und wie soll man daher über etwas
urteilen, was nicht von dieser Welt ist? Und auch dir, Freund Aljoscha, rate
ich, nie darüber nachzudenken, vor allem nicht über Gott: ob es ihn
gibt oder nicht gibt. Das sind Fragen, an die unser Verstand überhaupt
nicht heranreicht, da dessen Begriffsvermögen nur für das Erfassen
der drei Ausdehnungen geschaffen ist. Und so akzeptiere ich denn gern nicht
nur Gott allein, sondern ich akzeptiere auch seine
Allwissenheit und sein Ziel — das uns vollkommen
unbekannt ist — und glaube an das Gesetz und den Sinn des Lebens,
glaube auch an die ewige
Harmonie, in die wir, wie es heißt, alle eingehen werden, glaube an
das Wort, zu dem das Weltall hinstrebt, und das selbst bei Gott war und selbst
Gott ist, nun, und so weiter, und so weiter bis ins Unendliche. Worte hat man
sich doch in der Beziehung wahrlich nicht wenige ausgedacht. Aber es scheint
ja, daß auch ich bereits auf einem guten Wege bin — nicht? Nun,
so laß dir denn kurz gesagt sein, daß ich
im Endresultat diese Gotteswelt - nicht akzeptiere, und wenn ich auch
weiß, daß sie existiert, so will ich sie doch nicht gelten lassen.
Nicht Gott akzeptiere ich nicht, verstehe mich recht, sondern die von ihm geschaffene
Welt akzeptiere ich nicht und kann ich nicht akzeptieren. Ich
will mich deutlicher ausdrücken: ich bin wie ein Kind überzeugt, daß
das Leid vernarben und sich ausgleichen wird, daß die ganze beleidigende
Komik der menschlichen Widersprüche wie ein armseliges Trugbild verschwinden
wird, wie eine widerliche Erfindung des kraftarmen, nur atomgroßen euklidischen
Menschenverstandes, und daß schließlich im Weltfinale, im Moment
der ewigen Harmonie etwas dermaßen Herrliches geschehen und erscheinen
wird, daß es für alle Herzen ausreicht, zur Stillung allen Unwillens,
zur Sühne aller von Menschen begangenen Greuel, zur Sühne alles durch
sie vergossenen Blutes, daß es ausreichen wird zur Möglichkeit nicht
nur der Vergebung, sondern auch der Rechtfertigung alles dessen, was mit den
Menschen geschehen ist, — schön, schön, mag das alles geschehen
und so sein, ich aber akzeptiere das nicht und will es nicht akzeptieren! Mögen
sich sogar die Parallel-Linien treffen, und mag ich das auch selbst sehen, sehen
und sagen, daß sie sich getroffen haben, so werde ich es trotzdem nicht
annehmen. Sieh so bin ich, Aljoscha, das ist meine These. Ich habe absichtlich
unser Gespräch so begonnen, wie man es dümmer nicht gut hätte
beginnen können, aber ich habe es mit meiner Beichte beendet, denn nur
die allein wolltest du doch hören. Nicht von Gott wolltest du etwas erfahren,
sondern hören wolltest du, wovon dein Bruder, den du doch lieb hast, geistig
lebt. Und so habe ich es dir denn gesagt.« [...]
»Ich glaube, wenn es den Teufel gar nicht gibt und ihn folglich der Mensch
nur erdacht hat, so hat er ihn nach seinem eigenen Bilde geschaffen.«
»Demnach also ebenso, wie er Gott geschaffen hat.«
Iwan lachte. »Wie treffend manchmal seine Antwort ist‘, sagt Polonius
im „Hamlet“; du hast mich auf einem Widerspruch ertappt. Meinetwegen.
Es freut mich. Dann muß ja der Gott auch danach sein, wenn der Mensch
ihn sich einfach nach dem Bilde des Menschen geschaffen hat!« [...]
Aus: Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff
(S.218-220, 380-383, 388) Aus dem Russischen von E. K. Rashin. Mit einem Nachwort
von Ilma Rakusa
© 1906, 1985 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 402) Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper Verlages Gmbh, München
Über
Nächstenliebe
»Ich muß dir ein Geständnis machen«, begann Iwan. »Ich habe nie begreifen können,
wie man seine Nächsten lieben kann. Gerade die Nahestehenden kann man,
meiner Meinung nach, unmöglich lieben; lieben kann man höchstens noch
die Fernen. Ich habe einmal irgendwo von
,Iwan dem Barmherzigen‘, einem Heiligen, gelesen, daß er, als einmal
ein hungriger und durchfrorener Wanderer zu ihm kam und ihn bat, sich bei ihm
aufwärmen zu dürfen, daß er sich da zusammen mit ihm auf das
Lager gelegt habe, um ihn zu erwärmen, und ihm in seinen von einer scheußlichen
Krankheit faulenden und übelriechenden Mund zu hauchen. Ich bin überzeugt,
daß er das aus Selbstvergewaltigung getan hat, aus erlogener, anbefohlener
Liebe, auf Grund einer Kirchenbuße vielleicht, die er sich aufgehalst.
Um einen Menschen lieben zu können, muß der sich verborgen halten,
denn kaum zeigt er sein Gesicht, so ist die Liebe auch schon entschwunden.«
»Darüber hat Staretz Sossíma mehr als
einmal gesprochen«, bemerkte Aljoscha, »auch
er sagte, daß das Gesicht eines Menschen nicht selten diejenigen, welche
im Lieben noch unerfahren sind, zu lieben hindre. Aber es gibt trotzdem viel
Liebe in der Menschheit, und sogar eine der Liebe Christi fast ähnliche,
das weiß ich, Iwan ...«
»Nun, ich weiß das vorläufig noch nicht
und kann es daher auch nicht begreifen, und mit mir kann es eine unzählige
Menge Menschen gleichfalls nicht begreifen. Die Frage besteht nur darin, ob
das von den schlechten Eigenschaften der Menschen herrührt? oder ob es
nur einfach daher kommt, daß die Natur des Menschen so geschaffen ist?
Meiner Meinung nach ist Christi Liebe zu den Menschen in ihrer Art ein auf Erden
unmögliches Wunder. Freilich, er war ein Gott. Wir aber sind keine Götter.
