Arouet Francois Marie Voltaire (1694 – 1778)
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Französischer Philosoph und Schriftsteller, Sohn eines Notars, der das Jesuitenkolleg Louis-le-Grand besuchte und nach Abschluss seines dortigen Studiums Zugang zu aristokratischen und freidenkerischen Kreisen fand. Voltaire ist ein leidenschaftlicher Vertreter der Aufklärung, ihrer kämpferischen Vernunftidee, ihrer Toleranz und ihrer Verbindung von konstruktiven Theorien mit praktischem Interesse an der Förderung menschlicher Wohlfahrt. Voltaire pflegte mit Friedrich dem Großen einen regen und philosophisch durchaus bemerkenswerten Briefwechsel, in dem sie ihre philosophischen Gedanken austautauschten. Frankreich nennt Das 18. Jahrhundert wird dank seiner unermüdlichen aufklärerischen Intensität auch »siècle de Voltaire« (das Jahrhundert Voltaires) genannt . Sein Grundthema ist die Relativität alles Irdischen und die Weisheit, das Unheil durch heitere Resignation zu meistern. Sein Lieblingsphilosoph ist Konfuzius. Selbst ohne eigene philosophische Konzeption, befürwortet Voltaire empirische Forschung und vertritt eine gemäßigte mechanistische Weltauffassung, die in Bezug auf den Menschen bis zur Bestreitung der Willensfreiheit geht. Den Glauben an die Existenz Gottes leitet er aus der Notwendigkeit ab, einen Ursprung der moralischen Ordnung zu wissen. |
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Inhaltsverzeichnis
Materialismus oder Gottesglaube?
Wider den Materialismus und Atheismus
Gott und die Natur Zwiegespräch zwischen dem Philosophen und der Natur
Gibt es einen »lieben« Gott? Gibt es eine Vorsehung?
Die Menschen schaffen Gott nach ihrem Bilde
Das Dasein oder Nichtdasein himmlischer und höllischer Mächte lässt sich nicht beweisen
Gibt es Zwecke in der Welt? Teleologie oder mechanistische Weltauffassung?
Was ist die Seele? Haben wir eine Seele?
Ist der menschliche Wille frei?
Der unveränderliche Charakter
Was können wir wissen?
Menschenlos im Lichte Pascalscher und Voltairescher Gedanken
Über das Gute und das Böse in der physischen und in der moralischen Welt
Über den Satz: »Alles ist gut«.
Mahomet und Konfuzius
Voltaires Anmerkungen zu Hiob
Materialismus
oder Gottesglaube?
Die Erkenntnis eines Gottes
ist uns nicht von der Natur eingeprägt. Sonst hätten
alle Menschen die gleiche Vorstellung; nun ist aber keine einzige Vorstellung
mit uns geboren. Sie kommt uns nicht zu wie die Wahrnehmungen des Lichts, der
Erde usw., die wir haben, sobald unsere Sinne und unser Verstand sich öffnen.
Ist es ein philosophischer Gedanke? Nein. Die Menschen haben das Dasein von
Göttern angenommen, ehe es Philosophen gab.
Woher stammt dann also dieser Gedanke? Aus dem Gefühl und aus der natürlichen
Logik, die sich auch in den rohesten Menschen entwickelt, wenn sie älter
werden. Man hat erstaunliche Wirkungen der Natur beobachtet, fruchtbare und
unfruchtbare Zeiten, heitere und stürmische Tage, Wohltätiges und
Plagen, und man hat einen Herrn gespürt. Man hat Häuptlinge gebraucht
zur Leitung der menschlichen Gemeinschaften, und man hat das Bedürfnis
gefühlt, Oberherren für diese neuen Oberherren anzunehmen, welche
die menschliche Schwachheit über sich gesetzt hatte, Wesen, vor deren überlegener
Gewalt auch die Menschen zittern müssten, die ihre Nebenmenschen in
den Staub treten konnten. Und die ersten Herrscher ihrerseits haben sich ebenfalls
dieser Begriffe bedient, um ihre Macht zu unterbauen. Auf
diesen Wegen gelangte jede kleine Gemeinschaft zu ihrem Gott. Diese Begriffe
waren noch ganz grob und roh; alles war ja grob und roh. Es ist durchaus natürlich,
sich seine Gedanken zu bilden, indem man von Vergleichen ausgeht. Eine Gemeinschaft,
die unter einem Häuptling stand, konnte nicht leugnen, daß die Gemeinschaft
neben ihr auch einen Richter, einen Anführer im Krieg hatte; so konnte
sie auch nicht leugnen, dass sie ebenfalls einen Gott hatte. Aber wie jeder
Völkerschaft daran gelegen sein musste, dass ihr Anführer
mehr taugte, so musste ihr daran gelegen sein zu glauben und so glaubte
sie, dass ihr Gott der mächtigere sei. Daher stammen jene alten Fabeln, die so lange im Schwange waren, dass die
Götter eines Volkes mit den Göttern eines anderen Volkes im Kampfe
liegen. So erklären sich die vielen Stellen in den hebräischen
Büchern, die auf Schritt und Tritt die Überzeugung
der Juden aufdecken, nach der ihnen feststand, dassdie
Götter ihrer Feinde existierten, dass aber der Judengott ihnen überlegen
sei.
Mittlerweile gab es Priester, Magier, Philosophen in den Großstaaten,
in denen die Fortschritte der Gesellschaft es ermöglichten, daß Menschen
da waren, die sich mit einiger Muße der Gedankenforschung hingeben konnten.
Einige von diesen bildeten ihr Denkvermögen soweit am, dass sie im
Geheimen einen einzigen, allgemeinen Gott anerkannten.
So betete man bei den alten Ägyptern zwar Osiri, Osiris oder Osireh an
— der Name bedeutet: dieses Land gehört mir; sie beteten auch noch
andere höhere Wesen an: und doch nahmen sie einen
höchsten Gott an, ein einziges Grundwesen, das sie Kneph nannten
und dessen Sinnbild eine Kugel über dem Giebel des Tempels war. Nach diesem
Vorbild bekamen die Griechen ihren Zeus, ihren Jupiter, den Herrn
der anderen Götter, die nichts anderes waren, als was die Engel bei den
Babyloniern und bei den Hebräern sind oder die Heiligen bei den
römisch-katholischen Christen. Es ist eine Frage, die heikler ist, als
man gemeinhin denkt, eine Frage, über die man noch durchaus nicht genügend
nachgedacht hat, ob mehrere an Macht gleiche Götter nebeneinander bestehen
können.
Wir haben keinerlei sachgemäßen Begriff von
der Gottheit, wir schleppen uns nur fort von Mutmaßung zu Mutmaßung
von wahrscheinlichen Ansichten zu annehmbaren Ansichten. Die Zahl der sicheren
Überzeugungen, zu denen wir gelangen, ist sehr gering. Es
gibt etwas von Ewigkeit her; denn nichts stammt von nichts. Das ist eine sichere
Wahrheit, auf die sich unser Geist verlassen kann.
Jedes Werk, das uns Mittel und Zweck aufzeigt, kündigt einen Werkmeister
an. Also offenbart uns dieses Weltall, das eine Zusammensetzung von Springfedern
und Mitteln ist, deren jedes einem Zweck entspricht, einen höchst mächtigen,
höchst verständigen Werkmeister. Das ist eine Wahrscheinlichkeit,
die der höchsten Gewißheit nahekommt. Aber ist dieser höchste
Baumeister unendlich groß? Ist er allgegenwärtig? Ist er an e i n
e m O r t? Wie sollen wir mit unserem beschränkten Verstand, mit
unseren geringen Kenntnissen diese Frage beantworten?
Meine Vernunft allein für sich vermag mir zu beweisen, daß es ein
Wesen gibt, das den Stoff dieser Welt gestaltet hat; aber meine Vernunft
hat nicht die Kraft mir zu beweisen, daß es diesen Stoff geschaffen, daß
es ihn aus dem Nichts gezogen hat. Alle Weisen des Altertums haben ohne jede
Ausnahme den Stoff für ewig gehalten und als etwas angesehen, das aus sich
selbst heraus besteht. Ohne die Hilfe einer übernatürlichen
Erleuchtung kann ich also nicht weiter kommen als zu dem Glauben, daß
der Gott dieser Welt auch ewig ist und aus sich selbst heraus besteht; Gott
und der Stoff sind da kraft natürlicher Notwendigkeit. Sollten andere
Götter, sollten andere Welten nicht auch da sein? Haben doch ganze Völker,
hochgebildete Denkergemeinschaften das Dasein von zwei
Göttern in dieser Welt angenommen, von denen der eine der Urquell des Guten,
der andere der Urquell des Bösen sein sollte. Sie haben einen endlosen
Kampf zwischen zwei gleichstarken Mächten angenommen. Gewiß
liegt es eher in der Natur der Dinge, daß es im unendlichen Raum mehrere
unabhängige Wesen gibt, die jedes in seinem Bezirk unbedingt herrschen,
als daß es in dieser Welt zwei beschränkte, kraftlose Wesen gibt,
von denen das eine nur das Gute, das andere nur das Böse hervorbringen
kann. Wenn Gott und der Stoff von Ewigkeit her da sind, wie es der Glaube des
Altertums war, so haben wir zwei notwendige Wesen; wenn es aber zwei notwendige
Wesen gibt, so kann es deren auch dreißig geben. Schon diese Zweifel allein
für sich, die auf unendlich viele weitere Gedankenmöglichkeiten hinführen,
genügen, um uns von der Schwäche unserer Fassungskraft zu überzeugen.
Wir müssen mit Cicero unsere Unwissenheit in
Betreff des Wesens der Gottheit bekennen. Nie werden wir mehr wissen, als er
wußte.
Mag uns die Schulgelehrsamkeit sagen, Gott sei negativ unendlich, aber nicht
privativ; formaliter,
aber nicht materialiter;
er sei der erste, der mittlere und der letzte Actus,
er sei überall, ohne irgendwo zu sein: hundert Seiten Erklärungsschriften
über derartige Begriffsbestimmungen können uns nicht den geringsten
Aufschluß geben. Es fehlt uns an Stufen, es fehlt uns an Stützpunkten,
um uns zu der Höhe solcher Erkenntnisse zu erheben. Wir fühlen, wir
sind in der Hand eines unsichtbaren Wesens; das
ist alles; darüber hinaus können wir keinen Schritt vordringen.
Es ist eine sinnlose Verwegenheit, wenn man erraten will, wer dieses Wesen ist,
ob es ausgedehnt ist oder nicht, ob es an einem Ort existiert oder nicht, wie
es existiert, wie es wirkt.
Wider den
Materialismus und Atheismus
»Ich bin Körper; es gibt keinen Geist«.
Das scheint mir sehr roh gedacht. Wenn ich den Befehlen meines Generals gehorche
oder wenn man den meinigen gehorcht, so sind diese unsere Willenskräfte
keine Körper, die andere in Bewegung setzen nach den Gesetzen der Bewegung,
so wenig ein Gedankengang ein Trompetenton ist. Man befiehlt mir mit dem Geist,
und ich gehorche mit dem Geist. Die kundgegebene, die vollzogene Willensmeinung
ist weder ein Würfel, noch eine Kugel, sie hat keine Gestalt, hat also
nichts mit dem Stoff zu tun. Ich darf sie also als immateriell ansehen. Ich
darf also glauben, daß es etwas gibt, das nicht Materie ist.
A: Die Materie mag ewig
sein; daraus folgt nicht, daß sie Werke schaffen kann, durch die hohe,
planvolle Gedanken durchleuchten. Dieser Stein mag ewig sein. Die Homerische
Ilias wird er nie hervorbringen können.
B: Nein, der Stein nicht,
so wenig er ein Pferd hervorbringt. Aber die Materie, die im Laufe der Zeit
sich organisiert, kann ein Pferd hervorbringen; und, wenn sie sich noch feiner
organisiert, die Ilias.
A: Ich darf nichts ohne
Beweis annehmen. Ich will Ihnen Knochen, Fleisch und Blut geben. Würden
Sie sich anheischig machen, mit diesen Ingredienzien ein Pferd hervorzubringen?
B: Nein, das übersteigt
meine Kräfte. Aber nicht die der
Natur. Es braucht Millionen von Jahrhunderten, damit die Natur, die alle möglichen
Formen durchprobiert, schließlich bei der einen anlangt, die lebende Wesen
hervorbringt.
A: Wenn die Zeit Ihres
Lebens nicht genügt, auch nur einen Pilz hervorzubringen, wird
die Lebenszeit eines anderen Menschen genügen? Was ein Jahrhundert nicht
gekonnt hat, wie sollen das viele Jahrhunderte können? Die Materie allein
für sich kann keine solche Formen geben. Niemand hat meines Wissens einen
solchen Vorgang gesehen; niemand also braucht daran zu glauben.
Es ist komisch, daß das Denken ganz vom Magen abhängt, und daß
doch die besten Mägen nicht die besten Denker sind.
Eben habe ich ein neues Buch über das Dasein Gottes
gelesen — von Herrn Bullet. Er scheint mir
mehr als recht beängstigt von dem großen Beweis
der Atheisten aus
dem Würfelbecher: wenn man die Buchstaben des Alphabets herauswürfle,
so könne der Zufall durch eine bestimmte Zahl von Würfen auch einmal
die Aneis herausschütteln. Zum ersten Wort Arma
braucht es nur 24 Würfe; damit wir
Arme virumque bekommen, nur 120 Millionen;
das ist eine Kleinigkeit; und in einer unzählbaren Zahl von Milliarden
von Jahrhunderten könnte man endlich durch eine unzählbare
Zahl von Zufällen auf seine Rechnung kommen. Es steht also eins
gegen eine unzählbare Zahl von Ziffern, daß die Welt sich selbst
bilden könnte. Also haben wir eine unzählbare Zahl von Wahrscheinlichkeiten,
daß es einen gestaltenden Gott gibt. Und Sie, meine Herren, haben höchstens
die Eins für sich.
Außerdem ist die Weltmaschine viel verwickelter als die Aeneis. Zwei Aeneiden
zusammen machen keine dritte, aber zwei belebte Geschöpfe machen ein drittes,
und dieses wieder eines seinerseits; was bei der Wette die Aussichten für
mich ganz ungeheuer vermehrt. — Nein, lieber Marquis, am
Atheismus ist nichts Gutes; er ist eine naturwissenschaftlich wie moralisch
schlechte Weltanschauung. Der gebildete Mann, der gegen Aberglauben, Fanatismus
und Verfolgungsgeist zu Felde zieht, leistet der Menschheit einen Dienst; aber
welchen Dienst leistet der, der den Atheismus verbreitet? Werden die
Leute sittlich besser, wenn sie keinen Gott anerkennen, der die Tugend befiehlt?
