Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821 - 1894)
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Deutscher
Physiologe und Physiker, der als Professor der Physiologie in Königsberg,
Bonn und Heidelberg und seit 1871 Professor der Physik in Berlin lehrte.
Helmholtz wurde 1888 erster Präsident der neugegründeten Physikalisch-Technischen
Reichsanstalt in Berlin. Er entdeckte 1842 den Ursprung der Nervenfasern aus den Ganglienzellen und maß 1850 erstmals die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
der Nervenerregung. Auf dem Gebiet der Musik wurde er mit seinem Werk »Die
Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die
Theorie der Musik« (1863) Begründer der modernen musikalischakustischen
Forschung. Im Forschungsbereich der Physik klärte Helmholtz die Bedeutung des Energieprinzips, behandelte die Hydrodynamik der Wirbelbewegungen (1858), wurde durch Untersuchungen zur Elektrodynamik seit 1870 zum Vorkämpfer der Maxwellschen Theorie und stellte die Bedeutung des Prinzips der kleinsten
Wirkung (1884-94) klar heraus. 1881 führte er den Begriff der »freien
Energie« ein, ebenso den des Elementarquantums der Elektrizität und veröffentlichte 1882/83 seine Studien »Zur Thermodynamik chemischer Vorgänge«. Er beschäftigte sich auch mit meteorologischen
Erscheinungen. Unabhängig von Charles Babbage erfand er 1856 den Augenspiegel,
das Ophthalmometer und 1857 das Telestereoskop, das Scherenfernrohr und
bildete die Youngsche Dreifarbentheorie des Sehens weiter. Siehe auch Wikipedia |
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Entsprechen
unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?
Das Grundproblem, welches jene Zeit an den Anfang aller Wissenschaft stellte,
war das der Erkenntnistheorie: »Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken?
in welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?«Auf
dieses Problem stoßen Philosophie und Naturwissenschaft von zwei entgegengesetzten
Seiten: es ist eine gemeinsame Aufgabe beider. Die erstere, welche die geistige
Seite betrachtet, sucht aus unserem Wissen und Vorstellen auszuscheiden, was
aus den Einwirkungen der Körperwelt herrührt, um rein hinzustellen,
was der eigenen Tätigkeit des Geistes angehört. Die Naturwissenschaft
im Gegenteil sucht abzuscheiden, was Definition, Bezeichnung, Vorstellungsform,
Hypothese ist, um rein übrig zu behalten, was der Welt der Wirklichkeit
angehört, deren Gesetze sie sucht. Beide suchen dieselbe Scheidung zu vollziehen.
wenn auch jede für einen anderen Teil des Geschiedenen interessiert ist.
In der Theorie der Sinneswahrnehmungen und in den Untersuchungen über die
Grundprinzipien der Geometrie, Mechanik, Physik kann auch der Naturforscher
diesen Fragen nicht aus dem Wege gehen. Da meine eigenen Arbeiten vielfach in
beide Gebiete eingetreten sind, so will ich versuchen Ihnen einen Überblick
von dem zu geben, was von Seiten der Naturforschung in dieser Richtung getan
ist. Natürlich sind schließlich die Gesetze des Denkens bei den naturforschenden
Menschen keine anderen als bei den philosophierenden. In allen Fällen,
wo die Tatsachen der täglichen Erfahrung, deren Fülle doch schon sehr
groß ist, hinreichten um einem scharfsinnigen Denker von unbefangenem
Wahrheitsgefühl einigermaßen genügendes Material für ein
richtiges Urteil zu gehen, muss der Naturforscher sich damit begnügen
anzuerkennen, dass die methodisch vollendete Sammlung der Erfahrungstatsachen
das früher gewonnene Resultat einfach bestätigt. Aber es kommen auch
gegenteilige Fälle vor. Dies als Entschuldigung dafür, — wenn
es entschuldigt werden muß. - daß im Folgenden nicht überall
neue, sondern großenteils längst gegebene Antworten auf die betreffenden
Fragen wieder gegeben werden. Oft genug gewinnt ja auch ein alter Begriff, an
neuen Tatsachen gemessen. eine lebhaftere Beleuchtung und ein neues Ansehen. S.135 [...]
Wenn »begreifen« heißt: Begriffe bilden, und wir im Begriff
einer Klasse von Objekten zusammensuchen und zusammenfassen, was sie von gleichen
Merkmalen an sich tragen: so ergibt sich ganz analog, dass der Begriff
einer in der Zeit wechselnden Reihe von Erscheinungen das zusammenzufassen suchen
muss, was in allen ihren Stadien gleich bleibt. Der Weise, wie SCHILLER es ausspricht:
Sucht
das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern,
Suchet den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.