Nehmen wir zum Beispiel an, ich könne tief leiden, aber ein anderer kann
es ja nie erfahren, bis zu welch einem Grade ich leide, denn er ist eben ein
anderer und nicht ich, und außerdem läßt sich der Mensch nur
selten herbei, einen anderen als Leidenden anzuerkennen — ganz als ob
es sich dabei um einen Rang handelte. Und warum tut er es nicht, was meinst
du? Nun, weil ich vielleicht schlecht rieche, weil ich ein dummes Gesicht habe,
oder weil ich ihm einmal auf den Fuß getreten bin. Und zudem ist zwischen
Leiden und Leiden ein Unterschied: gewöhnliches Leiden, das mich erniedrigt,
Hunger zum Beispiel, das wird mein Wohltäter noch gelten lassen, doch ein
etwas höheres Leiden, zum Beispiel für eine Idee, wird er nur in äußerst
seltenen Fällen zugestehen, denn er wird bei meinem Anblick wahrscheinlich
sofort finden, daß mein Gesicht durchaus nicht demjenigen gleicht, welches
er sich in der Phantasie von einem Menschen, der für diese oder jene Idee
leidet, gemacht hat. Und so entzieht er mir denn unverzüglich alle seine
Wohltaten, tut das aber nicht etwa, weil er ein böses Herz hat. Bettler,
namentlich ,edle‘ Bettler, sollten sich eigentlich nie zeigen und lieber
durch die Zeitungen Almosen erbitten. Abstrakt
kann man noch den Nächsten lieben und aus der Ferne zuweilen auch noch,
aus der Nähe aber fast nie. [...]
Versteht sich, in jedem Menschen verbirgt sich das Tier, — im Zorn, in der wollüstigen Erregung durch die Schreie des gefolterten
Opfers, in der sinnlosen Wut, in der Reizbarkeit der durch eigene Ausschweifung
erworbenen Krankheiten, wie Podagra, Leberleiden und so weiter. [...]
Es lebte damals zu Anfang des Jahrhunderts ein General,
ein General mit guten Beziehungen, ein steinreicher Gutsbesitzer, doch einer
von jenen Leuten — die allerdings auch damals bereits selten geworden
waren —, die, wenn sie sich aus dem Dienst zurückzogen, fest überzeugt
waren, sich das Recht über Leben und Tod ihrer Leibeigenen verdient zu
haben. Solche gab es damals. Also dieser General lebt auf seinem Gut mit etwa
zweitausend leibeigenen Seelen, lebt natürlich pompös, behandelt seine
ärmeren Gutsnachbarn wie seine Schmarotzer und Hofnarren. Seine Meute besteht
aus Hunderten von Hunden, und die Zahl der Hundewärter ist nicht viel geringer
als hundert, alle sind sie uniformiert und beritten. Und siehe, eines Tages
verletzt ein kleiner, kaum achtjähriger Junge beim Spielen den Fuß
des Lieblingsjagdhundes seiner Exzellenz. ,Warum lahmt denn plötzlich mein
Lieblingshund?‘ erkundigt sich der General. Es wird ihm berichtet, daß,
nun, so und so, dieser Knabe den Hund mit einem Stein am Fuß getroffen
habe. ,Ah, also der ist es‘, sagt der General mit einem entsprechenden
Blick auf den Knaben. ,Ergreift ihn.‘ Man ergriff ihn, nahm ihn von der
Mutter fort und steckte ihn in die Arrestkammer. Am nächsten Morgen ritt
der General mit allem Drum und Dran zur Jagd, alle Gäste um ihn herum,
Hundewärter und Piköre, Jägermeister, alle beritten und in Livree,
und die Hunde gekoppelt. Das ganze Hofgesinde war versammelt, und vorn vor allen
anderen steht die Mutter des schuldigen Knaben. Da wird der Knabe aus der Arrestkammer
gebracht. Es ist ein trüber, kalter, nebliger Herbsttag, wie geschaffen
zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden; der Kleine wird bis
auf die Haut entkleidet, er zittert, ist ganz benommen vor Angst, wagt kaum
zu atmen... ,Hetzt ihn!‘ kommandiert plötzlich der General, und ,Lauf,
lauf!‘ schreien dem Kleinen die Piköre zu, — der Knabe läuft
... ,Packt ihn!‘ brüllt der General und hetzt auf den kleinen laufenden
Knaben seine ganze wilde Hundeschar. Vor den Augen der Mutter hetzte er das
Kind zu Tode, und die Hunde zerrissen es in Stücke! ... Der General wurde,
glaub ich, unter Kuratell gestellt... Nun, was hätte man wohl anderes mit
ihm tun sollen? Erschießen? Zur Befriedigung des sittlichen Gefühls
erschießen? Sag doch, Aljoschka!«
»Ja, erschießen!« sagte Aljoscha leise, mit einem blassen,
gleichsam verzerrten Lächeln, den Blick zum Blick des Bruders erhebend.
»Bravo!« rief Iwan triumphierend, als entzücke ihn die
Antwort geradezu, »wenn selbst du es sagst, dann
muß es schon richtig sein! . . . Ach, du Asket! Da sieh doch einer, was
für ein kleiner Teufel in deinem Herzchen sitzt, Aljoschka Karamasoff!«
»Ich habe eine Albernheit gesagt, aber...«
»Das ist es ja, daß darauf ein ,aber‘ folgt!« fiel ihm Iwan lebhaft ins Wort. »Weißt
du auch, du Novize, daß die Albernheiten auf Erden nur allzu nötig
sind? Auf Albernheiten beruht die Welt, und ohne sie würde auf ihr vielleicht
überhaupt nichts geschehen. Wir wissen, was wir wissen!«
»Was weißt du?«
»Ich begreife nichts«, fuhr Iwan wie
im Fieber fort — es war, als ob er phantasiere —, »und
ich will jetzt auch nichts begreifen. Ich will bei der Tatsache bleiben. Ich
habe schon längst beschlossen, nicht begreifen zu wollen. Sobald ich etwas
begreifen will, entstelle ich ja sofort die Tatsachen, ich aber habe beschlossen,
bei der Tatsächlichkeit zu bleiben.«
»Wozu prüfst du mich so?« stieß Aljoscha schmerzhaft gereizt hervor, » — wirst
du es mir nicht endlich sagen?«
»Natürlich werde ich es dir sagen; deswegen
habe ich doch all das erzählt, um es dir sagen zu können. Teuer bist
du mir, ich will nicht verzichten auf dich, und ich werde dich nicht abtreten
deinem Sossima.«
Iwan schwieg eine Zeitlang; sein Gesicht ward auf einmal über die Maßen
traurig.