Die Fürsten und ihre Minister sollen nur einen solchen anerkennen, und
dazu einen, der straft und vergibt. Ohne diesen Zügel fürchte ich,
sind sie wilde Tiere, die mich nur dann nicht fressen, wenn sie ausgiebig gespeist
haben und auf ihrem Ruhebett mit ihren Mätressen behaglich verdauen; die
mich aber ganz sicher fressen, wenn sie, vom Hunger geplagt, mich in ihren Klauen
haben und die, wenn sie mich fressen, an gar nichts Böses denken. —
Der Atheismus war in Italien im 15. und 16. Jahrhundert sehr im Schwang, und
mit ihm wie viele Verbrechen am päpstlichen Hof der Alexander VI., Julius
II., Leo X.!
Die ergiebigste Quelle des Atheismus,
das sind die theologischen Streitereien.
Ein Theologe muß sich sagen:
Ich habe immer nur dummes Zeug gehört und geschwatzt in meinem Hörsaal,
also ist meine Religion lächerlich: da sie aber unbestritten noch die beste
von allen ist, so ist auch die beste nichts wert; also gibt es keinen Gott.
Ich werde ja freilich einen königlichen Beichtvater wie Le Tellier, einen
blutdürstigen verruchten Richter vom Dasein eines vergeltenden Gottes nicht
überzeugen; aber bei aufrichtigen Seelen wird mir das gelingen. Wenn
es ein Wahn ist, so gibt es keinen schöneren Wahn.
Gott und
die Natur
Zwiegespräch zwischen dem
Philosophen und der Natur
Der Philosoph: Wer bist du, Natur? Ich
lebe in dir. Seit fünfzig Jahren suche ich dich, und noch habe ich dich
nicht finden können.
Die Natur: Die alten Ägypter machten
mir denselben Vorwurf. Sie hießen mich Isis;
sie hüllten meinen Kopf in einen
großen Schleier und behaupteten, niemand könne ihn heben.
Der Philosoph: Deshalb wende ich mich ja an dich. Ich habe es wohl
vermocht, einige deiner Himmelskugeln zu messen, ihre Bahnen zu erkennen und
die Gesetze der Bewegung zu bestimmen; aber wer du bist, habe ich nicht herausgebracht.
Verhältst du dich immer wirkend oder immer untätig? Haben sich deine
Elemente von selbst geordnet so wie das Wasser sich über den Sand legt,
das Öl über das Wasser, die Luft über das Öl? Hast
du einen Geist, der all dein Wirken leitet, wie die Konzilien erleuchtet
werden, sobald sie zusammentreten, obwohl ihre einzelnen Mitglieder hie und
da Nichtskenner sind. Bitte, sage mir doch das lösende Wort für dein
Rätsel!
Die Natur: Ich bin das große All.
Mehr weiß ich nicht. Ich bin keine Mathematikerin
und doch ist alles bei mir nach mathematischen Gesetzen geordnet. Rate, wenn
du kannst, wie das alles sich gebildet hat!
Der Philosoph: Da dein großes All nichts von Mathematik versteht
und da doch die Gesetze die tiefste Geometrie verraten, so muß ganz sicher
ein ewiger Geometer da sein, der dich leitet, eine
höchste Vernunft, die über deinem Wirken waltet.
Die Natur: Du hast recht. Ich bin Wasser,
Erde, Feuer, Atmosphäre, Metall, Mineral, Stein, Pflanzenwesen, Tierwesen.
Ich fühle wohl, daß in mir eine Vernunft waltet. Du hast eine solche
und siehst sie nicht. Ebensowenig sehe ich die meine. Ich fühle diese unsichtbare
Macht; erkennen kann ich sie nicht. Warum möchtest
nun du, der du nur ein kleiner Teil von mir selbst bist, das wissen, was ich
nicht weiß?
Der Philosoph: Wir sind neugierig. Ich möchte wissen, wie es
kommt, daß du roh und unbeholfen bist in deinen Bergen, in deinen Wüsten,
in deinen Meeren und dabei doch so sinnreich und so kunstreich scheinst in deinen
Tier- und Pflanzenwesen.
Die Natur: Mein armes Kind, soll ich dir die Wahrheit sagen? Man
hat mir nämlich einen Namen gegeben, der mir nicht zukommt; man nennt mich
Natur, und ich bin doch ganz Kunst.
Der Philosoph: Dieses Wort wirft alle meine Gedanken über den
Haufen, Was? Die Natur wäre nichts als Kunst?
Die Natur: Ja gewiß. Weißt
du nicht, daß unendlich viel Kunst in diesen Meeren, in diesen Bergen
steckt, die du so roh: findest? Weißt du nicht, daß all dieses Wasser
vermöge der Schwerkraft zum Mittelpunkt der Erde hinstrebt und sich nach
unverbrüchlichen Gesetzen hebt; daß
die Berge, die die Erde bekrönen, ungeheure Sammelbecken für den ewigen
Schnee sind, der unaufhörlich diese Quellen, diese Seen, diese Flüsse
hervorbringt, ohne die mein Tierreich und mein Pflanzenreich zugrunde gehen
müßten. Und wenn man von meinem Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich
redet, so siehst du allerdings nur d r e i Reiche,
laß dir sagen, daß ich deren Millionen habe. Aber wenn du auch nur
die Bildung eines Insekts, eines Getreidehalms, des Goldes oder du Kupfers genau
betrachtest, so wird sich dir das alles Wunderwerk der Kunst enthüllen.
Der Philosoph: Das ist richtig. Je mehr ich darüber nachdenke,
um so besser sehe ich, daß du nur dl. Kunst eines gewissen unerklärlichen,
sehr mächtigen, sehr sinn- und kunstreichen großen Wesens bist, das
sich verbirgt und das sich offenbart. Alle Gedankenkünstler seit
Thales und
wahrscheinlich schon lange vor ihm, haben Blindekuh mit dir gespielt. Sie sagten:
»Ich habe dich«, und sie hatten nichts. Wir sind alle wie
Ixion: er meinte, er umarme Juno; was er genießen durfte, war nur eine
Wolke.
Die Natur: Da ich alles bin was ist, wie könnte ein Wesen,
das dir gleicht, wie könnte ein so kleiner Teil meiner selbst mich erfassen?
Lasset euch genügen, Atome, ihr meine Kinder, wenn ihr einige Atome sehet,
die euch umgeben, wenn ihr einige Tropfen meiner Milch trinken, einige Augenblicke
an meinem Busen hindämmern dürft und dann sterbet, ohne eure Mutter
und Amme kennengelernt zu haben.
Der Philosoph: Liebe Mutter, sage mir doch
einmal, warum du da bist, warum überhaupt etwas da ist!
Die Natur: Ich will dir die Antwort geben, die ich nun schon so
viele Jahrhunderte her allen denen gebe, die mich nach den ersten Grundbegriffen
aus fragen : »Das weiß ich nicht«.
Der Philosoph: Wäre das Nichts nicht
besser als diese Masse Wesen, die geschaffen werden, um sich unaufhörlich
wieder aufzulösen, diese Menge Tiere. geboren und wiedererzeugt nur um
andere zu verschlingen und selbst verschlungen zu werden, diese Menge gefühlsbegabter
Wesen, die zu so vielen schmerzlichen Gefühlen bestimmt sind; und dann
wieder diese Menge vernünftiger Wesen, die doch so selten Vernunft annehmen.
Was hat das alles für einen Sinn, Natur?
Die Natur: Geh nur hin und frage den, der
mich gemacht hat.
Gibt
es einen »lieben« Gott? Gibt es eine Vorsehung?
Ich war im Sprechzimmer, als Schwester Fessue zu
Schwester Confite sagte:
die Vorsehung sorgt sichtlich für mich; Sie wissen, wie gern ich meinen
Sperling habe; er wäre gestorben. wenn ich nicht neun Ave-Maria für
ihn gebetet hätte, um seine Heilung zu erwirken. Gott hat meinem Sperling
wieder das Leben geschenkt; danken wir der heiligen Jungfrau.
Ein Metaphysiker sagte zu ihr: Liebe Schwester,
es geht nichts über Ave-Marias, besonders wenn ein Mädchen in einer
Vorstadt von Paris sie lateinisch hersagt; aber ich glaube nicht, daß
Gott sich viel mit Ihrem Sperling befaßt, so hübsch er ist. Denken
Sie doch, bitte, daran, daß er noch anderes zu tun hat. Er muß fortwährend
den Lauf von sechzehn Planeten und vom Ring des Saturn leiten, in deren Mittelpunkt
er die Sonne gesetzt hat, die so groß ist wie eine Million unserer Erdkugeln.
Er hat Milliarden über Milliarden anderer Sonnen, Planeten und Kometen
zu lenken. Seine unwandelbaren Gesetze und seine ewige Mitwirkung halten die
ganze Natur in Bewegung. Alles hängt an seinem Thron an
einer unendlichen Kette, von der nicht ein einziges Glied je verschoben werden
kann. Wenn Ave-Marias die Kraft gehabt hätten, dem Sperling der
Schwester Fessue einen Augenblick länger das Leben zu erhalten als ihm
zu leben beschieden war, so hätten diese Ave-Maria alle
Gesetze durchbrochen, die das große Wesen von Ewigkeit her aufgestellt
hat; Sie hätten das Weltall umgestürzt; Sie hätten eine neue
Welt, einen neuen Gott, eine neue Ordnung der Dinge haben müssen.
Schwester Fessue: Was! Sie glauben, daß
Gott sich so wenig um Schwester Fessue kümmert?
Der Metaphysiker: Ich muß Ihnen
zu meinem Bedauern sagen, daß Sie gerade so wie
ich selbst nichts sind als ein unscheinbares, kleines Gelenk in der unendlichen
Kette. Ihre Glieder, wie die Ihres Sperlings und wie die meinigen, sind
dazu bestimmt, eine genau gegebene Zahl von Minuten in dieser Pariser Vorstadt
da zu sein.
Schwester Fessue: Wenn es sich so verhält,
so war es nur vorausbestimmt, eine genau gegebene Zahl von Ave-Marias zu beten.
Der Metaphysiker: Jawohl; aber Sie haben
Gott nicht dazu gezwungen, Ihrem Sperling das Leben über sein Ziel hinaus
zu verlängern. Die Einrichtung der Welt brachte es mit sich, daß
Sie in diesem Kloster zu einer bestimmten Stunde in einer gewissen Sprache,
die Sie nicht verstehen, wie ein Papagei gewisse Worte hersagten; daß
dieser Vogel. der wie Sie kraft unverbrüchlicher allgemeiner Gesetze geboren
wurde, erst krank und dann wieder gesund wurde; daß Sie sich der Einbildung
hingeben, ihn mit Worten geheilt zu haben, und daß wir jetzt miteinander
diese Unterhaltung führen.
Schwester Fessue: Mein Herr, solche Reden
schmecken nach Ketzerei. Mein Beichtvater, der hochwürdige Pater de Menou
wird daraus schließen, daß Sie nicht an die Vorsehung glauben.
Der Metaphysiker: Ich glaube an die allgemeine
Vorsehung, meine liebe Schwester, an die, aus der
von aller Ewigkeit das Gesetz herrührt, das alle Dinge regelt, wie
das Licht aus der Sonne quillt. Aber ich glaube nicht, daß eine besondere
Vorsehung Ihrem Sperling oder Ihrer Katze zuliebe die Weltordnung ändert.
Schwester Fessue: Wie aber, wenn mein Beichtvater Ihnen sagt, wie
er es mir gesagt hat, daß Gott frommen Seelen zulieb jeden Tag seinen
Willen ändert?
Der Metaphysiker: Dann sagt er mir die
blödeste Dummheit, die ein Beichtvater alter Jungfern einem denkenden Menschen
sagen kann.
Schwester Fessue: Mein Beichtvater ein
Dummkopf! Heilige Jungfrau Maria!
Der Metaphysiker: Das habe ich nicht gesagt.
Aber das sage ich: nur mit einer ungeheuren Dummheit kann er die falschen Grundsätze
rechtfertigen, die er Ihnen — vielleicht sehr schlau — beigebracht
hat, um Sie am Leitseil zu führen.
Schwester Fessue: Potz tausend Das will
ich mir merken. Darüber muß ich nachdenken.
Die Menschen schaffen
Gott nach ihrem Bilde. Das gemeine Volk denkt sich Gott wie
einen König, der mit seinem ganzen Hof großen Gerichtstag abhält.
Die zärtlichen Herzen stellen sich ihn als Vater vor, der für seine
Kinder sorgt. Der Weise schreibt ihm keine menschliche Gemütserregung zu.
Er erkennt eine notwendige ewige Macht an, die die Natur durchdringt, und er
bescheidet sich.
Das Dasein
oder Nichtdasein himmlischer und höllischer Mächte lässt sich
nicht beweisen
Das Dasein von himmlischen und höllischen Mächten, von guten
und bösen Engeln läßt sich mit Vernunftgründen nicht beweisen;
ihr Nichtdasein ebensowenig. In der Anerkennung von wohltätigen oder bösartigen
Substanzen, die dem Wesen nach weder Gott noch Mensch sind, liegt an sich kein
innerer Widerspruch. Aber um eine Sache zu glauben, dazu genügt nicht,
daß sie bloß möglich ist.
Gibt
es Zwecke in der Welt? Teleologie oder mechanistische Weltauffassung?
Wenn eine Uhr nicht verfertigt ist, um Zeit und Stunde anzuzeigen, dann will
ich gerne gestehen, daß die Zweckursachen Wahngebilde
sind; dann lasse ich mir‘s gefallen, daß man mich einen Cause-finalier
[Zweckursachenmann],
das heißt: einen Dummkopf schilt.
Und doch scheinen alle Teile der Maschine dieser Welt
füreinander bestimmt zu sein. Einige Philosophen tun sich etwas
darauf zugute, sich über die schon von Epikur und
Lukrez abgelehnten Zweckursachen
lustig zu machen. Lustig machen sollte man sich, meines Bedünkens, über
Epikur und Lukrez. Da sagen sie einem, das Auge sei nicht dazu gemacht, daß
man sehe, man habe sich seiner nur zu diesem Zweck bedient, als man merkte,
man könne die Augen dazu brauchen. Hört man sie, so ist der Mund nicht
zum Sprechen und Essen gemacht, der Magen nicht zum Verdauen, das Herz nicht
zur Aufnahme des Blutes aus den Blutadern und zu seiner Über¬leitung
in die Schlagadern, die Füße nicht zum Gehen, die Ohren nicht zum
Hören. Dieselben Leute würden ohne weiteres zugeben, daß die
Schneider ihnen Kleider machen, sie zu kleiden, die Maurer Häuser, daß
sie darin wohnen. Aber der Natur, dem großen Wesen, der Allvernunft, streiten
sie kühn ab, was sie ihren niedersten Arbeitern zugestehen.
Man darf gewiß keinen Mißbrauch mit den Zweckursachen treiben. Wir
haben bemerkt, daß der Herr Prior im »Schauspiel
der Natur« behauptet, der Ozean habe dazu seine Gezeiten, daß
die Schiffe leichter in die Häfen einlaufen können und daß das
Meerwasser nicht versumpfe. Er wird uns nicht weismachen, daß die Beine
zum Tragen von Stiefeln und die Nasen zum Tragen von Brillen geschaffen sind.