(Schiller)
Wir nennen, was ohne Abhängigkeit von Anderem gleich bleibt in allem Wechsel
der Zeit: die Substanz; wir nennen das gleichbleibende Verhältnis
zwischen veränderlichen Größen: das sie verbindende Gesetz.
Was wir direkt wahrnehmen, ist nur das Letztere. Der Begriff der Substanz kann
nur durch erschöpfende Prüfungen gewonnen werden und bleibt immer
problematisch, insofern weitere Prüfung vorbehalten wird. Früher galten
Licht und Wärme als Substanzen, bis sich später herausstellte, daß
sie vergängliche Bewegungsformen seien, und wir müssen immer noch
auf neue Zerlegungen der jetzt bekannten chemischen Elemente gefaßt sein.
Das erste Produkt des denkenden Begreifens der Erscheinung ist das Gesetzliche.
Haben wir es so weit rein ausgeschieden, seine Bedingungen so vollständig
und sicher abgegrenzt und zugleich so allgemein gefaßt, daß für
alle möglicher Weise eintretenden Fälle der Erfolg eindeutig bestimmt
ist, und wir gleichzeitig die Überzeugung gewinnen, es habe sich bewährt
und werde sich bewähren in aller Zeit und in allen Fällen: dann erkennen
wir es als ein unabhängig von unserem Vorstellen Bestehendes an und nennen
es die Ursache, d. h. das hinter dem Wechsel ursprüngliche Bleibende
und Bestehende; nur in diesem Sinne ist meiner Meinung nach die Anwendung des
Worts gerechtfertigt, wenn auch der gemeine Sprachgebrauch es in sehr verwaschener
Weise überhaupt für Antezedens [»Grund,
Ursache, Vorausgehendes«] oder Veranlassung anwendet. Insofern
wir dann das Gesetz als ein unsere Wahrnehmung und den Ablauf der Naturprozesse
Zwingendes, als eine unserem Willen gleichwertige Macht anerkennen, nennen wir
es »Kraft«. Dieser Begriff der uns entgegentretenden Macht ist unmittelbar durch die Art und Weise bedingt, wie unsere einfachsten Wahrnehmungen zu Stande kommen. Von Anfang an scheiden sich die Änderungen, die wir selbst
durch unsere Willensakte machen, von solchen, die durch unseren Willen nicht
gemacht, durch unseren Willen nicht zu beseitigen sind. Es ist namentlich der
Schmerz, der uns von der Macht der Wirklichkeit die eindringlichste Lehre gibt.
Der Nachdruck fällt hierbei auf die Beobachtungstatsache, dass der
wahrgenommene Kreis der Präsentabilien [»dargebotenen
Gegenstände«] nicht durch einen bewussten Akt unseres
Vorstellens oder Willens gesetzt ist. FICHTES »Nicht—Ich«ist hier der genau zutreffende negative Ausdruck. Auch dem Träumer
erscheint, was er zu sehen und zu fühlen glaubt, nicht durch seinen Willen oder durch die bewusste Verkettung seiner Vorstellungen hervorgerufen zu
sein, wenn auch unbewusst das Letztere in Wirklichkeit oft genug der Fall
sein möchte; auch ihm ist es ein Nicht—Ich. Ebenso dem Idealisten,
der es als die Vorstellungswelt des Weltgeistes ansieht.
Wir haben in unserer Sprache eine sehr glückliche Bezeichnung für
dieses, was hinter dem Wechsel der Erscheinungen stehend auf uns einwirkt, nämlich: »das Wirkliche«. Hierin ist nur das Wirken ausgesagt; es fehlt die
Nebenbeziehung auf das Bestehen als Substanz, welche der Begriff des Reellen,
d. h. des Sachlichen, einschließt. In den Begriff des Objektiven andererseits
schiebt sich meist der Begriff des fertigen Bildes eines Gegenstandes ein, welcher
nicht auf die ursprünglichsten Wahrnehmungen passt. Auch bei dem folgerichtig
Träumenden müßten wir diejenigen seelischen Zustände oder
Motive, welche ihm die dem gegenwärtigen Stande seiner erträumten
Welt gesetzmäßig entsprechenden Empfindungen zur Zeit unterschieben,
als wirksam und wirklich bezeichnen. Andererseits ist klar, daß eine Scheidung
von Gedachtem und Wirklichem erst möglich wird, wenn wir die Scheidung
dessen, was das Ich ändern und nicht ändern kann, zu vollführen
wissen. Diese wird aber erst möglich, wenn wir erkennen, welche gesetzmäßigen
Folgen die Willensimpulse zur Zeit haben. Das Gesetzmäßige ist daher
die wesentliche Voraussetzung für den Charakter des Wirklichen.