»Höre mich an: ich habe nur die kleinen Kinder
genommen, als Beispiele, damit es übersichtlicher sei. Von den übrigen
Tränen der Menschen, mit denen die Erde von ihrer Rinde bis zum Mittelpunkt
durchtränkt ist, will ich weiter kein Wort reden, ich habe das Thema absichtlich
beschränkt. Ich bin ja nur ein winziges Lebewesen, eine Wanze etwa, und
gestehe in aller Demut, daß ich durchaus nicht begreifen kann, wozu alles
so eingerichtet ist. Die Menschen tragen, wie sich erweist, selbst an allem
die Schuld: ihnen ward das Paradies gegeben, sie aber wollten Freiheit und raubten
das Feuer vom Himmel, obgleich sie wußten, daß sie dadurch unglücklich
würden. Also ist kein Grund vorhanden, sie zu bemitleiden. 0, mit meinem
armseligen, irdischen, euklidischen Verstande weiß ich nur das eine, daß
gelitten wird, daß es Schmerz gibt, Schuldige aber nicht, daß sich
bei allem eins aus dem anderen klar und einfach ergibt, daß alles fließt
und sich ausgleicht, — aber das ist ja nur euklidisches Gerede, das weiß
ich doch, und ich kann doch nicht einwilligen, danach zu leben! Was habe ich
davon, daß keine Schuldigen vorhanden sind, und daß sich alles unmittelbar
eins aus dem anderen ergibt, und daß ich das weiß! Ich brauche Vergeltung
oder ich will nicht mehr leben und vertilge mich! Und die Vergeltung nicht irgendwo
und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern noch hier auf Erden, so daß
ich sie selbst sehen kann. Ich habe geglaubt, also will ich auch mit eigenen
Augen sehen, und wenn ich zu der Stunde schon tot bin, so soll man mich auferstehen
lassen — denn es wäre doch, wenn alles ohne mich geschähe, gar
zu kränkend für mich. Will ich doch nicht dafür gelitten haben,
um mit mir, mit meinen Untaten und meinen Leiden für irgendwen die zukünftige
Harmonie zu düngen. Ich will mit meinen Augen sehen, wie das Reh arglos
neben dem Löwen ruht, und wie der Ermordete aufersteht und seinen Mörder
umarmt. Ich will dabei sein, wenn alle plötzlich erfahren, warum und wozu
alles so gewesen ist.
Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen der Erde, und ich bin gläubig. Aber da sind nun die Kinder, was soll ich mit ihnen anfangen?
Das ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Zum hundertsten Mal
sage ich dir: solche Fragen gibt es in Unmengen, ich aber habe nur die Kinder
allein genommen, denn hier ist das, was ich zu sagen habe, unwiderlegbar klar.
Höre: wenn alle leiden müssen, um damit die ewige Harmonie zu erkaufen,
so sag mir doch bitte, was das mit den kleinen Kindern zu tun hat? Es
bleibt unbegreiflich, warum auch sie leiden müssen und warum auch sie durch
Leiden die Harmonie erkaufen sollen. Warum sind auch sie zum Dünger für
irgend jemandes zukünftige Harmonie geworden? Die Solidarität der
Menschen in der Sünde begreife ich sehr wohl, ich begreife auch die Solidarität
in der Vergeltung — aber doch nicht mit kleinen Kindern Solidarität
in der Sünde! Und wenn die Wahrheit wirklich darin besteht, daß sie
mit ihren Vätern in all deren Verbrechen solidarisch sind, so ist jene
Wahrheit, versteht sich, nicht von dieser Welt und ist für mich unfaßbar.
Manch ein Spaßvogel wird vielleicht bemerken, daß es schließlich
auf dasselbe hinauskäme: das Kind werde groß und hätte dann
selbst übergenug Zeit zum Sündigen. Aber dieser kleine Knabe wurde
doch schon im achten Lebensjahr von Hunden zerrissen ... O, Aljoscha, ich will
nicht Gott lästern! Ich begreife doch, wie groß die Erschütterung
des ganzen Erdkreises sein wird, wenn alles im Himmel und unter der Erde in
einen einzigen Lobgesang zusammenklingt, wenn alles, was lebt und was gelebt
hat, ausruft: ,Gerecht bist du, o Herr, denn offenbar sind jetzt deine Wege!‘
Wenn selbst die Mutter den Peiniger, der ihren Sohn von Hunden hat zerreißen
lassen, umarmt und alle drei unter Tränen singen: ,Gerecht bist du, o Herr‘
— dann, ja dann ist der Gipfel alles Wissens und Erkennens erreicht, dann
wird alles seine Erklärung finden.
Hier aber ist nun für mich der Haken, denn gerade das ist es, was ich nicht
annehmen kann. Und daher beeile ich mich, solange ich noch auf Erden bin, meine
Vorkehrungen zu treffen. Denn sieh, Aljoscha, es ist doch möglich, daß
ich, wenn ich diesen Augenblick noch erlebe oder von den Toten auferweckt werde,
um das alles zu sehen, — daß auch ich dann beim Anblick der Mutter,
die den Peiniger ihres Sohnes umarmt, mit allen anderen zusammen ausrufe: ,Gerecht
bist du, o Herr!‘ Ich will aber nicht, daß ich dann so ausrufe.
Und darum beeile ich mich, solange es noch Zeit ist, meine Schutzwehr dagegen
zu errichten, und darum danke ich im voraus für jede höhere Harmonie.
Ist sie doch nicht einmal ein einziges Tränlein jenes gequälten Kindchens
wert, das sich mit dem Fäustchen an die kleine Brust schlug und zu seinem
,lieben Gottchen‘ betete. Sie ist es nicht wert, denn diese Kindertränlein
sind ungesühnt geblieben. Sie aber müssen gesühnt werden, sonst
gibt es keine Harmonie. Aber womit, wodurch kannst du sie sühnen, wie sie
rächen? Ist das überhaupt möglich? Was tut es schließlich,
daß sie gerächt werden? Was tue ich mit der Rache, was nützen
mir die Höllenqualen der Peiniger, was kann die Hölle hierbei wieder
gutmachen, wenn das Kindchen schon zu Tode gequält ist? Und was ist das
für eine Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen
und umarmen und will nicht, daß noch gelitten werde. Und wenn die Leiden
der Kinder zu jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist,
unbedingt hinzukommen müssen, so behaupte ich im voraus, daß die
Wahrheit diesen Preis nicht wert ist.