Will man sicher gehen in der Frage nach dem richtigen Zweck für das Wirken
einer Ursache, so muß man die Wirkung zu jeder Zeit und an allen Orten
beobachten können. Schiffe hat es nicht zu jeder Zeit und auf allen Meeren
gegeben; darum kann man nicht sagen, der Ozean sei der Schiffe wegen da. Man
fühlt, wie lächerlich die Behauptung ist, die Natur habe sich jederzeit
unseren willkürlichen technischen Erfindungen angepaßt, die doch
alle so spät erst aufgetaucht sind. Aber das ist klar, daß die Nasen
zwar nicht der Brillen wegen, aber des Riechens wegen da sind und daß
es Nasen gibt, seit Menschen da sind. Und so sind uns auch die Hände nicht
gegeben, um die Handschuhmacher ins Brot zu setzen, aber sie sind sichtlich
für alle die Leistungen da, zu denen uns die Mittelhand- und die Fingerknochen
und die Bewegungen des Handwurzelbandes instandsetzen. Cicero,
der an allem zweifelte, hat doch an den Zweckursachen nicht gezweifelt.
Die Tatsache besonders läßt sich kaum leugnen, daß die Zeugungsorgane
dazu da sind, daß die Gattung fortgepflanzt wird. Diese Einrichtung ist
höchst wunderbar, noch wunderbarer aber ist der Gefühlseindruck, den
die Natur mit der Wirkung dieser Einrichtung verknüpft hat. Epikur mußte
gestehen, daß die Lust etwas Göttliches
ist und daß diese Lust eine Zweckursache
ist, durch die unaufhörlich gefühlsfähige Wesen ins Leben treten,
die dieses Gefühl sich nicht selbst haben geben können. Dieser Epikur
war — für seine Zeit — ein großer Mann. Er sah, was Descartes
in Abrede stellte, was Gassendi behauptete
und Newton bewies, daß es nämlich keine
Bewegung gibt ohne leeren Raum. Er erfaßte den Gedanken, daß Atome
notwendig seien als letzte Bestandteile der unveränderlichen Gattungen:
das sind sehr philosophische Gedanken. Und vor allem, vor der Sittenlehre der
rechten Epikureer muß man die höchste Achtung haben. Sie bestand
in der Enthaltung von der Teilnahme am politischen Leben, da es sich mit der
Weisheit nicht vereinigen lasse, und in der Freundschaft. ohne die das Leben
eine lästige Bürde sei. Im übrigen aber ist die Naturwissenschaft
Epikurs ebensowenig annehmbar wie die kannelierte Materie von Descartes. Man
muß sich doch die Augen gewaltsam verschließen, wenn man behauptet,
in der Natur sei kein Plan zu sehen; ist aber ein Plan
in ihr, so hat sie auch eine vernünftige Ursache, so existiert ein Gott.
Da kommt man uns mit der Unordnung auf der Erdkugel, mit den Vulkanen, den wandernden
Sandflächen, den Bergen, die zusammengestürzt sind und anderen, die
sich neu gebildet haben durch Erdbeben. Aber wenn die Naben eurer Wagenräder
Feuer fangen, folgt daraus etwa, daß es nicht wahr ist, daß euer
Wagen eigens dazu gebaut wurde, um euch von einem Ort zum andern zu befördern?
Die Gebirgsketten, welche die beiden Halbkugeln bekrönen und mehr als sechshundert
Flüsse, die vom Fuß der Felsen zum Meer eilen, alle die Bäche,
die aus eben diesen Wasserbehältern herab diese Flüsse speisen, nachdem
sie das Land befruchtet haben, die tausend Brunnen aus denselben Quellen, die
Tiere und Pflanzen tränken, alles das ist doch wohl ebensowenig
ein Werk des Zufalls und einer Fallbewegung der Atome, als die Netzhaut,
die die Lichtstrahlen aufnimmt, die Kristalllinse, die sie bricht, der Ambos,
der Hammer, der Steigbügel, das Trommelfell des Ohrs, das die Töne
aufnimmt, die Bahnen des Bluts in unsern Adern, die Zusammenziehung und das
Erschlaffen des Herzmuskels, dieses Hebels in der Maschine, die das Leben wirkt.
Aber, heißt es nun, wenn Gott
offensichtlich etwas planmäßig gemacht hat, dann muß er alles
planmäßig gemacht haben. Es ist lächerlich, die Vorsehung
in einem Fall anzuerkennen und in den anderen Fällen zu leugnen. Was geschaffen
wurde, ist alles vorhergesehen und geordnet eingerichtet. Keine
geordnete Einrichtung ohne Zweck; keine Wirkung ohne Ursache; also ist
alles gleicherweise Ergebnis und Erzeugnis einer Zweckursache, also kann man
mit demselben Recht sagen, die Nasen seien gemacht zum Brillentragen und die
Hände zur Schmückung mit Ringen, wie man sagt, die Ohren seien gebildet
zum Vernehmen von Tönen und die Augen zur Aufnahme des Lichts. Nach meiner
Meinung aber folgt aus diesem Einwand nichts, als daß
alles nähere oder entferntere Wirkung einer allgemeinen Zweckursache ist;
daß alles die Folge allgemeiner Gesetze ist.
Nicht allerorten und nicht jederzeit dienen die Steine zu Bauten; nicht alle
Nasen tragen Brillen, nicht alle Finger tragen Ringe, nicht alle Beine sind
mit Seidenstrümpfen versehen. Ein Seidenwurm ist also nicht zur Bekleidung
unserer Beine geschaffen, so wie allerdings unser Mund zum Essen geschaffen
ist und unser Hintern, daß wir mit ihm auf den Abort gehen. Es gibt also
unmittelbare Wirkungen, die durch die Zweckursachen hervorgebracht sind, und
Wirkungen in sehr großer Zahl, die entfernte Erzeugnisse dieser Ursachen
sind.
Was mit der Natur zusammenhängt, ist gleichförmig,
ist unwandelbar, ist das unmittelbare Werk des Meisters; er hat die Gesetze
erschaffen, nach denen der Mond und die Sonne gemeinsam, jener zu drei Vierteln,
diese zu einem Viertel, die Ebbe und Flut des Meeres bewirken; er hat der Sonne
jene Drehungsbewegung verlieben, kraft der jenes Gestirn in siebeneinhalb Minuten
Lichtstrahlen aussendet in die Augen der Menschen, der Krokodile und der Katzen
Aber als wir uns nach Verlauf vieler Jahrhunderte endlich einfallen ließen,
Scheren zu erfinden und Bratspieße, die einen, um den Schafen die Wolle
abzuscheren, die andern, um sie zum Schmausen zu braten, kann man daraus etwas
anderes schließen, als daß Gott uns nun einmal so geschaffen hat,
daß wir eines Tags uns dem Gewerbfleiß und den Gewohnheiten der
Fleischfresser zuwenden mußten?
Aber sicher sind die Schafe nicht eigens zum Schmausen und Braten geschaffen
worden, da doch mehrere Völker sich dieser Abscheulichkeit enthalten. Die
Menschen sind nicht eigens dazu geschaffen, sich gegenseitig abzuschlachten
die Brahmanen und die ehrwürdigen Primitivchristen, die man Quäker
heißt, niemand umbringen. Aber der Teig, aus dem
wir geknetet sind, bringt oft Schlächtereien hervor, wie er Verleumdungen
hervorbringt und Eitelkeiten und Verfolgungen und Flegeleien. Nicht als
ob die Bildung des Menschen gerade die Zweckursache unserer Tollheiten und Dummheiten
gewesen wäre; denn eine Zweckursache ist etwas, das allgemein und unabänderlich
zu allen Zeiten und an allen Orten wirkt. Aber die Greuel
und Narrheiten der menschlichen Gattung liegen darum doch in der ewigen Naturordnung.
Wenn wir unser Getreide dreschen, ist der Dreschflegel die Zweckursache der
Aussonderung des Korns. Aber wenn dieser Dreschflegel beim Dreschen tausend
Insekten zermalmt, so ist das zwar nicht Wirkung meines ausdrücklichen
Willens, und doch auch nicht Wirkung des Zufalls; diese Insekten haben sich
eben diesmal unter meinem Dreschflegel befunden und sie mußten sich darunter
befinden.
Es ist eine Wirkung der Naturordnung, daß ein Mensch ehrgeizig ist und
daß er manchmal andere Menschen als Soldaten anwirbt, daß er siegt
oder geschlagen wird; aber nie wird man sagen dürfen: der Mensch ist von
Gott geschaffen, um im Kriege umgebracht zu werden. Die Werkzeuge, die uns die
Natur verliehen hat, können nicht immer wirkende Zweckursachen sein. Die
Augen, die zum Sehen gegeben sind, sind nicht immer offen; jeder Sinn hat seine
Ruhezeiten. Es gibt sogar Sinne, die man nie gebraucht. Eine arme einfältige
Person zum Beispiel, die man mit vierzehn Jahren in ein Kloster gesteckt hat,
schließt auf immer die Pforte, aus der ein neues Geschlecht herausgehen
sollte. Aber die Kraft dazu ist immer noch da; und sie wird wirken, sobald sie
frei ist.
Was ist
die Seele? Haben wir eine Seele?
Ich muß gestehen, nachdem ich den unfehlbaren Aristoteles,
den Doctor evangelicus, den göttlichen Plato
gelesen hatte, habe ich alle diese Beinamen als Spitznamen betrachtet. Ich sah
in allen Philosophen, die von der menschlichen
Seele redeten, nur anmaßende, geschwätzige Blinde, die einem
einreden wollen, sie haben einen Adlerblick und andere, die ihnen aufs Wort
glauben und sich einbilden, sie sehen auch etwas.
Unter diese Lehrmeister des Irrtums rechne ich ungeniert Descartes
und Malebranche ein. Der erstere versichert
uns, die Seele des Menschen sei eine Substanz, deren Wesen das Denken sei, die
immer denke und die sich schon im Mutterleib mit schönen metaphysischen
Ideen und schönen logischen Axiomen abgehe, die sie nachher wieder vergesse.
Pater Malebranche seinerseits ist fest überzeugt, daß wir alles in
Gott sehen. Und er hat Anhänger gefunden, weil gerade die kühnsten
Fabeln von der Phantastik der Menschen am willigsten hingenommen werden. So
haben verschiedene Philosophen den Roman der menschlichen Seele geschrieben.
Endlich kam ein Weiser, der bescheidentlich ihre Geschichte geschrieben hat.
Ich will einen Abriß dieser Geschichte geben, so wie ich sie erfaßt
habe. Ich weiß sehr wohl, daß nicht jedermann die Weltanschauung
Lockes teilt. Auch könnte es wohl so sein, daß
Locke recht hätte gegen die Philosophen Descartes und Malebranche und unrecht
gegen die theologische Fakultät, gegen die Sorbonne. Ich rede ja auch nur
erleuchtet vom Licht der Philosophie, nicht vom Licht der Offenbarung des Glaubens.
Mir kommt es nur zu, nach Menschenart zu denken; die Theologen entscheiden göttlich;
das ist etwas ganz anderes. Vernunft und Glauben sind
ganz verschiedener Wesensart. Kurz gesagt: diesen kleinen Auszug aus
Locke würde ich mit der Zensur belegen, wenn ich Theologe wäre; ich
nehme ihn ja auch nur einen Augenblick als Hypothese an, als einfache philosophische
Mutmaßung, menschlich geredet. Es handelt sich also darum, was die Seele
ist.
1. Das Wort Seele gehört zu den Worten, die jedermann
braucht, ohne sie zu verstehen. Wir verstehen nur die Dinge, von denen wir eine
Vorstellung haben. Von der Seele, vom Geist haben wir keine Vorstellung; also
verstehen wir sie nicht.
2. Nun hat es uns beliebt, Seele jene Fähigkeit des Fühlens und Denkens
zu nennen, wie wir die Fähigkeit zu leben Leben und die Fähigkeit
zu wollen Willen nennen.
Nun sind Vernunftkünstler gekommen und haben gesagt: der Mensch ist eine
Zusammensetzung von Materie und Geist; die Materie ist ausgedehnt und teilbar;
der Geist ist weder ausgedehnt noch teilbar; also ist er, so sagen sie, von
anderer Wesensart. Der Mensch ist eine Vereinigung von Wesen, die nicht füreinander
geschaffen sind und die Gott vereinigt trotz ihrem gegensätzlichen Wesen.
Wir sehen wenig vom Körper, wir sehen die Seele gar
nicht; sie hat keine Teile, also ist sie ewig; sie hat reine, geistige Ideen,
also erhält sie diese nicht von der Materie; sie erhält sie auch nicht
von sich selbst; also gibt Gott sie ihr; also bringt sie schon bei der Geburt
die Ideen von Gott mit und vom Unendlichen und die anderen allgemeinen Ideen.
Immer, nach Menschenweise zu reden, antworte ich diesen Herren, daß sie
sehr viel wissen. Zuerst sagen sie uns, daß es eine Seele gibt, und dann,
was das bedeutet. Sie sprechen den Namen Materie ans und dann entscheiden sie
frisch und frei, was diese Materie ist. Und ich sage zu ihnen: Ihr kennet weder
Geist noch Materie. Unter Geist könnt ihr euch nichts
vorstellen als die Fähigkeit zu denken; unter Materie könnt ihr euch
nur ein gewisses Nebeneinander von Eigenschaften, Farben, Abmessungen, Dichtegraden
denken; es hat euch beliebt, das Materie zu nennen, und ihr habt der Materie
und der Seele Grenzen gesteckt, ehe ihr auch nur ihres Daseins sicher seid.
Von der Materie lehret ihr von oben herab, sie habe nur Ausdehnung und Dichte,
und ich sage euch bescheiden, sie ist noch tausend anderer Eigenschaften fähig,
die ihr nicht kennet und ich auch nicht. Ihr sagt, die Seele sei unteilbar und
ewig; ihr setzet voraus, was in Frage steht. Ihr seid ungefähr wie ein
Professor, der noch nie ein Uhrwerk gesehen hatte und nun auf einmal eine englische
Repetieruhr unter die Hände bekäme. Unser Mann, ein guter peripatetischer
Philosoph, staunt über die Genauigkeit, mit der die Zeiger die Zeit einteilen
und bezeichnen und noch mehr darüber, daß ein Knopf, auf den man
mit dem Finger drückt, genau die Stunden schlagen läßt, auf
die der Zeiger weist. Mein Philosoph beweist unfehlbar, daß in der Uhr
eine Seele ist, die sie lenkt und ihre Federn führt. Er führt den
wissenschaftlichen Beweis für seine Meinung durch Vergleichung mit den
Engeln, die die himmlischen Sphären in Bewegung setzen und läßt
in der Schule schöne Thesen über die Seele der Uhren verfechten. —
Einer seiner Schüler öffnet die Uhr; man findet nur Federn darin und
hält doch immer an der Anschauung von den Uhrenseelen fest, die nun einmal
für erwiesen gilt. Ich bin der Schüler, der die Uhr öffnet, die
man Mensch nennt und der, statt kühn das Unverständliche begrifflich
festzulegen, langsam zu untersuchen sich bemüht, was wir erforschen wollen.