Dass es eine Contradictio in adjecto [»widersprechende
Bergriffsverknüpfung«] sei, das Reelle oder KANTS »Ding
an sich« in positiven Bestimmungen vorstellen zu wollen, ohne es doch
in die Form unseres Vorstellens aufzunehmen, brauche ich Ihnen nicht auseinanderzusetzen.
Das ist oft besprochen. Was wir aber erreichen können, ist die Kenntnis
der gesetzlichen Ordnung im Reich des Wirklichen, diese freilich nur dargestellt
in dem Zeichensystem unserer Sinneseindrücke.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.
(Goethe)
Dass wir GOETHE hier und weiter mit uns auf demselben Wege
finden, halte ich für ein günstiges Zeichen. Wo es sich um weite Ausblicke
handelt, können wir seinem hellen und unbefangenen Blick für Wahrheit
wohl vertrauen. Er verlangte in der Tat von der Wissenschaft, sie solle nur
eine künstlerische Anordnung der Tatsachen sein und keine abstrakten Begriffe
darüber hinaus bilden, die ihm leere Namen zu sein schienen und die Tatsachen
nur verdüsterten. In demselben Sinne etwa bezeichnete es neuerdings G.
KIRCHHOFF als die Aufgabe der Mechanik, der abatraktesten unter den Naturwissenschaften,
die in der Natur vorkommenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste
Weise zu beschreiben. Was das ,,Verdüstern“ betrifft, so geschieht
dies in der Tat, wenn wir im Reich der abstrakten Begriffe stehen bleiben, und
uns nicht den tatsächlichen Sinn derselben auseinander legen, d. h. uns
klar machen, welche beobachtbaren neuen gesetzlichen Verhältnisse zwischen
den Erscheinungen daraus folgen. Jede richtig gebildete Hypothese stellt ihrem
tatsächlichen Sinn nach ein allgemeineres Gesetz der Erscheinungen hin,
als wir bisher unmittelbar beobachtet haben; sie ist ein Versuch zu immer allgemeinerer
und umfassenderer Gesetzlichkeit aufzusteigen. Was sie an Tatsachen Neues behauptet,
muß durch Beobachtung und Versuch geprüft und bestätigt werden.
Hypothesen, die einen solchen tatsächlichen Sinn nicht haben, oder überhaupt
nicht sichere und eindeutige Bestimmungen für die unter sie fallenden Tatsachen
geben, sind nur als wertlose Phrasen zu betrachten.
Jede Zurückführung der Erscheinungen auf die zu Grunde liegenden Substanzen
und Kräfte behauptet etwas Unveränderliches und Abschließendes
gefunden zu haben. Zu einer unbedingten Behauptung dieser Art sind wir nie berechtigt;
das erlaubt weder die Lückenhaftigkeit unseres Wissens, noch die Natur
der Induktionsschlüsse, auf denen all unsere Wahrnehmung des Wirklichen
vom ersten Schritt an beruht.
Jeder Induktionsschluß stützt sich auf das Vertrauen, daß ein
bisher beobachtetes gesetzliches Verhalten sich auch in allen noch nicht zur
Beobachtung gekommenen Fällen bewähren werde. Es ist dies ein Vertrauen
auf die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens. Die Gesetzmäßigkeit
aber ist die Bedingung der Begreifbarkeit. Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit
ist also zugleich Vertrauen auf die Begreifbarkeit der Naturerscheinungen. Setzen
wir aber voraus, daß das Begreifen zu vollenden sein wird, daß wir
ein letztes Unveränderliches als Ursache der beobachteten Veränderungen
werden hinstellen können, so nennen wir das regulative Prinzip unseres
Denkens, was uns dazu treibt, das Kausalgesetz. Wir können sagen,
es spricht das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Welt
aus. Das Begreifen, in dem Sinne, wie ich es beschrieben habe, ist die Methode,
mittels deren unser Denken die Welt sich unterwirft, die Tatsachen ordnet, die
Zukunft voraus bestimmt. Es ist sein Recht und seine Pflicht, die Anwendung
dieser Methode auf alles Vorkommende auszudehnen, und wirklich hat es auf diesem
Wege schon große Ergebnisse geerntet. Für die Anwendbarkeit des Kausalgesetzes
haben wir aber keine weitere Bürgschaft, als seinen Erfolg. Wir könnten
in einer Welt leben, in der jedes Atom von jedem anderen verschieden wäre,
und wo es nichts Ruhendes gäbe. Da würde keinerlei Regelmäßigkeit
zu finden sein, und unsere Denktätigkeit müßte ruhen.