Ich will nicht, daß die Mutter den Peiniger ihres Sohnes umarme! Wie darf
sie es wagen, ihm zu vergeben? Wenn sie will, kann sie für sich vergeben
— mag sie ihm ihr unermeßliches Mutterleid und ihren Schmerz verzeihen;
aber die Leiden ihres von Hunden zerrissenen Kindes darf sie nicht verzeihen,
dazu hat sie kein Recht, auch dann nicht, wenn ihr Kind selbst dem Peiniger
verziehe! Wenn das aber so ist, wenn man nicht verzeihen darf, wo ist dann die
Harmonie? Gibt es in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, welches
das Recht hätte, zu verzeihen? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit
will ich sie nicht. Lieber bleibe ich bei ungesühnten Leiden. Lieber bleibe
ich rachelos bei meinem ungerächten Leid und in meinem unstillbaren Zorn, selbst wenn ich nicht im Recht wäre. Ist doch diese Harmonie gar zu
teuer eingeschätzt! Wenigstens erlaubt es mein Beutel nicht, so viel für
den Eintritt zu zahlen. Darum aber beeile ich mich, mein Eintrittsbillett zurückzugeben.
Und wenn ich nur ein ehrlicher Mensch bin, so ist es meine Pflicht, dies sobald
wie möglich zu tun. Das tue ich denn auch. Nicht
Gott ist es, den ich ablehne, Aljoscha, ich gebe
ihm nur die Eintrittskarte ergebenst zurück.«
Aus: Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff
(S.384-385, 393, 394-399)
Aus dem Russischen von E. K. Rashin. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa
© 1906, 1985 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 402)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper
Verlages Gmbh, München
Kann
man Richter sein über seinesgleichen?
Über den Glauben bis ans Ende
Denke vor allem daran, daß du niemandes Richter zu sein vermagst. Denn
es kann auf Erden niemand Richter sein über einen Verbrecher, bevor nicht
der Richter selber erkannt hat, daß er genau so ein Verbrecher ist wie
der, der vor ihm steht, und daß gerade er an dem Verbrechen des vor ihm
Stehenden vielleicht mehr als alle anderen auch die Schuld trägt. Wenn
er aber das erkannt hat, dann kann er auch Richter sein. Wie unsinnig dies auch
erscheinen mag, so ist es doch die Wahrheit. Denn wenn ich selbst gerecht wäre,
würde es vielleicht auch den Verbrecher nicht geben. Vermagst du aber das
Verbrechen des vor dir stehenden und von deinem Herzen verurteilten Verbrechers
auf dich zu nehmen, so tue das ungesäumt, nimm es auf dich und leide selber
an seiner Statt, ihn aber entlasse ohne Vorwurf. Und selbst wenn das Gesetz
dich zum Richter über ihn bestellt, so wirke doch auch dann in diesem Geiste,
denn er wird weggehen und sich selbst noch viel bitterer verurteilen als dein
Urteil es tun könnte. Sollte er aber mit deinem Kuß ungerührt
davongehen, womöglich noch lachend und spottend über dich, so lasse
dich auch dadurch nicht irremachen: es bedeutet nur, daß seine Stunde
noch nicht gekommen ist; aber sie wird noch kommen zu ihrer Zeit. Und sollte
sie für ihn auch nie kommen, so ist das doch nebensächlich: wenn nicht
er, so wird ein anderer an seiner Statt zur Erkenntnis gelangen und leiden,
sich selbst richten und schuldig sprechen, und die Wahrheit wird dann anerkannt
sein. Glaube daran, glaube unverbrüchlich daran, denn in eben diesem liegt
ja die ganze Zuversicht und der ganze Glaube der Heiligen.
Wirke unermüdlich. Wenn dir etwas noch spät abends einfällt,
schon im Einschlafen, und du dir sagst: »Ich habe nicht getan, was hätte
getan werden sollen«, so erhebe dich ungesäumt und tue es. Wenn du
ringsum von boshaften und gefühllosen Menschen umgeben bist, die nicht
auf dich hören wollen, so falle vor ihnen nieder und bitte sie um Vergebung,
denn wahrlich bist auch du schuld daran, daß sie nicht auf dich hören
wollen. Wenn es aber schon so weit ist, daß du mit den Verbitterten nicht
mehr reden kannst, so diene ihnen schweigend und in Erniedrigung, ohne jemals
die Hoffnung aufzugeben. Wenn aber alle dich verlassen, oder sogar dich mit
Gewalt hinausjagen, und du dann ganz allein dastehst, so falle zur Erde nieder
und küsse sie, netze sie mit deinen Tränen, und die Erde wird aus
deinen Tränen Frucht erstehen lassen, obschon dich niemand gesehen und
gehört hat in deiner Einsamkeit. Glaube bis ans Ende, selbst wenn es geschehen
sollte, daß alle Welt abtrünnig würde und nur du allein gläubig
bliebest; bringe auch dann dem Herrn dein Opfer dar und preise ihn, du der einzige
Übriggebliebene. Und wenn sich dann noch so einer zu dir gesellt, —
dann ist das ja schon die ganze Welt. die Welt der pulsierenden Liebe: umarmt
einander in Ergriffenheit und lobet den Herrn, denn so hat sich doch, und wäre
es auch nur in euch beiden, das Wort des Höchsten erfüllt.
Wenn du nun selbst sündigst und zu Tode betrübt bist wegen deiner
Sünden oder wegen deines einzelnen plötzlichen Sündenfalls, so
freue dich über den anderen, freue dich über den Gerechten, freue
dich, daß, wenn du auch sündigtest, er dafür
standhaft blieb und nicht der Sünde verfiel.