Nehmen wir ein Kind im Augenblick seiner Geburt und folgen wir Schritt für
Schritt den Fortschritten seines Verstandes. Ihr beehret mich mit der Mitteilung,
Gott habe sich die Mühe genommen, eine Seele zu schaffen, um sie in dem
Körper unterzubringen, wenn er etwa sechs Wochen alt ist; diese
Seele sei bei ihrem Eintreffen mit metaphysischen Ideen versehen, kenne also
den Geist, die abstrakten Gedanken, das Unendliche ganz klar und deutlich; sei,
mit einem Wort, eine hochgelehrte Person. Leider verläßt
sie die Gebärmutter in krasser Unwissenheit: anderthalb Jahre hat sie gebraucht,
um nur die Brüste der Amme kennenzulernen; und will man diese Seele,
wenn sie zwanzig Jahre alt ist, an alle die wissenschaftlichen Gedanken erinnern,
über die sie zur Zeit der Vereinigung mit ihrem Körper verfügte,
so ist sie manchmal so vernagelt, daß sie keine einzige mehr faßt.
Es gibt ganze Völker, die nie einen einzigen von diesen Gedanken hatten.
Wahrlich, woran dachte auch die Seele Descartes‘
und Malebranches, als sie auf solche Träume verfiel. Doch nun weiter
mit dem kleinen Kind.
An dem Tag, da seine Mutter mit ihm und mit seiner Seele niedergekommen ist,
kamen im Haus auch ein Hund, eine Katze und ein Zeisig auf die Welt. Nach anderthalb
Jahren mache ich aus dem Hund einen ausgezeichneten Jäger; nach einem Jahr
pfeift der Zeisig eine Melodie, nach sechs Wochen schon macht die Katze ihre
Kunststückchen; nur das Kind kann noch nach vier Jahren nichts. Ich, ein
ungebildeter Mensch, der ich diesen wunderbaren Unterschied bemerke, und der
ich noch nie ein Kind gesehen habe, ich glaube zuerst, Katze, Hund und Zeisig
seien sehr verständige Geschöpfe und das kleine Kind sei ein Automat.
Allmählich aber bemerke ich, daß das Kind Gedanken und Gedächtnis
hat und dieselben Triebe wie die Tiere, und dann gestehe ich, daß es wie
ein vernünftiges Geschöpf ist. Es teilt mir verschiedene Gedanken
durch einige Worte mit, die es gelernt hat, wie mir mein Hund durch abgewandelte
Laute ganz deutlich seine verschiedenen Bedürfnisse kundgibt. Sechs- bis
siebenjährig verbindet das Kind in seinem Hirn fast eben so viele Gedanken
als mein Jagdhund in dem seinigen.
Mit dem Alter kommt es schließlich zu einer Unmasse von Kenntnissen. Was
soll ich nun von ihm denken? Soll ich glauben, daß es von ganz verschiedener
Wesensart ist? Gewiß nicht! Denn man sehe sich nur einerseits einen Newton,
andererseits einen Dummkopf an. Und doch behauptet ihr, sie seien von derselben
Wesensart, und es sei nur ein Gradunterschied zwischen ihnen.
Um mich der Wahrscheinlichkeit meiner Mutmaßung zu versichern, untersuche
ich meinen Hund und mein Kind im wachen Zustand und im Schlaf. Ich probiere
es bei beiden mit einem außergewöhnlich starken Aderlaß; dann
scheinen ihre Gedanken mit dem Blute zu verströmen. Rufe ich sie in diesem
Zustand an, so antworten sie mir nicht mehr. Entziehe ich ihnen noch einige
Unzen. so haben meine zwei Maschinen, die vorher eine Masse Gedanken und Triebe
jeder Art hatten, keine Empfindung mehr.
Dann untersuche ich meine beiden Tiere im Schlaf; der Hund hat nach reichlichem
Fressen Träume; er jagt und bellt hinter seiner Beute her. Mein junger
Mann im selben Fall redet mit seinem Schatz und liebelt mit ihm. Nach mäßigen
Mahlzeiten träumt keins von beiden. Kurz, ich sehe, daß ihre Fähigkeit
wahrzunehmen, zu fühlen, ihre Gedanken auszudrücken sich in ihnen
allmählich entwickelt und ebenso stufenweise abnimmt. Die Ähnlichkeiten
zwischen ihnen sind hundertmal größer als die zwischen irgend einem
genialen Menschen und einem ausgesprochenen Dummkopf.
Was für eine Ansicht soll ich mir also von ihrer Wesensart bilden? Diejenige,
auf die alle Völker zuerst verfallen sind, ehe ägyptische Staatsweisheit
die Lehre vom geistigen Wesen der Seele und von ihrer Unsterblichkeit aufbrachte.
Ja, ich werde mich aus guten Gründen des Verdachtes nicht erwehren können,
daß Archimedes und ein Maulwurf zwar verschiedenen Arten, aber derselben
Gattung angehören; gerade wie eine Eiche und ein Senfkorn nach denselben
Prinzipien gebildet sind, nur daß die eine eine große Pflanze ist,
das andere eine kleine.
Ich werde denken, Gott habe bestimmte Teile von Geist
bestimmten Teilen von Materie verliehen, die zum Denken organisiert ist; ich
werde glauben, daß die Materie Sinnesempfindungen nach Maßgabe der
Feinheit der Sinne hat, daß den Sinnen der Umfang unserer Gedankentätigkeit
entspricht; ich werde glauben, daß die Auster weniger Empfindungen und
Sinne hat, weil ihre Seele an ihrer Schale haftet und sie daher keine fünf
Sinne braucht. Viele Tiere haben nur zwei Sinne; wir haben fünf,
was noch recht wenig ist. In anderen Welten mögen andere Tiere sich einer
Zahl von zwanzig bis dreißig Sinnen erfreuen; vollkommenere Gattungen
mögen Sinne in unbegrenzter Zahl haben.
Mir scheint es, daß man so am natürlichsten darüber philosophiert,
oder richtiger, seine Vermutungen anstellt. Es hat sicher lange gebraucht, bis
die Menschen sinnreiche Erdichtung eines Wesens kamen,
das wir selbst sind, das alles in uns tut, das nicht ganz unser ist, und das
uns überlebt. So ist man auch erst allmählich dazu gekommen,
einen solchen Gedanken auszuhecken. Zuerst bedeutete das Wort Seele das Leben
und war uns und den Tieren gemeinsam. Dann schuf uns unser Hochmut eine besondere
Seele, während wir uns für die andern Geschöpfe eine substantielle
Form ausdachten. Dieser menschliche Hochmut fragt, was diese Kraft der Sinneswahrnehmung
und des Gefühls ist, die er beim Menschen Seele und beim rohen Tier Instinkt
heißt. Ich werde diese Frage lösen, wenn die Physiker mir erst sagen,
was der Ton ist und was das Licht, der Raum, der Körper und die Zeit. Ich
sage im Sinn des weisen Locke: Die Philosophie besteht
darin, daß man nicht weiter geht als die Fackel der Physik uns leuchtet.
Ich bemerke wohl natürliche Wirkungen; aber ich gestehe, daß ich
die ersten Prinzipien so wenig verstehe wie ihr. Nur soviel weiß, daß
ich nicht mehreren Ursachen, insbesondere nicht unbekannten Ursachen zuschreiben
darf, was ich e i n e r bekannten Ursache zuschreiben
kann; nun kann ich aber meinem Körper die Fähigkeit zu denken und
zu empfinden zuschreiben; also darf ich sie nicht in einer
anderen Substanz suchen, die man Seele oder Geist nennt und die ich mir nicht
im mindesten vorstellen kann.
Ihr entrüstet euch über diesen Satz; ihr findet also etwas Gottloses
in dem Gedanken, daß der Körper denken kann. Aber was wollt ihr sagen,
würde Locke antworten, wenn man euch selbst des Unglaubens schuldig fände,
euch, die ihr die Macht Gottes zu beschränken waget.
Wo ist der Mensch auf Erden, der so töricht und gottlos ist zu behaupten,
es sei Gott unmöglich, der Materie Empfindung und Denkkraft zu verleihen.
Ihr schwachen und verwegenen Köpfe, ihr gebet vor, die Materie denke nicht,
weil ihr nicht verstehen könnt, daß Materie, sie sei gestaltet wie
sie wolle, denken könne.
Ihr großen Philosophen, die ihr über die Macht Gottes absprechet
und zugleich behauptet, Gott könne aus einem Stein einen Engel machen (Matth.
3, 9), sehet ihr nicht, daß eurer eigenen Meinung nach Gott
in diesem Falle nichts anderes täte, als einem Stein die Kraft des Denkens
verleihen Würde nämlich die Materie des Steins nicht bleiben, so wäre
kein Stein mehr da, der Stein wäre vernichtet und ein Engel geschaffen.
Dreht und wendet euch wie ihr wollt, ihr müsset zweierlei eingestehen,
eure Unwissenheit und die ungeheure Macht des Schöpfers;
eure Unwissenheit, die sich gegen denkende Materie empört, und die Macht
des Schöpfers, der doch sicher das nicht unmöglich ist.
Ihr, die ihr wisset, daß Materie nicht zu nichts wird, bestreitet Gott
die Kraft, in dieser Materie die schönste Fähigkeit zu erhalten mit
der er sie geschmückt bat. Die Ausdehnung besteht doch wohl ohne Körper,
da es ja Philosophen gibt, die an den leeren Raum glauben; die Eigenschaften
können doch wohl ohne die Substanz bestehen — unter den Christen,
die an die Transsubstantion glauben. Gott, saget ihr, kann nichts tun, was einen
Widerspruch in sich schließt. Da müßte man mehr verstehen als
ihr verstehet. Stellet euch wie ihr wollt, ihr wisset nie mehr als das, daß
ihr Körper seid, und daß ihr denket.
Gar viele, die in ihrer Schulweisheit so selbstsicher geworden sind und ihre
Schlußfolgerungen für Orakel ansehen und ihren Aberglauben für
Religion, betrachten Locke als einen gefährlichen Religionsverächter.
Diese Abergläubischen sind in der Gesellschaft das, was die Feiglinge in
einem Heer sind; panische Angst ist in ihnen und geht von ihnen aus. Sie sollen
wissen, daß es nicht die Überzeugungen der Philosophen sind, die
der Religion jemals Eintrag tun. Es steht fest, daß das Licht von der
Sonne kommt, und daß die Planeten sich um dieses Gestirn drehen; darum
liest man mit nicht geringerer Erbauung in der Bibel, daß das Licht vor
der Sonne geschaffen wurde und daß die Sonne stillstand über dem
Dorfe Gibeon. Es ist erwiesen, daß der Regenbogen sich mit Naturnotwendigkeit
durch den Regen bildet: darum verehrt man doch den heiligen Text, der besagt,
daß Gott nah der Sintflut seinen Bogen in die Wolken setzte zum Zeichen,
daß keine Überschwemmung mehr kommen sollte.
Das heilige Geheimnis der Dreieinigkeit und der Eucharistie mögen
bekannten Beweisgängen noch so sehr zuwiderlaufen, sie werden trotzdem
von den katholischen Philosophen ehrfürchtig hingenommen, die wissen, daß
Vernunft und Glaube von verschiedener Wesensart sind. Das Volk der Gegenfüßler
ist von Päpsten und Konzilien verdammt worden; und dann haben die Päpste
wieder die Antipoden anerkannt und haben ihnen eben die christliche Religion
bringen lassen, die man für verloren ansah, falls sich ein Mensch fände,
dem, wie es damals hieß, der Kopf nach unten und die Füße nach
oben wachsen, und der, wie der sehr wenig philosophische heilige Augustin
sagt, vom Himmel gefallen wäre. Übrigens noch einmal, wenn ich so
freimütig schreibe, so will ich doch gar nichts gesagt haben. Für
einige von den vorgebrachten Träumereien habe ich vielleicht eine gewisse
Vorliebe; aber ich opfere sie alle, wenn es verlangt wird, auf dem Altar der
Religion und des Vaterlands.
Das wäre etwas Schönes, wenn man seine Seele sehen könnte. Erkenne
dich selbst! ist ein ausgezeichneter Rat; aber nur Gott
kann ihn ausführen; wer anders als er kann sein Wesen kennen?
Wir heißen Seele was beseelt; mehr wissen
wir nicht. Drei Viertel der Menschheit lassen es dabei bewenden und befassen
sich nicht mit der »denkenden Substanz«;
ein Viertel sucht; niemand hat gefunden, niemand wird
finden.
Armer Schulmeister! Du siehst eine Pflanze, die vegetiert, und du sagst: Vegetation,
oder auch vegetative Seele. Du bemerkst, daß die Körper
Bewegung haben und abgeben und du sagst: Kraft;
du siehst, wie dein Jagdhund auf deine Befehle lernt, was er zu tun hat, und
du rufst: Instinkt; du hast Gedankenverbindungen,
und du sagst: Geist.
Aber ich bitte dich, was verstehst du unter diesen Worten? Diese Blume vegetiert;
gibt es ein wirkliches Wesen, das Vegetation heißt? Dieser Körper
stößt einen anderen; besitzt er in seinem Innern ein besonderes Wesen,
das Kraft heißt? Dieser Hund bringt dir ein Rebhuhn, aber gibt es ein
Wesen, das Instinkt heißt? Würdest du nicht lachen über einen
Vernunftkünstler (und wäre er auch der Lehrer
Alexanders des Großen), der dir sagen würde: Alle Tiere leben,
also gibt es in ihnen ein Wesen, eine substanzielle Form, die das Leben ist.
Wenn eine Tulpe reden könnte und zu dir sagte: Meine Vegetation und ich
sind zwei gesonderte Wesen, die offensichtlich zusammengefügt worden sind,
würdest du nicht deine Tulpe auslachen?
Sieh zunächst einmal nach, was du weißt und was dir sicher ist: daß
du mit deinen Füßen gehst; daß du mit deinem Magen verdauest;
daß du durch deinen ganzen Körper hin fühlst; daß du mit
deinem Kopf denkst. Sieh nach, ob deine Vernunft allein dir so viel Licht geben
könnte, daß du ohne Hilfe von oben schließen könntest,
du habest eine Seele.
Die ersten Philosophen, mochten es Chaldäer, mochten es Ägypter sein,
sagten: In uns muß etwas sein, das unsere Gedanken hervorbringt; dieses
etwas muß sehr dünn und fein sein; es ist ein Hauch, es ist Feuer,
es ist Äther, es
ist eine Quintessenz, es ist ein leichtes Schattending, es ist eine Entelechie,
es ist eine Zahl, es ist
eine Harmonie. Endlich,
nach dem göttlichen Plato, ist es eine Vereinigung
»des selbigen und des anderen«. Es
sind Atome, die in uns denken, sagte Epikur nach
Demokrit. Aber, lieber Freund, wie denkt ein Atom?
Gestehe, daß du nichts davon weißt.