Das Kausalgesetz ist wirklich ein a priori gegebenes, ein tranazendentales Gesetz.
Ein Beweis desselben aus der Erfahrung ist nicht möglich; denn die ersten
Schritte der Erfahrung sind nicht möglich, wie wir gesehen haben, ohne
die Anwendung von Induktionsschlüssen, d. h. ohne das Kausalgesetz; und
aus der vollendeten Erfahrung, wenn sie auch lehrte, das Alles bisher Beobachtete
gesetzmäßig verlaufen ist, — was zu versichern wir doch lange
noch nicht berechtigt sind, — würde immer nur erst durch einen Induktionsschluß,
d. h. unter Voraussetzung des Kausalgesetzes folgen können, daß nun
auch in Zukunft das Kausalgesetz gültig sein würde. Hier gilt nur
der eine Rat: Vertraue und handle!
Das Unzulängliche
Dann wird‘s Ereignis.
Das wäre die Antwort, die wir auf die Frage zu geben lieben: was ist Wahrheit
in unserem Vorstellen? In dem, was mir immer als der wesentlichste Fortschritt
in KANTS Philosophie erschienen ist, stehen wir noch auf dem Boden seines Systems.
In diesem Sinne habe ich auch in meinen bisherigen Arbeiten häufig die
Übereinstimmung der neueren Sinnesphysiologie mit KANTS Lehren betont,
aber damit freilich nicht gemeint, daß ich auch in allen untergeordneten
Punkten in verba magistri zu schwören hätte. Als wesentlichsten Fortschritt
der neueren Zeit glaube ich die Auflösung des Begriffs der Anschauung in
die elementaren Vorgänge des Denkens betrachten zu müssen, die bei
KANT noch fehlt, wodurch dann auch seine Auffassung der Axiome der Geometrie
als transzendentaler Sätze bedingt ist. Es sind hier namentlich die physiologischen
Untersuchungen über die Sinneswahrnehmungen gewesen, welche uns an die
letzten elementaren Vorgänge des Erkennens hingeführt haben, die noch
nicht in Worte faßbar, der Philosophie unbekannt und unzugänglich
bleiben mußten, so lange diese nur die in der Sprache ihren Ausdruck findenden
Erkenntnisse untersuchte.
Denjenigen Philosophen freilich, welche die Neigung zu metaphysischen Spekulationen
beibehalten haben, erscheint gerade das als das Wesentlichste an KANTS Philosophie,
was wir als einen von der ungenügenden Entwicklung der Spezialwissenschaften
seiner Zeit abhängigen Mangel betrachtet haben. In der Tat stützt
sich KANTS Beweis für die Möglichkeit einer Metaphysik, von welcher
angeblichen Wissenschaft er selbst doch nichts weiter zu entdecken wusste, ganz
allein auf die Meinung, daß die Axiome der Geometrie und die verwandten
Prinzipien der Mechanik transzendentale, a priori gegebene Sätze seien.
Übrigens widerspricht sein ganzes System eigentlich der Existenz der Metaphysik
und die dunklen Punkte seiner Erkenntnistheorie, über deren Interpretation
so viel gestritten werden ist, stammen von dieser Wurzel ab.
Nach alle dem hätte die Naturwissenschaft ihren sicheren Boden, auf dem
feststehend sie die Gesetze des Wirklichen suchen kann, ein wunderbar reiches
und fruchtbares Arbeitsfeld. So lange sie sich auf diese Tätigkeit beschränkt,
wird sie von idealistischen Zweifeln nicht getroffen. Solche Arbeit mag bescheiden
erscheinen im Vergleich zu den hochfliegenden Plänen der Metaphysiker.
Doch mit Göttern
Soll sich nicht messen
Irgend ein Mensch.
Hebt er sich aufwärts
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsicheren Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.
Steht er mit festen
Markigen Knochen
Auf der wohlgegründeten
Dauernden Erde:
Reicht er nicht auf,
Nur mit der Eiche
Oder der Rebe
Sich zu vergleichen.