Wenn aber die Ruchlosigkeit der Menschen dich bis zum Zorn empört und mit
bereits unüberwindlichem Gram erfüllt, ja, dich sogar bis zum Rachedurst
an den Frevlern aufwühlt, so fürchte mehr als alles andere diese Regung;
gehe dann sofort und suche dir Qualen, als wärest du selber schuld an dieser
Ruchlosigkeit der Menschen. Nimm diese Qualen auf dich und halte sie aus, und
dein Herz wird zur Ruhe kommen und du wirst begreifen, daß du auch selber
schuldig bist, denn du hättest ja den Missetätern leuchten können,
sei es auch nur als einziger Sündenloser, und hast es nicht getan. Wenn
du aber so geleuchtet hättest, dann hättest du mit deinem Licht auch
anderen den Weg erhellt, und jener, der die Missetat beging, würde sie
bei deinem Licht vielleicht gar nicht begangen haben. Und selbst wenn du geleuchtet
hättest und dennoch sehen müßtest, daß die Menschen sich
nicht einmal bei deinem Licht retten wollen, so bleibe trotzdem fest und zweifle
nicht an der Kraft des himmlischen Lichtes; glaube daran, daß sie, wenn
sie sich jetzt nicht der Rettung zuwandten, sich später retten werden.
Oder wenn auch später nicht, so werden es doch ihre Nachkommen tun, denn
dein Licht wird nicht sterben, selbst wenn du schon gestorben sein wirst. Der
Gerechte ist sterblich und geht dahin, sein Licht jedoch bleibt. Es ist nun
einmal so, daß man sich immer erst nach dem Tode des Retters der Rettung
zuzuwenden beginnt. Das Menschengeschlecht pflegt seine Propheten nicht anzuerkennen
und sie umzubringen, aber die Menschen lieben ihre Märtyrer und verehren
die, die sie marternd umbrachten. Du aber arbeitest für das Ganze, wirkst
für das Kommende. Belohnung aber suche du nie, denn ohnehin ist dein Lohn
schon groß hier auf Erden: diese deine geistige Freude, die nur der Gerechte
erwirbt. Fürchte weder die Vornehmen noch die Mächtigen dieser Welt,
aber sei weise und immer voll Anstand. Lerne Maß halten, lerne abwarten,
übe dich darin. Wenn du in der Einsamkeit verbleibst, so bete. Gib dich
hin an die Erde, indem du niederfällst und sie küßt. Küsse
die Erde und liebe sie ohne Unterlaß und unersättlich, liebe alle,
liebe alles, suche das Entzücken und die Ekstase der Liebe. Netze die Erde
mit den Tränen deiner Freude und liebe diese deine Tränen und schäme
dich nicht dieser Überschwänglichkeit; laß sie dir teuer sein,
denn sie ist eine Gnade Gottes, ist ein großes Geschenk, und wird ja auch
nicht vielen zuteil, nur Auserwählten.
Von
der Hölle und dem höllischen Feuer — eine mystische
Betrachtung
Väter und Lehrer, ich frage mich: »Was ist Hölle?« Und
ich denke so für mich: »Hölle ist die Reuequal, daß man
schon nicht mehr lieben kann.« Einmal ward im endlosen Sein, das weder
mit Zeit noch Raum zu ermessen ist, einem gewissen geistigen Wesen mit seinem
Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit gegeben, sich zu sagen: »Ich
bin und ich liebe.« Einmal, nur einmal ward ihm ein Augenblick
tätiger, lebendiger Liebe gegönnt und zu dem Zweck das irdische Leben,
eine Zeit von abgemessener Frist, und was geschah?
Dieses begnadete Wesen verschmähte diese unschätzbare Gabe, wußte
sie gar nicht zu würdigen, es versäumte zu jeben, schaute spöttisch
drein und blieb gefühllos. Und eben dieses Wesen schaut nun, wenn es die
Erde bereits verlassen hat, auch Abrahams Schoß und redet mit Abraham,
wie es uns im Gleichnis vom reichen Mann und dem Lazarus berichtet wird; und
es erblickt auch das Paradies und kann zum Herrn emporsteigen, aber gerade das
empfindet es jetzt quälend, daß es zum Herrn eingehen soll, ohne
selber geliebt zu haben, daß es mit Liebenden in Berührung kommen
wird, deren Liebe es verschmäht hat. Denn es sieht jetzt klar und sagt
sich jetzt schon selber:
»Nun habe ich die Einsicht, aber wie sehr es mich jetzt auch danach dürstete
zu lieben, meine Liebe würde jetzt doch keine Heldentat mehr sein und auch
kein Opfer, denn mein Erdenleben ist ja bereits beendet, und Abraham wird nicht
kommen, um auch nur mit einem Tropfen lebendigen Wassers (das heißt, mit
abermaligem Geschenk des Erdenlebens, des früheren und tätigen) den
Brand des geistigen Liebesdurstes zu kühlen, der jetzt in mir flammt, nachdem
ich auf Erden zu lieben verschmäht habe: das Leben ist hin, und die Zeit
kehrt nicht wieder! Auch wenn ich jetzt froh wäre, mein Leben für
andere hingeben zu können, — nun kann ich es nicht mehr, denn es
ist ja vergangen, jenes Leben, das man der Liebe zum Opfer bringen konnte, und
nun klafft bereits ein Abgrund zwischen jenem Leben und diesem Sein.«
Man spricht von einem Höllenfeuer im Sinne eines materiellen Brennens;
ich will dieses Geheimnis nicht erforschen und verbleibe in frommer Scheu davor;
aber ich denke, daß, wenn es wirklich eine materielle Flamme geben sollte,
die Verdammten darüber wahrhaftig froh sein müßten, denn, so
meine ich, in der körperlichen Qual würden sie die viel schrecklichere
geistige Qual wenigstens auf Augenblicke vergessen. Und sie von diesem seelischen
Schmerz zu erlösen, das ist nicht möglich, da es ja keine von außen
verursachte Qual ist, sondern eine von innen brennende. Allein, selbst wenn
es möglich wäre, sie von dieser Qual zu befreien, so würden sie,
denke ich, davon immer noch bitterer unglücklich sein. Denn wenn auch die
Gerechten im Paradiese beim Anblick ihrer Qualen ihnen Erlaß der Strafe
erwirken und sie in unendlicher Liebe zu sich rufen würden, so müßten
sie doch dadurch den Schmerz in ihnen noch vergrößern, da sie in
ihnen die Flamme des Durstes nach tätiger und in Dankbarkeit hingabeseliger
Liebe, die ihnen nun nicht mehr möglich ist, nur noch stärker anfachen
würden. In der Schüchternheit meines Herzens denke ich indes, daß
wiederum die Erkenntnis dieser Unmöglichkeit ihnen schließlich doch
zur Erleichterung dienen müßte, denn indem sie die Liebe der Gerechten
erfahren im Bewußtsein, sie nicht verdient zu haben und sie nun nicht
mehr erwidern zu können, werden sie in diesem Siebfügen, in dieser
l3bung der Demut zu guter Letzt gewissermaßen doch noch eine Art Vorstellung
jener tätigen Liebe finden, die sie auf Erden verschmäht haben, und
gleichsam einen Zustand nachempfinden, der jener tätigen Liebe auf Erden
von fern ähneln könnte... Es tut mir leid, meine Brüder und Freunde,
daß ich dies nicht klarer auszudrücken vermag, nur wehe denen, die
ihr Leben auf Erden selbst vernichteten, wehe den Selbstmördern! Ich denke,
noch Unglücklichere als diese kann es schon überhaupt nicht mehr geben.