Die Ansicht, der man ohne Zweifel beipflichten muß, ist, daß die
Seele ein immaterielles Wesen ist; aber was dieses immaterielle Wesen ist, das
faßt ihr sicher nicht. O doch, erwidern die Gelehrten, wir wissen, daß
seine Natur ist, zu denken. — Und woher wißt ihr das? — Wir
wissen es, weil es denkt. — O ihr Gelehrten! — Ich fürchte
ihr seid so unwissend wie Epikur; die Natur eines Steins ist zu fallen, weil
er fällt; aber ich frage euch, was macht denn, daß er fällt?
Wir wissen, fahren sie fort, daß ein Stein keine Seele hat. — Einverstanden;
das ist auch meine Meinung. — Wir wissen, daß eine Verneinung und
eine Bejahung nicht teilbar, daß sie keine Teile der Materie sind. —
Ich bin auch eurer Meinung. Aber die uns übrigens unbekannte Materie besitzt
Eigenschaften, die nicht materiell, die nicht teilbar sind; sie strebt vermöge
der Schwerkraft gegen einen Mittelpunkt, den Gott ihr angewiesen hat. Nun hat
diese Schwerkraft keine Teile und ist nicht teilbar. Die bewegende Kraft der
Körper ist kein Gemenge von Teilen. Die Vegetation der Organismen, ihr
Leben, ihr Instinkt sind auch keine besonderen, sind keine teilbaren Wesen.
Ihr könnt die Vegetation einer Rose, das Leben eines Pferdes, den Instinkt
eines Hundes ebensowenig entzwei schneiden, wie eine Empfindung, eine Verneinung,
eine Bejahung. Euer schöner Beweisgrund, der von der Unteilbarkeit des
Denkens hergenommen ist, beweist also rein gar nichts.
Was nennet ihr also eure Seele? Welche Vorstellung habt ihr von ihr? Von euch
selbst aus, ohne Offenbarung, könnt ihr nichts anderes
in euch annehmen als eine euch unbekannte Kraft zu fühlen, zu denken. Und
nun, sagt mir ehrlich, ist diese Kraft zu fühlen und zu denken dieselbe,
mit der ihr verdauet und gehet? Nein, müßt ihr gestehen; vergebens
würde euer Verstand zu eurem Magen sagen: Verdaue! Er tut‘s nicht,
wenn er krank ist; vergebens würde euer immaterielles Wesen euren Füßen
zu gehen befehlen; sie bleiben stehen, wenn sie die Gicht haben.
Die Griechen haben ganz richtig gefühlt, daß das Denken oft nichts
mit dem Spiel unserer Organe zu tun hat; sie haben für diese Organe eine
animalische Seele angenommen und für die Gedanken eine feinere, dünnere
Seele.
Nun hat aber diese Gedankenseele in tausend Fällen die Oberleitung der
animalischen Seele. Die denkende Seele befiehlt den Händen zu greifen,
und sie greifen. Aber sie sagt ihrem Herzen nicht, es solle schlagen, ihrem
Blut nicht, es solle fließen, ihrem Speisesaft nicht, er solle sich bilden;
alles das macht sich ohne sie: Da haben wir zwei Seelen, die einander in die
Quere kommen und von denen keine recht Herrin im Hause ist. Nun existiert aber
diese erste animalische Seele sicher überhaupt nicht; sie ist nichts anderes
als die Bewegung eurer Organe. Nimm dich in acht, o Mensch, deine schwache Vernunft
dürfte kaum beweisen können, daß die andere Seele existiert.
Nur durch den Glauben kannst du etwas von ihr wissen. Du wirst geboren, du wirkst,
du denkst, du wachst, du schläfst und weißt selbst nicht wie. Gott
hat dir die Fähigkeit zum Denken gegeben, wie er dir alles übrige
gegeben hat. Und wenn er nicht gekommen wäre, da die Zeit nach seiner Vorsehung
erfüllt war, dir zu offenbaren, daß du eine immaterielle, unsterbliche
Seele hast, du selbst hättest keinen Beweis dafür.
Ich bin recht schwach, was auch mein Arzt, Herr Tronchin, sagen möge, und
meine Seele, die ich Lisette heiße, ist gar nicht wohl in ihrem alten
Futteral. Ich sage manchmal zu Lisette: »Auf, sei
doch heiter wie die Lisette meines lieben Freundes«. Sie antwortet,
sie könne nichts dafür; dem Körper müsse
es wohl sein, wenn es i h r wohl sein soll.
»Pfui doch, Lisette«, sage ich zu ihr,
»wer wird solche Reden führen; da wird man
dich ja für materiell halten«. »Das
ist nicht meine Schuld«, sagt dann Lisette; »ich
gebe mich nicht für besser aus als ich bin«. So unterhalte
ich mich oft mit Lisette und möchte nur, mein alter Freund wäre auch
dabei; aber der ist hundert Meilen weit weg von hier, in Paris bei seiner braven
Lisette.
Ist der
menschliche Wille frei?
Wenn ich mich nicht sehr täusche, so hat Locke,
der Begriffsbestimmer, den Begriff der Freiheit sehr gut bestimmt als Kraft.
Wenn ich mich nicht wieder täusche, so ist Collins,
ein angesehener Londoner Beamter, der einzige Philosoph, der diesen Gedanken
richtig durchgedacht hat; und Clarke hat ihm nur
nach Theologenart geantwortet. Von allem, was man in Frankreich über die
Freiheit geschrieben hat, kenne ich nichts Bündigeres als das hier folgende
Zwiegespräch:
A: Das ist ja eine Batterie,
die vor unseren Ohren abgefeuert wird. Haben Sie die Freiheit, das zu hören
oder nicht zu hören?
B: Ich kann sicher nicht
machen, daß ich es nicht höre.
A: Wollen Sie, daß
diese Kanone Ihren Kopf wegreißt sowie die Köpfe Ihrer Frau und Ihrer
Tochter, die mit Ihnen spazierengehen?
B: Was sinnen Sie mir
da an? Solange ich bei Sinnen bin, kann ich doch etwas derartiges nicht wollen;
das ist unmöglich.
A: Gut. Sie hören
also notwendigerweise diese Kanone und notwendigerweise wollen Sie mit Ihrer
Familie nicht durch einen Kanonenschuß auf dem Spaziergang sterben. Sie
haben nicht die Kraft, nicht zu hören; Sie haben auch nicht die Kraft,
hier bleiben zu wollen.
B: Das ist klar.
A: Sie haben infolgedessen
ungefähr dreißig Schritte gemacht, um sich vor der Kanone zu decken.
Sie haben die Kraft gehabt, diese paar Schritte mit mir zu gehen.
B: Das ist wiederum sehr
klar.
A: Und wenn Sie gelähmt
gewesen wären, so wären Sie unvermeidlich dieser Batterie ausgesetzt
gewesen und hätten notwendigerweise diesen Kanonenschuß gehört
und bekommen; Sie wären notwendigerweise daran gestorben.
B: Vollkommen richtig.
A: Worin besteht also
Ihre Freiheit als in der von Ihrer Persönlichkeit ausgeübten Kraft
das zu tun, was Ihr Wille mit unbedingter Notwendigkeit verlangte?
B: Sie
machen mich ganz perplex. Die Freiheit besteht also bloß darin, daß
ich tun kann, was ich will.
A: Denken Sie einmal
nach und sehen Sie, ob man unter Freiheit etwas anderes verstehen kann.
B: In diesem Fall ist
mein Jagdhund so frei wie ich; er hat notwendigerweise den Willen zu laufen,
wenn er einen Hasen sieht, und die Kraft zu jaulen, wenn ihm die Füße
nicht weh tun. Ich stehe also ganz auf der Stufe meines Hundes, ich habe nichts
vor dem Tier voraus.
A: Da haben wir wieder
die ärmlichen Sophismen der Sophisten, bei denen Sie in die Schule gegangen
sind. Ist das etwas so Schlimmes, wenn Sie so frei sind, wie Ihr Hund? Essen
Sie nicht wie er, schlafen Sie nicht so, pflanzen Sie sich nicht so fort, bis
auf die Haltung? Möchten Sie anders riechen als durch die Nase? Warum wollen
Sie die Freiheit anders haben als Ihr Hund?
B: Aber ich habe eine
Seele, die viel denkt. Und mein Hund denkt kaum. Er hat doch fast bloß
einfache Gedanken, und ich habe tausend metaphysische Ideen.
A: Dann sind Sie auch
tausendmal freier als er; das heißt: Sie haben tausendmal mehr Kraft zu
denken als er; aber Sie sind nicht in anderer Art frei als er.
B: Was? Ich bin nicht
frei zu wollen, was ich will?
A: Was verstehen Sie
darunter?
B: Was jedermann darunter
versteht. Sagt man nicht täglich: Der Wille ist frei?
A: Ein Sprichwort beweist
nichts; erklären Sie sich näher!
B: Ich meine, daß
es mir freisteht zu wollen, wie es mir beliebt.
A: Erlauben Sie, das
hat keinen Sinn. Sehen Sie nicht, daß es lächerlich ist zu sagen:
Ich will wollen? Sie wollen notwendigerweise kraft der Gedanken, die Ihnen gekommen
sind. Wollen Sie heiraten, ja oder nein?
B: Wenn ich nun aber
sage: Keins von beiden.
A: Da würden Sie
antworten wie der, der sagte: Die einen glauben, der Kardinal Mazarin sei gestorben.
Die andern meinen, er sei noch am Leben; ich glaube keins beiden.
B: Nun also! So will
ich heiraten.
A: Das heißt endlich
einmal Antwort geben. Warum wollen Sie heiraten?
B: Weil ich in ein junges
Mädchen verliebt bin, das schön ist und sanft und wohl erzogen und
ziemlich reich, das schön singen kann, dessen Eltern sehr wackere Leute
sind, das auch, wie ich mir schmeicheln darf, mich liebt, und deren Familie
ich nicht unwillkommen bin.
A: Das sind doch Gründe.
Nun sehen Sie, daß Sie nicht wollen können ohne Gründe. Und
nun sage ich Ihnen, daß Sie frei sind, zu heiraten, das heißt: Sie
haben die Kraft, den Ehevertrag zu unterzeichnen, Hochzeit zu machen und bei
Ihrer Frau zu schlafen.
B: Wie? Ich kann nicht
wollen ohne Gründe? Ja, was wird dann aus dem anderen Sprichwort: Sit
pro ratione voluntas? Ich will, weil ich will.
A: Das ist sinnlos, mein
lieber Freund; da gäbe es in Ihnen eine Wirkung ohne Ursache.
B: Wie? Wenn ich »Gleich
und Ungleich« spiele, habe ich da einen Grund, lieber
Gleich zu wählen als Ungleich?
A: Ja, gewiß.
B: Und was wäre
dann dieser Grund, bitte?
A: Die Vorstellung Gleich
ist Ihnen eben eher eingefallen als die Vorstellung Ungleich.
Das wäre doch komisch, wenn es Fälle gäbe, wo Sie wollen, weil
Sie einen Grund zum Wollen haben, und einige Fälle, wo Sie ohne Grund wollen.
Wenn Sie sich verheiraten wollen, so fühlen Sie doch augenscheinlich den
bestimmenden Grund; Sie fühlen ihn nicht, wenn Sie Gleich und Un¬gleich
spielen; und doch muß es wohl einen geben.
B: Nun, noch einmal:
ich bin also nicht frei?
A: Ihr
Wille ist nicht frei, Ihre Taten sind frei. Es steht Ihnen frei zu handeln,
wenn Sie die Kraft zu handeln haben.
B: Aber alle die Bücher,
die ich über die Freiheit der Indifferenz gelesen habe?
A: Was verstehen Sie
unter Freiheit der Indifferenz?
B: Darunter verstehe
ich: rechts oder links ausspucken können, auf der rechten oder linken Seite
beim Schlafen liegen, vier oder fünfmal auf und ab spazieren.
A: Da hätten Sie,
weiß Gott, eine komische Freiheit! Da hätte Ihnen Gott ein nettes
Geschenk gemacht. Darauf könnten Sie sich etwas zugute tun! Was würde
Ihnen denn eine Kraft helfen, die Sie nur bei so nichtigen Gelegenheiten ausüben
könnten! Aber tatsächlich ist es lächerlich, einen Willen anzunehmen,
der nach rechts ausspucken will. Nicht bloß ist dieser Wille zu wollen
sinnlos, sondern es ist auch sicher, daß viele Meine Umstände Sie
zu diesen Handlungen bestimmen, die Sie »indifferent«
nennen. Sie sind bei diesen Handlungen so wenig frei wie bei den anderen.
Aber noch einmal, Sie sind frei allezeit und überall,
sobald Sie tun, was Sie tun wollen.
B: Ich vermute, Sie haben
recht. Ich will darüber noch weiter nachdenken.
Der unveränderliche
Charakter
Kann man dem Charakter nach anders werden? Ja, wenn man körperlich ein
anderer wird. Ein Mann mag als gewalttätiger, starrsinniger Zänker
geboren sein und im Alter einen Schlaganfall bekommen; dann kann er ein weinerliches,
schüchternes, dummes Kind werden. Sein Körper ist nicht mehr derselbe.
Solange sein Blut, sein Rückenmark, seine Nerven
dieselben sind, wird sein Temperament so wenig anders als der Trieb eines
Wolfs oder eines Marders.
Der Charakter wird von unseren Gedanken und Gefühlen gebildet; nun steht
es fest, daß man sich seine Gedanken und Gefühle nicht selbst gibt;
also hängt unser Charakter, nicht von uns ab. Wäre dem so, wer wäre
da nicht vollkommen? Wir können uns keine Neigungen
und keine Talente geben; wie sollten wir uns Charaktereigenschaften geben können?
Wenn man nicht nachdenkt, glaubt man, man könne alles machen; wenn man
nachdenkt, sieht man, daß man nichts machen kann.
Wollt ihr den Charakter eines Menschen von Grund aus ändern, so müßt
ihr ihn täglich mit Abführmitteln purrgieren, bis ihr ihn umgebracht
habt. Karl XII. in seinem Wundfieber auf dem Weg nach Bender war nicht mehr
derselbe Mensch. Man konnte ihn lenken wie ein Kind.
Wenn ich eine schiefe Nase und Katzenaugen habe, so kann ich sie hinter einer
Maske verstecken. Kann ich mit dem Charakter, den mir die Natur gegeben hat,
etwa mehr tun?
Religion und Moral können der Kraft des Temperaments einen Zügel anlegen;
sie können sie nicht zerstören. Das Alter schwächt den Charakter
ab; der Baum trägt nur noch minderwertige Früchte; aber sie sind noch
immer von derselben Art; er bekommt Astknoten und Moos und den Wurmfraß;
er bleibt doch immer eine Eiche oder ein Birnbaum. Könnte
man seinen Charakter ändern, man würde sich einen geben, man wäre
der Herr der Natur. Kann man aber sich etwas geben? Empfangen wir nicht
alles? Versucht einen Schlaffen mit Unternehmungsgeist zu durchdringen; einen
feurigen, stürmischen Menschen zu dämpfen, daß er teilnahmslos
wird; einem unmusikalischen Menschen Neigung zur Musik einzuflößen
— ihr könntet ebensogut einen Blindgeborenen sehend machen wollen.