Immerhin mag uns das Vorbild dessen, der dies sagte, lehren, wie
ein Sterblicher, der wohl zu stehen gelernt hatte, auch wenn er mit so dem Scheitel
die Sterne berührte, noch das klare Auge für Wahrheit und Wirklichkeit
behielt. Etwas von dem Blick des Künstlers, von dem Blick, der GOETHE und
LIONARDO DA VINCI auch zu großen wissenschaftlichen Gedanken leitete,
muß der rechte Forscher immer haben. Beide, Künstler und Forscher,
streben, wenn auch in verschiedener Behandlungsweise, dem Ziele zu neue Gesetzlichkeit
zu entdecken. Nur muß man nicht müßiges Schwärmen und
tolles Phantasieren für künstlerischen Blick ausgeben wollen. Der
rechte Künstler und der rechte Forscher wissen beide recht zu arbeiten
und ihrem Werk feste Form und überzeugende Wahrheitstreue zu geben.
Übrigens hat sich bisher die Wirklichkeit der treu ihren Gesetzen nachforschenden
Wissenschaft immer noch viel erhabener und reicher enthüllt, als die äußersten
Anstrengungen mythischer Phantasie und metaphysischer Spekulation sie auszumalen
gewusst hatten. Was wollen alle die ungeheuerlichen Ausgeburten indischer
Träumerei, diese Häufungen riesiger Dimensionen und Zahlen, sagen
gegen die Wirklichkeit des Weltgebäudes, gegen die Zeiträume, in denen
Sonne und Erde sich bildeten, in denen das Leben während der geologischen
Geschichte sich entwickelte, in immer vollendeteren Formen sich den beruhigteren
physikalischen Zuständen unseres Planeten anpassend.
Welche Metaphysik hat vorbereitet Begriffe von Wirkungen, wie sie Magnete und
bewegte Elektrizität auf einander ausüben, um deren Zurückführung
auf wohlbestimmte Elementarwirkungen die Physik im Augenblick noch ringt, ohne
zu einem klaren Abschluss gelangt zu sein. Aber schon scheint auch das
Licht nichts als eine andere Bewegungsweise jener beiden Agentien, und der raumfüllende
Äther erhält als magnetisierbares und elektrisierbares Medium ganz
neue charakteristische Eigenschaften.
Und in welches Schema scholastischer Begriffe sollen wir diesen Vorrat
von wirkungsfähiger Energie einreihen, dessen Konstanz
das Gesetz von der Erhaltung der Kraft aussagt, der, unzerstörbar
und unvermehrbar wie eine Substanz, als Triebkraft
in jeder Bewegung des leblosen, wie des lebendigen
Stoffes tätig ist, ein Proteus in immer neue Formen sich kleidend, durch
den unendlichen Raum wirkend und doch nicht ohne Rest teilbar mit dem Raum,
das Wirkende in jeder Wirkung, das Bewegende in jeder Bewegung, und doch nicht
Geist und nicht Materie? — Hat ihn der Dichter geahnt?
In
Lebensfluten, in Tatensturm,
Wall‘ ich auf und ab,
Wehe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff‘ ich am sausenden Webstuhl der Zeit,
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
(Goethe, Faust)
Wir, Stäubchen auf der Fläche unseres Planeten, der
selbst kaum ein Sandkorn im unendlichen Raum des Weltalls zu nennen ist, wir,
das jüngste Geschlecht unter den Lebendigen der Erde, nach geologischer
Zeitrechnung kaum der Wiege entstiegen, noch im Stadium des Lernens, kaum halb
erzogen, mündig gesprochen aus gegenseitiger Rücksicht, und doch schon
durch den kräftigeren Antrieb des Kausalgesetzes über alle unsere
Mitgeschöpfe hinausgewachsen und sie im Kampf um das Dasein bezwingend,
haben wahrlich genug stolz zu sein, dass es uns gegeben ist »die unbegreiflich
hohen Werke« in treuer Arbeit langsam verstehen zu lernen, und wir brauchen
uns nicht im Mindesten beschämt zu fühlen, wenn dies nicht gleich
im ersten Ansturm eines Ikarusfluges gelingt.
Aus: Hermann von Helmholtz: Abhandlungen zur Philosophie
und Geometrie, (S.135, 151-156)
Studientexte Philosophie Band 1
Herausgegeben und eingeleitet von Sabine S. Gehlhaar
Traude Junghans Verlag Cuxhaven & Dartford