Uns wird gesagt, Sünde sei es, für sie zu Gott zu beten, und die Kirche
verstößt sie gleichsam, wenigstens offiziell. Ich aber denke im geheimen
meiner Seele, daß man auch für sie beten darf. Für Liebe wird
Christus doch wohl nicht zürnen. Gerade für diese habe ich insgeheim
mein Leben lang gebetet, das beichte ich euch jetzt, Väter und Lehrer,
und auch jetzt bete ich für sie jeden Tag.
O, auch in der Hölle gibt es solche, die stolz und grausam verbleiben,
auch ungeachtet ihres zweifellosen Wissens und der unwiderlegbaren Wahrheit
vor ihren Augen; es sind dies Unheimliche, die sich dem Satan und seinem stolzen
Geiste mit Leib und Seele auf ewig verschworen haben. Für diese ist die
Hölle schon etwas Freiwilliges und Unersättliches; die sind bereits
aus eigenem freien Willen Märtyrer. Denn sie haben sich selbst verdammt,
indem sie Gott und das Leben verdammten. Von ihrem bösen Stolz nähren
sie sich, gleichwie ein Hungernder in der Wüste sein Blut ans dem eigenen
Körper zu saugen begänne. Aber sie bleiben unersättlich bis in
alle Ewigkeit und weisen die Vergebung zurück und sie verfluchen Gott,
der sie ruft. Den lebendigen Gott vermögen sie sich nicht ohne Haß
vorzustellen und sie verlangen, daß es keinen Gott des Lebens geben, daß
Gott Sich selbst und Seine ganze Schöpfung vernichten solle. Und sie werden
brennen im Feuer ihres Zornes ewiglich, dürstend nach Tod und Nichtsein.
Aber sie werden den Tod nicht erlangen..
Aus: Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff
(S.525-531)
Aus dem Russischen von E. K. Rashin. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa
© 1906, 1985 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 402)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper
Verlages Gmbh, München
Der
Mensch wird Gott sein.
»Die vollständige Freiheit wird erst dann sein, wenn es ganz einerlei
sein wird, ob man lebt oder nicht. Das ist das Ziel für alles.«
»Das Ziel? Ja, aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen?«
»Niemand«, versetzte er in entschiedenem Ton.
»Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben liebt, so fasse ich
es auf«, bemerkte ich, »und so hat es die Natur gewollt.«
»Das ist gemein und hierin steckt der ganze Betrug!« Seine Augen
blitzten auf. »Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Angst, und der Mensch
ist unglücklich Jetzt ist alles Schmerz und Angst. jetzt liebt der Mensch
das Leben, weil er Schmerz und Angst liebt. Und so hat man‘s gemacht.
Das Leben wird einem jetzt für Angst und Schmerz gegeben, und hierin liegt
der ganze Betrug. Jetzt ist der Mensch noch nicht jener Mensch. Aber es wird
einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen. Wem es ganz
einerlei sein wird, zu leben oder nicht zu leben, der wird der neue Mensch sein.
Wer Schmerz und Angst besiegen wird, der wird selbst Gott sein. Aber jenen Gott
wird es dann nicht mehr geben.«
»Also gibt es Ihrer Meinung nach doch noch jenen Gott?«
»Er ist nicht faßbar, aber Er ist da. Im Stein ist kein Schmerz,
aber in der Angst vor dem Stein ist Schmerz. Gott ist der Schmerz der Angst
vor dem Tode. Wer
Schmerz und Angst besiegt, der wird selbst Gott sein. Dann wird ein neues Leben
sein, ein neuer Mensch, alles neu ... Dann wird man die Weltgeschichte in zwei
Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes, und von der Vernichtung
Gottes bis . .
»Bis zum Gorilla . . . ?«
».... bis zur physischen Veränderung der Erde und des Menschen. Der
Mensch wird Gott sein und wird sich physisch verändern. Und die ganze Welt
wird sich verändern, und alle Dinge werden sich verändern, und alle
Gedanken und alle Gefühle. Was meinen Sie, wird sich der
Mensch dann nicht auch physisch verändern?«
»Wenn leben oder nicht leben ganz gleich sein wird, dann werden sich alle
umbringen, und darin wird dann vielleicht die Veränderung bestehen.«
»Das ist egal. Den Betrug wird man umbringen. Ein jeder, der die wichtigste
Freiheit will, muß sich selbst zu töten wagen. Wer sich selbst zu
töten wagt, der hat das Geheimnis des Betrugs erkannt. Weiter gibt es keine
Freiheit; hierin ist alles und weiter ist nichts. Wer sich selbst zu töten
wagt, der ist Gott. Jetzt kann es jeder machen, daß Gott aufhört
zu sein, und daß nichts mehr ist. Aber noch hat das niemand auch nur einmal
getan.«
»Selbstmörder hat es doch zu Millionen gegeben.«
»Aber immer nicht deswegen, immer haben sie sich mit Angst und nicht deswegen
getötet. Nur wer sich tötet, um die Angst totzuschlagen, der wird
sofort Gott sein. S.154-155 [...]
Wenn Sie sich erschießen, so werden Sie Gott, so war es doch, wenn ich
mich nicht täusche?«
»Ja, ich werde Gott.« S.902f [...]
»Gott ist unentbehrlich und darum muß er sein.«
»Nun, schön.«
»Aber ich weiß, daß es ihn nicht gibt und nicht geben kann.«
»Das ist schon richtiger.«
»Begreifst du denn wirklich nicht, daß ein Mensch mit zwei solchen
Gedanken nicht leben bleiben kann?« S.903 [...]
»Sie wollen wohl, wie‘s scheint, damit vor mir großtun, daß
Sie sich erschießen werden?«
»Ich habe mich immer darüber gewundert, daß alle leben bleiben«,
sagte Kirilloff, ohne seine Bemerkung zu vernehmen.
»Hm! Gesetzt, das wäre eine Idee, aber...«
»Affe, du stimmst mir bei, um mich zu gewinnen. Schweig lieber, verstehen
kannst du ja doch nichts davon. Wenn es Gott nicht gibt, so bin ich Gott.«
»Sehen Sie, diesen Punkt habe ich bei Ihnen nie begreifen können:
warum sind Sie dann Gott?«
»Wenn es Gott gibt, so ist aller Wille sein, und ohne seinen Willen kann
ich dann nichts tun. Wenn es ihn aber nicht gibt, so ist aller Wille mein, und
ich bin verpflichtet, eigenmächtigen Willen zu beweisen.«
»Eigenmächtigen Willen? Aber warum denn verpflichtet?«
»Darum, weil dann aller Wille mein geworden ist. Wird denn wirklich kein
einziger auf dem ganzen Planeten es wagen, sobald er mit Gott ein Ende gemacht
und an seinen Eigenwillen zu glauben angefangen hat, — es wagen, diesen
seinen Eigenwillen zu beweisen, seine Eigenmächtigkeit gerade im umfassendsten
Punkt zu dokumentieren? Das ist so, wie wenn ein armer Mensch, dem eine Erbschaft
zugefallen ist, erschrickt und nicht wagt, zum Geldsack zu gehen. weil er sich
für nicht stark genug hält, zu besitzen. Ich wil1 meinen eigenmächtigen
Willen bezeugen. Mag ich auch der einzige sein, aber ich tue es.«
»Tun Sie‘s nur.«
»Ich bin verpflichtet, mich zu erschießen, weil der wichtigste,
erschöpfendste Punkt meines Eigenwillens ist, mich selbst zu töten.«
»Aber Sie sind doch nicht der einzige, der sich selbst tötet: es
gibt viele Selbstmörder.«
»Mit einer Ursache — ja. Aber ganz ohne alle Ursache und nur um
der Eigenmächtigkeit willen — ich allein.« [...]
»Ich bin verpflichtet, meinen Unglauben zu dokumentieren«, sprach
Kirilloff weiter, durch das Zimmer schreitend »Für mich ist nichts
höher als die Idee, daß es Gott nicht gibt. Für mich spricht
die ganze Menschheitsgeschichte. Der Mensch hat bisher nichts anderes getan,
als sich einen Gott auszudenken, um leben zu können, ohne sich selbst umzubringen.
Darin besteht die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Nur ich allein
in der ganzen Weltgeschichte habe mir zum erstenmal Gott nicht ausdenken wollen.
Mag man das ein für allemal erfahren.« [...]
»Wissen Sie, meiner Meinung nach glauben Sie womöglich noch mehr
als ein Pope.«
»An wen? An Ihn? Höre«, sagte Kirilloff, blieb stehen
und sah mit starrem, verzücktem Blick geradeaus. »Hör‘
zu und vernimm eine große Idee: Es war einmal ein Tag auf Erden, und mitten
auf der Erde standen drei Kreuze. Einer von den Gekreuzigten glaubte so, daß er zum anderen sagte: ,Heute noch wirst du mit mir im
Paradiese sein.‘ Der Tag verging, beide starben, gingen hin und
fanden weder Paradies noch Auferstehung. Das Gesagte ging nicht in Erfüllung.
Höre: Dieser Mensch war der Höchste auf der ganzen Erde, war die Verkörperung
dessen, wozu sie zu leben hatte. Der ganze Planet mit allem, was auf ihm ist,
ist ohne diesen Menschen — nichts als Wahnsinn. Es war weder vor noch
nach Ihm einer Seinesgleichen da, überhaupt niemals, daß es geradezu
zum Wunder wird. Eben darin besteht das Wunder, daß es einen ebensolchen
vorher nicht gegeben hat, noch nachher jemals geben wird. Aber wenn dem so ist,
wenn die Naturgesetze auch diesen Einmaligen nicht verschont, mit ihrem eigenen
Wunderwerk kein Erbarmen gehabt haben und auch Ihn gezwungen haben, inmitten der Lüge zu leben und für Lüge zu sterben, dann
ist folglich der ganze Planet Lüge und beruht auf Lüge und dummer
Verhöhnung. Demnach sind dann auch die Gesetze selbst des Planeten Lüge
und eines Teufels Vaudeville. Wozu also leben, antworte, wenn du ein Mensch
bist?«
»Das ist die Kehrseite. Mir scheint, es haben sich hier bei Ihnen zwei
ganz verschiedene Ursachen miteinander vermischt; das aber ist doch ein sehr
unverläßliches Symptom. Aber erlauben Sie, wie ist‘s denn,
wenn Sie nun Gott sind? Wenn die Lüge zu Ende ist und Sie es erraten haben,
daß die ganze Lüge nur daher kam, daß es den früheren
Gott gab?«
»Endlich hast du es begriffen!« rief Kirilloff begeistert aus. »Also
ist es doch zu verstehen, wenn selbst so einer wie du es begriffen hat! Siehst
du jetzt ein, daß die ganze Erlösung für alle darin liegt, daß man allen diesen Gedanken beweist, seine Richtigkeit bezeugt! Wer aber wird
das tun? Ich! Ich verstehe nicht, wie bisher ein Atheist
wissen konnte, daß es keinen Gott gibt, und sich doch nicht sofort selbst
tötete? Erkennen, daß es keinen Gott
gibt, und nicht im selben Augenblick erkennen, daß man dadurch selbst
Gott geworden ist, das ist doch ein Widersinn, sonst müßte man sich
unbedingt selbst töten. — Wenn du das erkannt hast, bist du
Kaiser und brauchst dich nicht mehr selbst zu töten. sondern lebst dann
in der allergrößten Glorie. Aber einer,
eben derjenige, der der erste ist, der das erkennt, der muß sich unbedingt
selbst töten, denn wer macht sonst den Anfang und erbringt den Beweis?
Also werde ich mich selbst unbedingt töten, um den Anfang zu machen, und
zu beweisen. Ich bin erst noch unfreiwillig Gott und bin unglücklich, denn
ich bin verpflichtet, autonomen Willen zu bezeugen. Alle sind unglücklich,
denn alle fürchten sich, die Eigenmacht ihres Willens zu bekunden. Eben
deshalb ist der Mensch bisher so unglücklich und arm gewesen, weil er sich
gefürchtet hat, seinen Willen von eigenen Gnaden im Hauptpunkt in Anspruch
zu nehmen und durchzusetzen, weil er nur so drumherum um die Hauptsache, nur
so am Rande Eigenwilligkeiten beging, wie ein unartiger Schuljunge seine Streiche
verübt. Ich bin furchtbar unglücklich, denn ich habe furchtbare Angst.
Die Angst ist der Fluch des Menschen... Aber ich werde dennoch meinen eigenmächtigen
Willen beweisen, ich bin verpflichtet, daran zu glauben, daß
ich nicht glaube. Ich werde den Anfang machen und es durchführen, ich werde
die Tür aufstoßen. Und werde erlösen. Nur dies allein wird alle
Menschen erlösen und schon in der nächsten Generation physisch umgestalten;
denn in der jetzigen physischen Gestalt vermag der Mensch, soweit ich das erwogen
habe, ohne den früheren Gott überhaupt nicht zu existieren. Drei
Jahre lang habe ich nach dem Attribut meiner Göttlichkeit gesucht und habe
gefunden: Das Attribut meiner Göttlichkeit ist mein autonomer Wille! Das
ist alles, wodurch ich im wichtigsten Punkt meine Nichtunterwürfigkeit
bezeugen kann und meine neue furchtbare Freiheit. Denn sie ist maßlos
furchtbar. Ich töte mich, um meine Nichtunterwürfigkeit zu zeigen
und meine neue furchtbare Freiheit.«
Aus: Fjodor M. Dostojewski, Die Dämonen (S.154-155,902.
903, 905-909)
Aus dem Russischen von E. K. Rashin. Mit einem Nachwort von Aleksandar Flakar
© 1906, 1985 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 403)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper
Verlages GmbH, München
Die
ewige Harmonie im freien Fall der Epilepsie?
Ja... Warten Sie mal ... kommt das bei Ihnen auch vor, Schatoff, daß Sie
manchmal Augenblicke der ewigen Harmonie erleben?«
»Wissen Sie, Kirilloff, das geht nicht so weiter! Sie müssen sich
wieder angewöhnen, in der Nacht zu schlafen.«
Jetzt erst erwachte Kirilloff, kam gleichsam zu sich, und —. merkwürdig
— mit einemmal sprach er viel richtiger, als er sonst zu sprechen pflegte,
und auch zusammenhängender; offenbar hatte er diesen Gedankengang schon
öfter zu formulieren versucht und vielleicht sogar aufgeschrieben:
»Es gibt Sekunden, es sind im ganzen nur fünf oder sechs auf einmal,
und plötzlich fühlt man die Gegenwart der ewigen
Harmonie, der vollkommen erreichten. Das ist nicht irdisch; ich rede
nicht davon, ob es himmlisch ist, sondern ich will nur sagen, daß ein
Mensch in irdischer Gestalt das nicht aushalten kann. Man muß sich physisch
verändern oder sterben. Dieses Gefühl ist klar und unbestreitbar.
Als ob man plötzlich die ganze Natur empfände, und plötzlich
sagt man:
ja, es ist richtig. Gott hat, als er die Welt schuf, am Abend jedes Schöpfungstages
gesagt: ,Ja, es ist richtig, es ist gut.‘ Das... das ist nicht ein Ergriffensein,
sondern nur. .. einfach Freude. Man hat auch nichts zu verzeihen, da es schon
nichts mehr gibt, was zu verzeihen wäre. Man kann auch nicht sagen, man
liebe, oh, — das ist etwas Höheres als Liebe! Das Furchtbarste ist,
daß es so schrecklich klar ist und eine solche Freude. Wenn das länger
als fünf Sekunden dauerte, würde die Seele es nicht aushalten und
müßte vergehen. In diesen fünf Sekunden durchlebe ich das Leben,
und ich würde für sie mein ganzes Leben hingeben, denn sie sind das
wert. Um zehn Sekunden aushalten zu können, müßte man sich physisch
verändern. Ich denke, der Mensch sollte aufhören, Kinder zu zeugen.
Wozu noch Kinder, wozu noch Entwicklung, wenn das Ziel erreicht ist? Im Evangelium
ist gesagt, daß man in der Auferstehung nicht zeugen und gebären
werde, sondern sein werde wie Engel Gottes. Ein Fingerzeig. Ihre Frau gebiert?«
»Kirilloff, kommt das oft über Sie?«
»In drei Tagen einmal, in einer Woche einmal.« »Leiden Sie
nicht an Epilepsie?«
»Nein.«
»Dann werden Sie sie noch bekommen. Sehen Sie sich vor, Kirilloff, ich
habe gehört, daß die Fallsucht gerade mit solchen Zuständen
beginne. Mir hat ein Epileptiker Wort für Wort so wie Sie den Zustand vor
dem Anfall geschildert; auch er gab fünf Sekunden als Zeitdauer an und
sagte, länger als fünf Sekunden könnte man es nicht aushalten. Erinnern Sie sich an Mohammeds Krug, der nicht Zeit hatte,
auszufließen, während der Prophet auf seinem Pferde das Paradies
umflog. Der Krug: das sind die gleichen fünf Sekunden; und das Paradies,
das erinnert doch sehr an Ihre Harmonie, und Mohammed war Epileptiker. Nehmen Sie sich in acht, Kirilloff, daß Sie nicht
die Fallsucht bekommen!«
»Die käme zu spät«, meinte Kirilloff mit einem stillen
Lächeln.
Aus: Fjodor M. Dostojewski, Die Dämonen (S.867-868)
Aus dem Russischen von E. K. Rashin. Mit einem Nachwort von Aleksandar Flakar
© 1906, 1985 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 403)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper
Verlages GmbH, München