Wir verbessern, wir mildern, wir verbergen was uns die Natur mitgab; wir schaffen
nichts Neues.
Man sagt zu einem Züchter: Sie haben zu viele Fische in diesem Fischteich,
sie werden nicht gedeihen; Sie haben zu viel Vieh auf Ihrer Weide; es ist zu
wenig Futter da, es wird abmagern. Nun mögen nach dieser Mahnrede die Hechte
die Hälfte der Karpfen meines
guten Mannes verschlingen und die Wölfe die Hälfte seiner Schafe:
die übrigbleibenden gedeihen prächtig. Kann er nun stolz sein auf
seine Züchterkunst? Dieser Ökonom bist du. Eine deiner Leidenschaften
hat die anderen aufgefressen, und du meinst, über dich selbst einen Sieg
errungen zu haben. Gleichen wir nicht fast alle dem neunzigjährigen General,
der junge Offiziere antraf, wie sie mit Freudenmädchen Unfug trieben. »Meine
Herren«, sagte er ganz entrüstet, »ist
das das Beispiel, das ich Ihnen gebe«?
Was können
wir wissen?
Man hat sich recht lange über die »verborgenen
Eigenschaften« lustig gemacht. Man sollte sich über die lustig
machen, die nicht daran glauben. Wir wollen es hundertmal wiederholen, jedes
Prinzip, jede erste Springfeder in jeglichem Werk des
großen Demiurgos ist geheim und den Sterblichen für immer verborgen.
Was ist die Zeutripetalkraft, die Schwerkraft, die ohne Berührung auf unendliche
Entfernungen hinaus wirkt?
— Welche Kraft zieht unser Herz mit seinen Ohren sechzigmal in der Minute
zusammen? Welche andere Kraft verwandelt dieses Gras in Milch in den Eutern
einer Kuh, und dieses Brot in Blut, Fleisch, Knochen in diesem Kind, das mit
seiner Nahrung heranwächst bis zu einem bestimmten Punkt, der der Höhe
seines Wuchses ein Ziel setzt, ohne daß irgendeine Kunst ihm auch nur
eine Linie hinzuzufügen vermöchte?
Pflanzenwesen, Minerale, Tierwesen, wo ist euer erstes Prinzip? Es ist in der
Hand dessen, der die Sonne um ihre Achse sich drehen läßt und der
sie in Licht gekleidet hat.
Dieses Blei wird nie zu Silber werden; dieses Silber wird nie Gold; dieses Gold
nie ein Diamant; so wenig dieses Stroh je zu Zitronat oder Ananas wird.
Welche Korpuskularphysik, welche Atome bestimmen so ihre Natur? Ihr wisset nichts
darüber; die Ursache wird euch ewig verborgen sein;
alles um euch, alles in euch ist ein Rätsel, dessen Lösung
zu erraten dem Menschen nicht gegeben ist.
Dieser Erznichtskenner glaubt etwas zu wissen, wenn er sagt, die Tiere haben
eine vegetative und eine sensitive Seele, die Menschen haben eine vegetative,
eine sensitive und eine intellektuelle.
Ärmlicher Mensch, du Hochmutstropf, der du nur Worte von dir gibst, hast
du je eine Seele gesehen, weißt du, wie so etwas gemacht ist? Wir haben
in unseren Fragen schon viel von der Seele gesprochen und immer unsere Unwissenheit
eingestanden. Heute unterschreibe ich noch einmal dieses Geständnis, und
zwar um so nachdrücklicher als ich seither viel mehr gelesen, viel mehr
nachgedacht, mich viel mehr gebildet habe; und so bin
ich noch viel mehr in der Lage zu versichern, daß ich nichts weiß.
Das war ein wahrer Weiser, der erste Unwissende, der zum schöpferischen
Wesen also sprach: Du hast mich gemacht ohne mein Vorwissen und du erhältst
mich, ohne daß ich eine Ahnung hätte, wie ich bestehen kann. Als
ich an der Brust meiner Amme sog, befolgte ich ein physikalisches Gesetz, das
ich doch nicht durchschaue; und einem noch schwerer verständlichen folge
ich, wenn ich die Nahrungsmittel esse und verdaue, mit denen du mich nährst.
Noch weniger weiß ich, wie Gedanken in meinen Kopf
kommen, um ihn sofort wieder auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, während
andere mein ganzes Leben lang darin bleiben und allen meinen Versuchen trotzen,
sie zu verscheuchen. Ich bin eine Auswirkung deiner verborgenen
allerhöchsten Kraft, der die Sterne gehorchen gerade so wie ich.
Ein vom Winde bewegtes Staubkörnchen sagt nicht:
I c h befehle den Winden. In te vivimus, movemur
et sumus [In Dir
leben, weben und sind wir]. Du bist das
einzige Wesen, der Rest ist Welt.
Die Metaphysik ist das Feld der Zweifel und der Roman der Seele. Wir
wissen sehr wohl, daß mehr als ein gelehrter Herr uns dummes Zeug vorgeschwatzt
hat; aber wir verfügen kaum über e i n e Wahrheit,
die wir an die Stelle ihrer zahllosen Irrtümer setzen könnten. Wir
schwimmen im Meer der Ungewißheit; und das
muß so sein, da wir nur Tiere sind, ungefähr fünf und ein halb
Fuß hoch und mit einem Gehirn von ungefähr vier Kubikzoll. Mein Gehirn,
mein Herr, ist der sehr ergebene Diener des Ihrigen.
Ich werde bis zum letztem Atemzug der Sekte der Pyrhoniker [Zweifler]
angehören.
Schade, daß man einen Teil seines Lebens damit hinbringen muß, alte
Zauberschlösser zu zerstören. Es wäre ja
besser, Wahrheiten festzustellen, als Lügen zu untersuchen. Aber wo sind
die Wahrheiten?
Menschenlos
im Lichte Pascalscher und Voltairescher Gedanken
Pascal:
»Wenn ich die Verblendung und das Elend
des Menschen sehe, die Widersprüche in seiner Natur, das Schweigen des
Weltalls und, in einem Winkel dieses Weltalls verloren, den hilf- und ratlosen
Menschen, der nicht weiß, wer ihn da hereingesetzt hat, was er da zu tun
hat, was aus ihm im Tode wird, dann schaudert es mich, wie jemanden, den man
schlafend auf eine wüste, fürchterliche Insel gebracht hätte
und der nun erwachte, ohne zu wissen woher und wohin. Dann muß ich oft
staunen, wie man in einem so elenden Zustand sein kann, ohne zu verzweifeln«.
Voltaire: Als ich diese Betrachtung las,
erhielt ich einen Brief von meinem englischen Freund, in dem es heißt:
»Ich bin noch immer so wie Sie mich kennen lernten,
nicht heiterer und nicht trauriger, und nicht ärmer. Ich kann über
meine Gesundheit nicht klagen und habe die Mittel zu einem angenehmen Leben;
ohne Liebesleidenschaft, ohne Gier, ohne Ehrgeiz und ohne Neid. Solange es so
steht, heiße ich mich ohne Bedenken einen glücklichen Menschen«.
So gibt es sicher noch viele. — Und ich, wenn ich mir Paris oder London
ansehe, so finde ich wirklich keinen Grund, mich der Pascalschen Verzweiflung
hinzugeben. Das sind Städte, die ganz und gar nicht öden Inseln gleichen.
Sie sind volkreich, wohlhabend, hochkultiviert, und die Leute darin sind so
glücklich, wie der Mensch es eben sein kann. Welcher
vernünftige Mensch stürzt sich in Verzweiflung, weil er nicht alle
Eigenschaften der Materie, weil er sein denkendes Wesen nicht durchschaut, weil
ihm Gott seine Geheimnisse nicht geoffenbart hat. Gerade so gut könnte
man darüber verzweifeln, daß man nicht vier Füße oder
zwei Flügel hat.
Pascal:
»Man denke sich eine Schar von Menschen in
Ketten, zum Tode verurteilt. Alltäglich werden einige von ihnen hingeschlachtet
vor den Augen der anderen, die einander hoffnungslos ansehen, bis die Reihe
an sie kommt. Das ist das Bild des Menschenloses«.
Voltaire: In Ketten liegen und hingeschlachtet
werden, das ist nicht Menschenlos. Die Welt ab einen Kerker ansehen und die
Menschen als Verbrecher, die man zum Schafott führt, das sind Wahnvorstellungen
eines Fanatikers. Die Welt für ein Schlaraffenland halten, in dem
nur Genuß auf uns wartet, ist ein Sybaritentraum. Daß die Erde,
die Tiere, die Menschen so sind wie sie sein sollen nach den Gesetzen der Vorsehung,
das ist, dächte ich, die Anschauung eines vernünftigen Menschen. Die
Menschen sind wie die Tiere und die Pflanzen dazu da, zu wachsen, eine Zeitlang
zu leben, ihresgleichen hervorzubringen und dann zu sterben. Die vom Hang zur
Satire freie Vernunft lehrt uns, daß der Mensch das vollkommenste, das
glücklichste und das am meisten langlebige aller Tiere ist. Nicht über
das Elend und die Vergänglichkeit. nein, über das Glück und die
Dauer unseres Lebens müssen wir uns wundern. Nur Hochmut und Anmaßung
kann verlangen, daß es uns besser ergehen soll als es uns ergeht.
Pascal: »Alle
Menschen möchten glücklich sein: das ist der Beweggrund alles menschlichen
Tuns, auch derer noch, die sich töten oder hängen; und doch in noch
nie jemand zu diesem erstrebten Ziele gelangt. Alle klagen in allen Ländern,
zu allen Zeiten, in allen Lebensaltern, in allen Lagen«.
Voltaire: Ich weiß, es ist süß zu klagen; man hat
zu allen Zeiten über die Gegenwart geschimpft. Nun komme ich aber aus meiner
Provinz nach Paris. Man führt mich in einen sehr schönen Saal, in
dem zwölfhundert Personen einer sehr schönen Musik lauschen.
Darauf verteilt sich diese Versammlung in Gruppen, die ein sehr gutes Souper
einnehmen, nach diesem Souper pflegen sie nicht durchaus unzufrieden mit der
Nacht zu sein. Ich sehe, wie alle schönen Künste in unserer Stadt
geehrt, die unangenehmen Hantierungen sehr gut entlohnt werden. Gebrechlichkeit
findet Unterstützung; den Unfällen beugt man vor. Jedermann genießt
oder hofft zu genießen, und die Hoffnung ist nichts Schlechteres als der
Genuß. Nun sage ich zu Pascal: Mein großer Mann, sind Sie verrückt?
Ich leugne nicht, daß sich Ströme von Leiden und Verbrechen über
die Erde ergossen haben. Aber als Pascal schrieb, waren wir sicher nicht mehr
so zu beklagen, und auch heute sind wir nicht mehr so elend. S.14ff.,
154ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 40, Was sagt Voltaire? Eine Auswahl aus den Werken. Herausgegeben, übersetzt
und eingeleitet von Dr. Paul Sakmann
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart
Über
das Gute und das Böse in der physischen und in der moralischen Welt
aus Voltaires »Dictionnaire
philosophique portatif« (Philosophisches Taschenwörterbuch)
Wir stehen hier bei einer der schwierigsten und wichtigsten Fragen. Sie umfaßt
das ganze menschliche Leben. Weit wichtiger wär' es freilich, ein Heilmittel
gegen unsere Übel zu finden, allein es gibt keine, und wir sind leider
auf das traurige Geschäft angewiesen, ihrem Ursprunge nachzuforschen. Über
diesen Ursprung hat man seit Zoroaster
und allem Anschein nach seit noch längerer Zeit gestritten. Um diesen Mischmasch
von Gutem und Bösem zu erklären, ersann man zwei Grundwesen, Oromazes,
den Urheber des Lichts, und Arimanes,
den Urheber der Finsternis; ferner die
Büchse der Pandora, die beiden Fässer des Zeus, Eva's verbotenen
Apfelbiß und so manche andere Systeme der Art. Der berühmte Bayle,
unser erster Dialektiker, dabei aber nicht eben unser größter Philosoph,
hat hinlänglich dargetan, wie schwer es den Christen, die nur einen und
zwar einen guten und gerechten Gott verehren, werden muß, die Einwürfe
der Manichäer, die zwei Götter,
einen guten und einen bösen, annahmen, genügend zu widerlegen.
So alt das System der Manichäer auch
sein mag, so ist es darum doch seinem Wesen nach um nichts vernünftiger.
Man müßte mathematische Lehrsätze konstruiert haben, um den
Satz zu wagen: »Es gibt zwei notwendige, höchste
Wesen, beide unendlich und eins so mächtig, wie das andere, die sich einander
bekriegt und sich endlich dahin vereinigt haben, daß über diesen
kleinen Planeten das eine die Schätze seiner Güte, das andere den
Schlund seiner Bosheit ausgießen soll.« Vergebens suchen
sie durch diese Hypothese die Ursache des Guten und des Bösen zu erklären.
Eher erreicht diesen Zweck noch die Fabel des Prometheus.
Allein jede Hypothese, die uns dazu dient, über etwas Rede zu stehen, und
die nicht überdies auf bestimmten Grundprinzipien beruht, ist verwerflich.
Abgesehen von der Offenbarung, in Folge deren man Alles glauben muß, erklären
die christlichen Lehrer den Ursprung des Guten und des Bösen nicht besser,
als die Anhänger Zoroaster's.
Sobald sie sagen, Gott ist ein zärtlicher Vater, ein gerechter Herrscher;
sobald sie mit jener Liebe und Güte, mit dieser ihnen bekannten Gerechtigkeit
nach menschlichem Maßstabe den Begriff der Unendlichkeit verbinden wollen,
geraten sie in die entsetzlichsten Widersprüche. Wie konnte dieser Herrscher
mit der unendlichen Fülle der Gerechtigkeit nach unsern Begriffen, dieser
Vater voll unendlicher Zärtlichkeit für seine Kinder, wie
konnte dies unendlich mächtige Wesen Geschöpfe nach seinem Bilde ins
Dasein rufen, um sie einen Augenblick darauf von einem bösartigen Wesen
in Versuchung führen, um sie in der Versuchung unterliegen, um sie, die
er doch unsterblich geschaffen, sterben zu lassen, um endlich ihre Nachkommenschaft
mit Elend und Verbrechen zu überhäufen? Wir reden hier nicht
von einem andern Widerspruch, der unserer schwachen Vernunft noch empörender
erscheint. Wie kann Gott, der doch später das Menschengeschlecht
durch den Tod seines einzigen Sohnes erlöst, oder der vielmehr, selbst
zum Menschen geworden, für die Menschen stirbt, wie kann er, sag' ich,
eben jenes Menschengeschlecht, für das er gestorben, fast ohne Ausnahme
dem Schrecken ewiger Qualen preisgeben? Gewiß, betrachten wir dies
System nur aus philosophischem Gesichtspunkte (ohne Beihilfe des Glaubens),
so ist kaum etwas Entsetzlicheres und Abscheulicheres denkbar. Es macht Gott
entweder zur Bosheit selbst, und zwar zur unendlichen Bosheit, die denkende
Wesen geschaffen, um sie ewig unglücklich zu machen, oder zur Ohnmacht
und Blödsinnigkeit selbst, die das Unglück ihrer Geschöpfe weder
vorher zu sehen, noch zu verhüten vermocht. Wir haben es hier aber nicht
mit dem ewigen Unglück zu tun, sondern nur mit dem Guten und Bösen,
was wir hienieden erfahren. Kein einziger Lehrer so vieler Kirchen, die über
diesen Punkt sämtlich mit einander im Kampfe liegen, hat niemals einen
Weisen zu überzeugen vermocht. […]
Ein Vater, der seine Kinder tötet, ist ein Ungeheuer.
Ein König, der seine Untertanen in die Falle gehen läßt, um
einen Vorwand zu haben, sie zu bestrafen, ist ein fluchwürdiger Tyrann.
Setzt ihr nun bei Gott dieselbe Güte voraus, die ihr von einem Vater, dieselbe
Gerechtigkeit, die ihr von einem König fordert, so ist jeder Ausweg, euern
Gott zu rechtfertigen, abgeschnitten; und verleiht ihr ihm unendliche Weisheit
und Güte, so macht ihr ihn dadurch nur unendlich verhaßt. Ihr erregt
den Wunsch, es möge kein Gott vorhanden sein; ihr gebt den Gottesleugner
Waffen in die Hände, und dieser wird immer berechtigt sein, euch zu sagen:
Es ist besser, gar keine Gottheit anzunehmen, als
ihr gerade ein solches Verhalten aufzubürden, wie ihr es bei den Menschen
strafen würdet.
Laßt uns also vor Allem einräumen: Es ziemt uns nicht,
Gott menschliche Attribute beizulegen, es ziemt uns nicht,
Gott nach unserm Bilde zu schaffen. Menschliche Gerechtigkeit, menschliche Güte,
menschliche Weisheit, das Alles läßt sich unmöglich auf ihn
übertragen. Mag man immerhin diesen Eigenschaften eine unendliche
Ausdehnung geben wollen, immer bleiben es nur menschliche Eigenschaften, deren
Grenzen wir erweitern. Es ist nicht anders, als wollten wir Gott unendliche
Dichtigkeit, unendliche Bewegung, unendliche Rundung, unendliche Teilbarkeit
beilegen. Diese Attribute können einmal nicht die seinen sein.
Die Philosophie lehrt uns, daß diese Welt ihre Einrichtung
von einem unbegreiflichen, ewigen, durch seine eigne Natur bestehenden Wesen
empfangen haben muß; aber, wie gesagt, die Natur gibt uns keine
Auskunft über die Attribute dieser Natur. Wir wissen,
was es nicht ist, nicht aber, was es ist.
Für Gott gibt es nichts Gutes oder Böses, weder physisches noch moralisches.
Was ist das physische Übel? Das größte aller Übel ist unstreitig
der Tod. Wir wollen jetzt sehen, ob der Mensch möglicher Weise unsterblich
hätte sein können.
Sollte ein Körper, wie der unsrige, unauflöslich und unvergänglich
sein, so dürfte er nicht aus Teilen bestehen; er dürfte nicht geboren
werden, dürfte keine Nahrung zu sich nehmen können, dürfte keines
Wachstums und keiner Veränderung fähig sein. Man prüfe alle diese
Fragen, die jeder Leser willkürlich ausdehnen kann, und man wird innewerden,
daß der Satz, der Mensch könne unsterblich
sein, einen Widerspruch enthält.
Wäre unser organischer Körper unsterblich, so würde der der Tiere
es auch sein. Nun liegt aber am Tage, daß alsdann der Erdball so viele
Geschöpfe gar bald nicht mehr würde ernähren können. Diese
unsterblichen Wesen, die nur vermittelst der Erneuerung ihres Körpers durch
die Nahrung fortleben, würden also aus Mangel an Stoff zu dieser Erneuerung
umkommen. Das Alles ist ein Gewebe von Widersprüchen. Es ließe sich
noch weit mehr hierüber sagen; allein jeder richtig denkende Leser sieht
ein, daß der Tod für alles Geborne unerläßlich war, daß
er weder ein Irrtum Gottes, noch ein Übel, noch eine Ungerechtigkeit, noch
eine Züchtigung des Menschen sein kann.
Geboren um zu sterben, kann der Mensch so wenig den Schmerzen,
als dem Tode entgehen. Sollte eine organische, mit Gefühl begabte
Substanz nie Schmerz empfinden, so müßten sich erst alle Naturgesetze
ändern; so dürfte die Materie nicht mehr teilbar sein, es dürfte
weder Schwere, noch Bewegung, noch Kraft mehr geben, ein Felsblock müßte
auf ein Tier fallen können, ohne es zu zerschmettern, es dürfte weder
durch das Wasser erstickt, noch durchs Feuer verbrannt werden können. Ein
für den Schmerz fühlloser Mensch wäre also ein eben so kontradiktorischer
Begriff, als ein unsterblicher Mensch.
Das Gefühl des Schmerzes war notwendig, um uns das Gesetz der Selbsterhaltung
einzuschärfen und uns so viel angenehme Empfindungen zu verschaffen, als
die allgemeinen Gesetze, denen Alles unterworfen ist, gestatten.
Empfänden wir keinen Schmerz, so würden wir
uns alle Augenblicke verwunden, ohne es zu fühlen. Ohne den Anfang
des Schmerzes würden wir keine Verrichtung des Lebens vollziehen, wir würden
es keinem Andern mitteilen, wir würden kein Vergnügen kennen. Der
Hunger ist ein beginnender Schmerz, der uns veranlaßt, Nahrung zu uns
zu nehmen; die Langeweile ein Schmerz, der uns zwingt, uns zu beschäftigen;
die Liebe ein Bedürfnis, das schmerzlich wird, wenn wir es nicht befriedigen.
Kurz, jeder Wunsch ist ein Bedürfnis, ein beginnender Schmerz. Der Schmerz
ist also die erste Triebfeder aller tierischen Handlungen.
Jedes gefühlbegabte Tier muß dem Schmerz unterworfen sein, wenn die
Materie teilbar ist. Der Schmerz war demnach so notwendig
wie der Tod. Er kann also weder ein Irrtum der Vorsehung, noch eine Bosheit,
noch eine Strafe sein. Hätten wir nur die Tiere leiden sehen, so
würden wir die Natur nicht anklagen. Wären wir, selbst gefühllos,
Zeugen des langsamen und schmerzhaften Todes der Tauben, auf die ein Sperber
herabschießt, um nach seiner Bequemlichkeit ihre Eingeweide zu verzehren,
und damit nichts Andres zu tun, als was wir selbst tun, so würde es uns
nicht einfallen, darüber zu murren.
Mit welchem Rechte aber sollen unsere Körper vor dem der Tiere etwas voraus
haben und nicht wie diese zerrissen werden können? Etwa weil wir ihnen
an Einsicht überlegen sind? Was hat aber hier die Einsicht mit einer teilbaren
Materie zu schaffen? Müssen oder können einige Begriffe mehr oder
weniger in einem Hirnschädel hindern, daß das Feuer uns verbrennt
und daß ein Felsen uns zerschmettert?
Das moralische Übel, worüber man so viele Bände geschrieben,
fällt im Grunde mit dem physischen völlig zusammen. Dies moralische
Übel ist weiter nichts als ein schmerzhaftes Gefühl, das ein organisches
Wesen dem andern verursacht. Räuberei, Beschimpfung etc. können nur
für ein Übel gelten, insofern sie ein solches verursachen.
Da wir nun aber sicherlich Gott nichts Böses zufügen können,
so zeigt uns die Vernunft (abgesehen vom Glauben, der ganz etwas Anderes ist)
auf das sonnenklarste, daß es in Beziehung auf das höchste Wesen
kein moralisches Übel geben kann.
Da das größte aller physischen Übel der Tod
ist, so ist jedenfalls das größte moralische Übel
der Krieg. Er zieht alle Verbrechen nach sich: Schmähungen und Verleumdungen
in den Kriegserklärungen, Treubruch in den Verträgen, Raub und Verheerung,
Schmerz und Tod in allen Gestalten.
Das Alles ist ein physisches Übel für den Menschen, in Beziehung auf
Gott aber sicher so wenig ein moralisches Übel, wie die Wut der Hunde,
die sich untereinander herumbeißen. Es ist ein eben so falscher, als schwacher
Gemeinplatz, zu sagen, nur die Menschen erwürgten einander. Die Wölfe,
Hunde, Katzen, Hähne, Wachteln etc. liegen unter sich, unter ihrer eigenen
Gattung im Kampfe; die Buschspinnen fressen einander auf; fast bei allen Tieren
schlagen sich die Männchen um den Besitz der Weibchen. Dieser Krieg ist
die Folge der Naturgesetze, der im Blute liegenden Dispositionen;
Alles steht im Zusammenhange mit einander, Alles ist notwendig.
Die Natur gab dem Menschen, Eins ins Andere gerechnet, ungefähr
22 Lebensjahre, das will sagen: von 1000
Kindern, die in einem Monat geboren werden, sterben die einen in
der Wiege, andere leben bis zum 30., wieder
andere bis zum 50., einige bis zum
80. Jahre, so daß sich, wenn man nun die Durchschnittsrechnung
macht, für jeden etwa 22 Jahre ergeben.
Was ist nun wohl Gott daran gelegen, ob man im
Kriege fällt oder an einem hitzigen Fieber stirbt? Der Krieg rafft weniger
Menschen hinweg als die Blattern. Die Plage des Kriegs ist vorübergehend,
die der Blattern dagegen herrscht beständig auf der ganzen Erde; und alle
Plagen sind so kombiniert, daß jene Durchschnittssumme von 22
Lebensjahren im Allgemeinen als stehend gelten kann.
Der Mensch beleidigt Gott,
indem er seinen Nächsten tötet, sprecht
ihr. Wenn das ist, so sind die Regierer der Nationen entsetzliche Verbrecher;
denn aus erbärmlichem Eigennutz, um nichtswürdiger Interessen willen,
die sie lieber aufgeben sollten, liefern sie eine unsägliche Menge von
Ihresgleichen an die Schlachtbank und rufen obendrein Gott dabei an. Allein
wie sollten sie (philosophisch gesprochen) Gott
dadurch beleidigen? Wie die Tiger und Krokodile ihn beleidigen. Offenbar ist
es nicht Gott, den sie quälen, sondern ihr Nächster. Nur dem Menschen
gegenüber kann der Mensch schuldig sein. Ein Straßenräuber kann
Gott nicht bestehlen. Was liegt dem ewigen Wesen
daran, ob eine Handvoll gelben Metalls in Hieronymus'
oder Bonaventura's Händen
ist? Wir haben notwendige Wünsche, notwendige Leidenschaften, notwendige
Gesetze, um sie zu unterdrücken; und während
wir uns auf unserm Ameisenhaufen um einen Strohhalm zanken, geht das Universum
seinen Gang nach ewigen und unwandelbaren Gesetzen, denen auch das Atom, was
wir Erde nennen, unterworfen ist. S.2ff.
Nach: Voltaire: Ueber das Gute und das Böse in
der physischen und in der moralischen Welt. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie
von Platon bis Nietzsche
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin
Über
den Satz: »Alles ist gut«.
aus Voltaires »Dictionnaire
philosophique portatif« (Philosophisches Taschenwörterbuch)
Ich bitte euch, ihr Herren, mir den Satz: »Alles
ist gut«,
zu erklären, denn ich verstehe ihn nicht.
Bedeutet es, Alles ist der Theorie der bewegenden Kräfte gemäß
eingerichtet und angeordnet, so verstehe ich das und räume es ein.
Versteht ihr darunter, daß Jeder sich wohl befindet, daß Jeder zu
leben hat, daß Niemand leidet? Ihr wißt, wie falsch das ist.
Ist eure Ansicht die, daß all das beklagenswerte
Elend, welches auf der Erde lastet, in Beziehung
auf Gott gut ist und daß er sich dessen freut? An eine solche Scheußlichkeit
glaube ich nicht und ihr eben so wenig.
Ich bitte euch, erklärt mir den Satz: »Alles
ist gut«. Der superkluge
Platon ließ Gott gnädigst die freie Wahl zwischen
fünf Welten, und zwar aus dem Grunde, weil es, wie er sagt, nur fünf
regelmäßige Körper in der Geometrie giebt, nämlich das
Tetraedron, den Kubus, das Hexaedron, das Dodekaedron und das Ikosaedron. Allein
warum will er der göttlichen Macht so enge Schranken setzen? Warum will
er ihr nicht die Kugel gestatten, die noch regelmäßiger ist, und
selbst den Kegel, die mehrseitige Pyramide, den Zylinder etc.?
Gott wählte nach ihm notwendiger Weise die beste aller möglichen Welten.
Dies System wurde von verschiedenen christlichen Philosophen angenommen, obgleich
es dem Dogma der Erbsünde zu widerstreiten scheint; denn unser Erdball
ist nach jener Katastrophe der bestmögliche Erdball. Er war es vorher;
er könnte es mithin noch jetzt sein; viele Leute aber
glauben, daß er, weit entfernt der beste zu sein, vielmehr der schlechteste
aller denkbaren Erdbälle ist.
Leibniz bekannte
sich in seiner Theodicäe zu Platon's
System. Mehr als ein Leser beklagte sich, den Einen so wenig zu verstehen, wie
den Andern. Was uns betrifft, so bekennen wir, nachdem wir Beide zu wiederholten
Malen durchgelesen, unumwunden, wie wir zu tun pflegen, unsere Unwissenheit;
und da das Evangelium uns über diese Frage nichts offenbart hat, verharren
wir ohne Gewissensskrupel in unserer Finsternis.
Leibniz, der von Allem redet, läßt
sich auch über die Erbsünde vernehmen; und da Jedermann, der ein System
hat, Alles in seinen Plan zu bringen weiß, was damit im Widerspruch stehen
könnte, so stellte er den Satz auf, daß der Ungehorsam gegen Gott
und das daraus hervorgegangene schreckliche Unheil integrierende Teile der besten
aller möglichen Welten, notwendige Ingredienzien jeder möglichen Glückseligkeit
seien. »Calla, calla, señor Don Carlos:
todo chese haze es por su ben«.
Wie! aus einem Orte des Wohllebens vertrieben werden, aus einem Orte, wo man
ewig gelebt haben würde, wenn man nicht unglücklicher Weise einen
Apfel gegessen hätte! Wie! im Elend elende und verbrecherische Kinder zeugen,
die selbst alle Leiden erdulden und sie wieder auf andere vererben werden! Wie!
alle Krankheiten ausstehen, allen Kummer und Verdruß erfahren, eines schmerzhaften
Todes sterben und zur Erfrischung Ewigkeiten hindurch in der Hölle braten:
das Alles sollte das beste Los sein, das uns beschieden werden könnte?
Das ist doch wahrhaftig nicht allzu gut für uns, und inwiefern könnte
es wohl gut für Gott
sein?
Leibniz fühlte wohl, daß sich
hierauf nichts erwidern lasse: auch schrieb er dicke Bücher, worin er selbst
nicht verstand, was er sagte. Das Dasein des Übels mag allenfalls ein
Lucullus lachend hinwegleugnen wollen, wenn er sich wohl befindet
und mit seinen Freunden und seiner Geliebten in seinem Apollosaal stattliche
Mahlzeit hält. Allein er stecke nur den Kopf zum Fenster hinaus, so wird
er Unglückliche sehen; er bekomme das Fieber, so ist er es selbst.
Ich zitiere nicht gern. Es ist gewöhnlich eine ziemlich mißliche
Sache damit; man läßt das, was der zitierten Stelle vorhergeht oder
darauf folgt, unberücksichtigt und setzt sich tausenderlei Kritteleien
aus. Hier kann ich indessen nicht umhin, den Kirchenvater
Lactanz zu zitieren, der im 13. Kapitel seines Buchs vom Zorne Gottes
dem Epikur folgende Worte in den Mund legt:
»Entweder will Gott das Böse aus der Welt entfernen und kann es nicht,
oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht,
oder endlich er will es und kann es. Will er es und kann es nicht, so ist das
ein Unvermögen, was dem Wesen Gottes widerspricht; kann er es und will
es nicht, so ist es Bosheit, die seiner Natur nicht minder zuwider läuft;
will er es nicht und kann es auch nicht, so ist es Bosheit und Unvermögen
zugleich; will er es aber und kann es auch (was der einzige
von diesen Fällen ist, der dem Wesen der Gottheit entspricht): woher
kommt dann das Böse auf Erden?«
Das Argument ist schlagend. Auch beantwortet Lactanz
es sehr schlecht, indem er sagt, Gott wolle das
Böse, habe uns aber die Weisheit verliehen, vermittelst deren man das Gute
erwirbt. Man muß gestehen, daß diese Antwort im Vergleich
mit dem Einwurf sehr schwach ist; denn sie setzt voraus,
daß Gott die Weisheit nicht anders verleihen konnte, als indem er das
Böse ins Dasein rief; und dann mit welcher allerliebsten Weisheit sind
wir ausgerüstet!
Der Ursprung des Bösen war von jeher ein Abgrund,
dessen Boden Niemand zu sehen bekommen hat. Dies trieb eben so viele
alte Philosophen und Gesetzgeber dermaßen in die Enge, daß sie ihre
Zuflucht zu zwei Grundprinzipien, einem guten und einem
bösen, nahmen. Typhon war
das böse Prinzip bei den Ägyptern,
Arimanes bei den Persern. Die Manichäer
nahmen bekanntlich diese Theologie an; da aber diese Leute nie, weder mit dem
guten, noch mit dem bösen Prinzip persönlich verkehrten, darf man
ihnen nicht aufs Wort glauben.
Unter den Dummheiten, wovon diese Welt strotzt und die man auch zu den Übeln
derselben rechnen kann, ist es keine der geringsten, zwei allmächtige Wesen
anzunehmen, die sich darum schlagen, welches von ihnen in den Angelegenheiten
dieser Welt am tätigsten die Hände im Spiel haben soll, und die einen
Vertrag schließen, wie die beiden Ärzte im Molière:
»Lassen Sie mir das Brechmittel, so lasse ich Ihnen den Aderlaß«.
Basilides behauptete im ersten Jahrhundert der
Kirche, sich hierin an die Lehre der Platoniker
lehnend, Gott habe seinen untergeordnetsten
Engeln aufgetragen, unsere Welt zu schaffen, und diese hätten, in
Ermangelung hinreichender Geschicklichkeit, ein Machwerk
zu Stande gebracht, wie wir es vor uns sehen. Diese theologische Fabel
hält nicht Stand vor dem furchtbaren Einwurf, daß
es nicht im Wesen eines allmächtigen und allweisen
Gottes liegt, ein Weltgebäude von Baumeistern aufführen zu
lassen, die nichts von der Sache verstehen.
Simon, der den Einwurf vorausahnte, kömmt
ihm durch die Erzählung zuvor, daß der Engel, welcher der Werkstätte
vorgestanden, verdammt worden sei, weil er seine Sache so schlecht gemacht;
allein das höllische Feuer, worin dieser Engel brennt, heilt uns nicht
von unsern Übeln.
Die Geschichte der Pandora
bei den Griechen widerlegt den Einwurf eben so wenig. Die Büchse, worin
sich alle Übel befinden und auf deren Boden die Hoffnung zurückbleibt,
ist zwar eine schöne Allegorie; allein diese Pandora
wurde vom Hephästos nur verfertigt,
um sich am Prometheus zu rächen,
der einen Menschen aus Kot gebildet hatte.
Die Inder trafen es nicht besser. Nachdem Gott den Menschen geschaffen, gab
er ihm eine Arznei, die ihmeine ewige Gesundheit sicherte. Der Mensch belud
seinen Esel damit, der Esel hatte Durst, die Schlange zeigte ihm eine Quelle,
und während der Esel trank, nahm die Schlange die Arznei zu sich.
Die Syrer ersannen folgende Fabel. Der Mann und das Weib, die im vierten Himmel
erschaffen waren, ließen sich einst gelüsten, statt der Ambrosia,
ihrer natürlichen Nahrung, einen Kuchen zu essen. Die Ambrosia hatte sie
durch die Haut ausgedünstet, nachdem sie aber von dem Kuchen gegessen,
mußten sie zu Stuhle gehen. Der Mann und das Weib baten einen Engel, ihnen
zu zeigen, wo das geheime Kabinet sei. »Seht ihr,«
sprach der Engel, »jenen kleinen Planeten, ein Punkt,
ein Nichts an Größe, dort unten einige sechzig Millionen Meilen von
hier, das ist das heimliche Gemach des Weltalls, macht schnell, daß ihr
hinkommt.« Sie gingen hin, man ließ sie dort, und seit dieser
Zeit war unsre Welt, was sie dermalen ist.
Man kann nun aber immer auch die Syrer fragen, warum Gott es zugab, daß
der Mensch den Kuchen aß und daß uns daraus eine so unsägliche
Menge der schrecklichsten Übel erwuchs.
Von jenem vierten Himmel gehe ich schnell zu Lord
Bolingbroke über, um der Langenweile zu entgehen. Dieser Schriftsteller,
unstreitig ein großer und tiefer Geist, gab dem berühmten Pope
die Grundidee zu seinem Gedicht über den Satz: Alles
ist gut, die man in der That Wort für Wort in Bolingbroke's
nachgelassenen Schriften wiederfindet und die Lord
Shaftesbury schon früher seinen Charakteristiken einverleibt
hatte. In dem Kapitel von den Sittenlehrern bei Shaftesbury
findet man wörtlich Folgendes:
»Auf jene Klagen über die Mängel der Natur
läßt sich Mancherlei erwidern. Wie konnte sie (heißt es) so
ohnmächtig und mangelhaft aus den Händen eines vollkommnen Wesens
hervorgehen? Allein ich stelle in Abrede, daß sie mangelhaft ist - - Ihre
Schönheit ergibt sich eben aus den Widersprüchen, und die Harmonie
des Ganzen entspringt aus einem beständigen Kampf - - Jedes Wesen muß
dem andern geopfert werden; die Pflanzen den Tieren, die Tiere der Erde - ;
und die Gesetze der Zentralkraft und der Schwere werden nicht einem armseligen
Tiere zu Liebe gestört werden, das binnen Kurzem durch eben diese Gesetze,
mögen sie es immerhin während seinesLebens beschützen, wieder
zu Staub wird«.
Bolingbroke, Shaftesbury und Pope,
der ihre Gedanken in das Gold seiner Verse faßte, lösen die Frage
nicht befriedigender als die übrigen. Ihr »Alles
ist gut« will weiter nichts sagen, als das Alles
durch unwandelbare Gesetze regiert wird. Allein wer weiß das nicht?
Ihr lehrt uns nichts Neues, wenn ihr die Bemerkung, die alle kleine Kinder bereits
an den Schuhen abgelaufen haben, wiederholt, daß nämlich die Fliegen
dazu da sind, von den Spinnen gefressen zu werden, wie die Spinnen von den Schwalben,
die Schwalben von den Spechten, die Spechte von den Adlern, die Adler, um von
den Menschen getötet zu werden, die Menschen, um sich einander zu töten
und von den Würmern gefressen zu werden, so wie demnächst noch von
den Teufeln, wenigstens von tausenden
immer 999.
Das ist eine bündige und konsequente Ordnung bei den Tieren jeder Gattung;
überall herrscht Ordnung.
Wenn sich in meiner Blase ein Stein bildet, so geschieht das vermittelst einer
ganz bewundernswürdigen Mechanik: steinige Substanzen gehen zu kleinen
Teilen in mein Blut über, werden in den Nieren filtriert, passieren durch
die Uriteren, lagern sich in meiner Blase und, vermöge einer ausgezeichneten
Newton'schen Attraktionskraft, sammeln sie sich dort an.
Der Stein bildet sich und wird immer größer. In Folge der schönsten
Einrichtung von der Welt stehe ich Schmerzen aus, die zehnmal ärger sind
als der Tod. Ein Chirurg, der die vom Tubalkain erfundene Kunst vervollkommnet
hat, stößt mir ein spitzes und scharfes Eisen in das Perinäum,
faßt meinen Stein mit seiner Zange, vermöge eines notwendigen Mechanismus
zerbröckelt er bei seinen Bemühungen, und in Folge des nämlichen
Mechanismus sterbe ich unter entsetzlichen Qualen. Alles
das ist gut; Alles das ist die augenscheinliche Folge unwandelbarer
physischer Prinzipe. Das gebe ich zu und wußte es längst so gut,
wie Ihr.
Wären wir gefühllos, so ließe sich gegen diese Physik nichts
einwenden. Aber davon ist hier nicht die Rede; wir fragen Euch, ob es keine
fühlbaren Übel gibt, und woher sie kommen? »Es
gibt keine Übel,« sagt Pope
in seiner vierten Epistel über den Satz: Alles
ist gut; »gibt es besondere Übel,
so machen sie in ihrer Gesamtheit das allgemeine Wohl aus«.
Ein seltsames allgemeines Wohl, in der Tat, das aus dem Stein, der Gicht, allen
möglichen Verbrechen, allen möglichen Leiden, dem Tode und der Verdammnis
bestehen soll.
Der Fall der Menschen ist das Pflaster, welches wir auf alle jene besondern
Krankheiten des Körpers und der Seele legen, die Ihr in ihrer Gesamtheit
allgemeine Gesundheit nennt. Allein Shaftesbury
und Bolingbroke wagten die Erbsünde
zu bestreiten. Pope redet
nicht davon. Offenbar untergräbt ihr System die christliche Religion in
ihren Grundfesten und erklärt doch durchaus nichts.
Gleichwohl wurde dies System seit einiger Zeit von mehreren Theologen, die gern
Widersprüche zugeben, gebilligt. Immerhin! man darf Niemand den Trost mißgönnen,
nach bestem Vermögen über die Flut von Übeln, die uns überschwemmt,
zu philosophieren. Kranken, die man einmal aufgegeben hat, mag man billiger
Weise erlauben, zu essen, was sie wollen. Man hat sogar dies System für
sehr trostreich erklären wollen. »Gott,«
sagte Pope,
»sieht mit gleichem Auge den Untergang des Helden
und den Tod des Sperlings, die Vernichtung eines Atoms und den Zusammensturz
ganzer Sonnensysteme, das Platzen einer Seifenblase und einer Welt«.
Nun, das gesteh' ich, ein herrlicher Trost! Findet Ihr nicht eine beträchtliche
Linderung Eures Schmerzes in der Erklärung Lord Shaftesbury's,
der da sagt, Gott werde seine ewigen
Gesetze nicht eines so armseligen Tiers wegen, wie der Mensch sei, stören?
Wenigstens muß man gestehen, daß dies armselige Tier wohl berechtigt
ist, sein Los in aller Demut zu beklagen und, indem es klagt, nachzuforschen,
warum diese ewigen Gesetze nicht dem Wohlbefinden jedes Einzelwesens gemäß
eingerichtet sind.
Das System: Alles ist gut, stellt den
Urheber der ganzen Natur
nur als einen mächtigen und böswilligen König hin, der
wenig darnach fragt, ob es 4 oder 500,000
Menschen das Leben kostet, und ob die übrigen ihr Dasein
in Jammer und Elend hinschleppen, wenn er nur seine Zwecke erreicht.
Weit entfernt also sehr tröstlich zu sein, muß vielmehr die Hypothese
von der besten aller möglichen Welten die Philosophen, welche sich dazu
bekennen, in Verzweiflung setzen. Die Frage nach dem Ursprunge und Zweck des
Guten und des Bösen bleibt ein unentwirrbares Chaos für Jeden, der
in gutem Glauben danach forscht. Sie ist eine Übung des Scharfsinns für
Leute, die gern disputieren; sie kommen mir wie Galeerensklaven vor, die mit
ihren Ketten spielen. Was das gedankenlose Volk betrifft, so gleicht es so ziemlich
den Fischen, die man aus einem Flusse in einen Behälter gebracht hat. Sie
haben keine Ahnung davon, daß sie als Fastenspeise verzehrt werden sollen.
Auch erfahren wir durch uns selbst nicht das Geringste von den Ursachen unsers
Geschicks.
Fast alle Kapitel der Metaphysik können wir füglich mit jenen beiden
Buchstaben beschließen, wodurch die römischen Richter erklären,
daß eine Sache ihnen nicht klar sei: N. L., von
liquet. Vor Allem aber wollen wir die Elenden zum Schweigen bringen,
die, wie wir unter der Last menschlichen Elends seufzend, dasselbe noch durch
die Raserei der Verleumdung vergrößern. Wir wollen ihre fluchwürdigen
Betrügereien zu Boden schlagen und im Glauben an die Vorsehung Schutz und
Zuflucht suchen.
Es gab Vernünftler, die behaupten wollten, es liege nicht in der Natur
des Wesens aller Wesen, daß die Dinge anders sein könnten, als sie
sind. Das ist ein hartes System; ich kenne es nicht genau genug, um mich nur
an die Untersuchung desselben zu wagen. S.2ff.
Nach: Voltaire: Ueber den Satz: »Alles ist gut«.
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin
Mahomet
und Konfuzius
Mahomet glaube ich gut zu kennen; ich habe ihn
gründlich studiert. Ich habe ja nicht die Ehre, die Talente zu haben, deren
er sich rühmt. Zwölf Frauen wären mir eine starke Verlegenbeit.
Ich werde nicht wie er auf einer Stute gen Himmel fahren; Sie auch nicht; aber
ich glaube, wir sind viel glücklicher als er. Er hat ein verteufeltes Leben
zu führen gehabt mit allen seinen Frauen. Von allen
Leuten seines Schlags liebe ich nur Konfuzius,
darum habe ich auch sein Bild in meinem Betzimmer und ich verehre ihn, wie es
sich gehört. S.183
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 40, Was sagt Voltaire? Eine Auswahl aus den Werken. Herausgegeben, übersetzt
und eingeleitet von Dr. Paul Sakmann
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart