Leopold von Schroeder (1851 – 1920)

  In Dorpat / Estland geborener und in Wien verstorbener Indologe. Schroeder machte sich nicht nur einen Namen durch Übersetzung indischer Texte wie z. B. der Bhagavadgita, sondern auch durch seine tiefschürfenden Forschungen zur arischen Religionsgeschichte und den mystischen Wurzeln der Sage vom legendären heiligen Gral

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Inhaltsverzeichnis

Wesen und Ursprung der Religion, ihre Wurzeln und deren Entfaltung   Die Wurzeln der Sage vom heiligen Gral

Wesen und Ursprung der Religion, ihre Wurzeln und deren Entfaltung
Solange die Menschheit besteht, sucht und ringt sie allerorten nach Religion, — nach Schöpfung, Fortbildung, Erhöhung ihres religiösen Besitzes. Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist zugleich Entwicklungsgeschichte der Religionen, von niederen zu höheren Formen hinauf, — aber auch in der niedrigsten glüht schon der göttliche Funke, der in der höchsten, zur hellen Flamme entfacht, leuchtet und wärmt und die Herzen mit seliger Freude erfüllt. ja, die Religion ist in der Menschheitsentwicklung der mächtigste Faktor, der, nur teilweise im Laufe der Zeit durch andre Faktoren ersetzt, seine spezifische Bedeutung und seine zentrale Macht immer wieder zur Geltung bringt.

Es ist allerdings in neuerer Zeit, insbesondere von dem Engländer Sir John Lubbock, die Behauptung aufgestellt worden, dass die Religion keineswegs von so universaler Bedeutung sei, dass es vielmehr eine ganz beträchtliche Anzahl von Völkern gebe, die keine Spur einer Religion besäßen, oder die sich doch bei ihrem ersten Zusammentreffen mit den europäischen Beobachtern in einem absolut religionslosen Zustande befunden hätten. Allein diese Behauptung hat einer wissenschaftlichen Prüfung in keiner Weise standgehalten, — eine solche zeigt vielmehr mit unzweifelhafter Deutlichkeit, dass das gesamte dafür angeführte Beweismaterial in Wahrheit gar nichts beweist, ja durch und durch haltlos und trügerisch ist.

Es ist zwar oft genug von Reisenden oder auch von Missionären behauptet worden, dieses oder jenes wilde Volk sei ohne jegliche Religion, allein eine gründliche Untersuchung hat in allen solchen Fällen die totale Unrichtigkeit der Behauptung erwiesen. Oberflächlichkeit in der Beobachtung oder auch mancherlei Vorurteil und Unklarheit verleiteten ihre Urheber zu diesen oft recht leichtfertig aufgestellten Sätzen. Nicht selten wird die Grundlosigkeit derselben schon durch anderweitige Mitteilungen eben derselben Beobachter unmittelbar deutlich — sie widerlegen sich selbst, ohne es zu bemerken —, während in anderen Fällen erst eine nachfolgende gründlichere Forschung den Gegenbeweis geliefert hat. In überzeugendster Weise haben Männer wie O. Roskoff, Edward B
urnett Tylor und Armand de Quatrefages die völlige Unhaltbarkeit von Sir John Lubbocks Ansicht erwiesen. Peschel hat darum recht, wenn er in seiner »Völkerkunde« sagt, dass die Frage, ob irgendwo auf Erden ein Volksstamm ohne religiöse Vorstellungen jemals angetroffen worden sei, entschieden verneint werden müsse, und der Holländer Tiele hat recht, wenn er die Religion ein »Universalphänomen der Menschheit« nennt.

Was aber ist, was heißt Religion? — und aus welchen Wurzeln ist sie entsprossen? Diese Fragen drängen sich uns auf und fordern eine Beantwortung.

Es ist gewiss keine leichte und einfache Aufgabe, das Wesen der Religion in einer allgemein befriedigenden und überzeugenden Weise zu bestimmen. Das ergibt sich schon aus der bunten Mannigfaltigkeit und auffallenden Verschiedenheit der vielen bisherigen, von Theologen, Philosophen, Sprachgelehrten und Ethnologen gegebenen Definitionen. Und der Mut, eine solche Bestimmung zu wagen, wird uns noch mehr sinken, wenn wir einen der hervorragendsten theologischen Denker der Gegenwart, wenn wir Adolf Harnack daran zweifeln sehen, ob es überhaupt einen allgemeinen Begriff »Religion« gebe.
»Wir wissen heute«, sagt dieser große Gelehrte in seinem Wesen des Christentums, »dass Leben sich nicht durch Allgemeinbegriffe umspannen lässt, und dass es keinen Religionsbegriff gibt, zu welchem sich die wirklichen Religionen einfach wie die Spezies verhalten.« Dennoch findet auch Harnack, dass es in allen Religionen »im Tiefsten etwas Gemeinsames gibt, was sich aus der Zerspaltung und der Dumpfheit im Laufe der Geschichte zur Einheit und Klarheit emporgerungen hat«. Und auch er kann nicht umhin, am Schluss des genannten Werkes eine Bestimmung der Religion zu geben, indem er sie als »Gottesliebe und Nächstenliebe« definiert, — eine Bestimmung, die wir freilich auch nicht für ausreichend halten können, weil sie sich nur auf gewisse höchste Formen der Religion anwenden lässt.


Was wir suchen und brauchen, ist eine allgemeine Bestimmung der Religion, die auf alle bekannten Religionen der Gegenwart wie der Vergangenheit passt. Es fällt aber bei einem Überblick über die bisherigen Definitionen der Religion sofort in die Augen,

1. dass die meisten derselben auf die niederen Formen der Religion nicht anwendbar sind, und

2.
dass sie fast alle den Buddhismus, also eine der bekanntesten und bedeutendsten Religionen, ausschließen. Wo die eine oder die andre dieser Klippen vermieden ist oder vermieden scheint, da begegnen wir einer so vagen Bestimmung, dass dieselbe sich eben darum bald als unzulänglich erweist.

Die Definitionen der Theologen und vielfach auch die der Philosophen setzen meist den Glauben an einen Gott voraus und betrachten ihn als selbstverständlichen Kern der Religion. Damit sind aber die unzähligen niederen Religionen, in denen eine Menge von Göttern und Geistern geglaubt wird, ebenso ausgeschlossen wie der Buddhismus, in welchem der Gottglaube überhaupt keine Rolle spielt. Das gilt von der alten, wohlbekannten theologischen
Definition, nach welcher die Religion ein modus cognoscendi et colendi Deum wäre. Es gilt aber ebenso auch von der oben angeführten Harnackschen Bestimmung. Wenn dagegen Georg Runze in seinem »Katechismus der Religionsphilosophie« die Religion als »Sammlung des Gemütes« bezeichnet, so liegt es auf der Hand, dass diese Bestimmung viel zu vag ist und keineswegs die Religion allein in sich begreifen würde.

Ein hervorragend wichtiges Moment hat Schleiermacher betont, wenn er die Religion als ein »schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl« bezeichnet, — wenn er sagt, Religion bestehe darin, dass wir uns schlechthin abhängig fühlen von etwas, das bestimmt und das wir unserseits nicht bestimmen können. Will er indessen dies Etwas näher bezeichnen, so bringt er doch wieder Gott in die Definition hinein und schließt damit den Buddhismus und die primitiven Religionsformen aus. Aber freilich verlangen wir auch dringend darnach, jenes Etwas, von dem sich die Menschen in der Religion schlechthin abhängig fühlen, näher bestimmt zu sehen, und nach dieser Richtung bedarf jene Definition unbedingt einer bedeutsamen Ergänzung.

Kant erklärte die Religion für die Erkenntnis aller unsrer Pflichten als göttlicher Gebote,was polytheistische Religionsformen nicht ausschließt, wohl aber den Buddhismus. Nach Tolstoi besteht die Religion darin, dass wir ganz und durchaus nur den Willen Gottes tun, welch letzterer übrigens von ihm entschieden unpersönlich gedacht wird. Ganz ähnlich erklärt der Engländer Caird die Religion als ein »Aufgehen des endlichen Willens in dem unendlichen« oder als »die absolute Identifizierung unseres Willens mit dem Willen Gottes«. Diese Auffassung ist ebenso berechtigt wie die Schleiermachersche, steht aber auch nicht eigentlich im Widerspruch zu ihr. Das Abhängigkeitsgefühl ist unbestreitbar charakteristisch für die Religion.

Wenn aber der Mensch seinen Willen mit dem Willen Gottes in Einklang setzt, dann verwandelt sich das Gefühl der Abhängigkeit in das einer Freiheit höherer Art. So wertvoll diese Bestimmungen auch sind, — sie operieren stets mit dem Begriff »Gott« und lassen sich daher weder auf die primitiven Religionen, noch auf den Buddhismus anwenden.

Wesentlich anders fasst die moderne Ethnologie das Problem an. Sie verliert naturgemäß niemals den Blick über die Gesamtheit der verschiedenen Religionsformen, und gerade die niedrigsten stehen gewissermaßen ihrem Herzen am nächsten. Der große Ethnologe Edward B. Tylor kommt zu dem Schluss, Religion sei »der Glaube an geistige Wesen«. Das stimmt für fast alle Religionen, denn fast allen ist der Glaube an außer und über der Sphäre des Menschen waltende Geistwesen — Götter, Dämonen, Seelen — charakteristisch, mag man dieselben sich nun in der Mehrzahl oder auch in der Einzahl denken. Aber doch ist die Bestimmung nicht präzise genug. Auch der Spiritismus wäre ja sonst eine Religion, da er im Glauben an geistige Wesen besteht. Und doch wird er mit Recht von niemand für eine solche gehalten, offenbar aus dem Grunde, weil für die Religion das mächtige Abhängigkeitsgefühl ein unbedingt notwendiges Charakteristikum ist, wie Schleiermacher richtig erkannt hat, — ebenso aber auch das Bedürfnis sich mit jenem Etwas, von dem man sich abhängig fühlt, in Einklang zu setzen.

Man könnte daher geneigt sein, die Religion zu definieren als den Glauben an geistige Wesen — in der Einzahl oder in der Mehrzahl gedacht —, von denen man sich abhängig fühlt und mit deren Willen man sich in Einklang zu setzen sucht.

Allein, dann hätten wir nicht das Recht, auch den Buddhismus eine Religion zu nennen. Zwar finden wir auch im Buddhismus den Glauben an geistige Wesen aller Art — Seelen, Gespenster, Dämonen, Götter in großer Zahl. Buddha selbst glaubte an ihre Existenz, es fiel ihm nicht ein, sie zu leugnen oder gar seinen Anhängern solchen Glauben zu verbieten. Aber er fühlte sich nicht abhängig von diesen Göttern und Geistern, das ist das Wesentliche — weder er noch seine Anhänger — und eben darum mangelt diesem seinem Glauben das Charakteristikum des Religiösen. Er fürchtet sie nicht, er erwartet nichts von ihnen, er verehrt sie nicht, er dient ihnen nicht. Er richtet sich nach einem höheren Prinzip, dem auch Götter und Geister untertan sind.


Abhängig fühlte sich freilich auch Buddha, fühlen sich seine Anhänger alle, — abhängig aber nur von der moralischen Weltordnung, an welche hier so fest und unerschütterlich geglaubt wird, wie in wenigen anderen Religionen. Ohne diesen großen und tiefgegründeten Glauben hätte der Buddhismus wohl auch nie und nimmer die Weltreligion werden können, die er tatsächlich geworden ist. Und mit dieser gewaltigen geistigen Macht, der moralischen Weltordnung, ist der Buddhist eifrig bemüht, sich in Einklang zu setzen. Er könnte sonst nimmer das Heil, die Erlösung zu erreichen hoffen.

Woher sie stammt, diese Macht, weiß man nicht, darnach fragt man auch nicht, so wenig wie nach dem Ursprung Gottes in theistischen Religionen. Sie ist da und sie wird geglaubt, unerschütterlich fest geglaubt. Es ist eine unpersönliche Macht, daher verehrt man sie nicht, weiht ihr keinen kult. Aber man fühlt sich abhängig von ihr und sucht sich mit ihr in Einklang zu setzen, wie der Gottgläubige mit dem Willen Gottes. Und es ist eine geistige Macht, wenn auch gewiss kein geistiges Wesen, — eine unbeschränkt und unfehlbar durch alle Ewigkeit über aller Welt waltende geistige Macht. Setzen wir solchen Glauben dem Glauben an mächtig waltende geistige Wesen gleichberechtigt an die Seite, so gelangen wir zu der folgenden Bestimmung.

Religion ist der Glaube an geistige, außer und über der Sphäre des Menschen waltende, Wesen oder Mächte, das Gefühl der Abhängigkeit von denselben und das Bedürfnis, sich mit ihnen in Einklang zu setzen.

Schleiermachers Definition hat hier die notwendige Ergänzung erfahren, ebenso aber auch die Tylorsche. Wir haben eine Bestimmung gewonnen, die ebensowohl für die höchsten wie für die niedrigsten Religionsformen gilt und zutrifft, für Christentum und Buddhismus ebenso wie für die Religion der Australneger und Feuerländer, und alle Stufen und Formen, die dazwischen liegen.

Da die Abhängigkeit, in welcher sich der Mensch gegenüber den von ihm geglaubten geistigen Wesen oder Mächten befindet, nicht nur eine materielle, sondern ebenso und insbesondere auch eine moralische ist, so ist darin das Wesentliche der Kantschen Definition mit eingeschlossen. Je vollkommener der Einklang ist, in welchen der Mensch sich mit jenen Wesen oder Mächten, mit dem Willen seiner Götter, seines Gottes, der moralischen Weltordnung zu setzen vermag, um so entschiedener wird das Gefühl der Abhängigkeit sich in dasjenige der Freiheit verwandeln, bis es endlich auf der höchsten Stufe — idealiter — zu jener herrlichen Freiheit der Kinder Gottes wird, von welcher das Neue Testament redet. Urgrund, Richtschnur und Ziel unseres Lebens ist durch diesen Glauben, dies Abhängigkeitsgefühl, dies Einklangsbedürfnis bestimmt, — und damit dasjenige, was man heute gern mit Tolstoi den Sinn des Lebens nennt.

Wir forschen und fragen weiter nach dem Ursprung der Religion. Wie kam der Mensch denn zu jenem Glauben, jenem Abhängigkeitsgefühl, jenem Einklangsbedürfnis, das die Entwicklung seines Geschlechtes so übermächtig beherrscht?

Bevor wir eine Antwort auf diese Frage zu geben suchen, müssen wir über gewisse allgemeine Voraussetzungen ins Klare gekommen sein, resp. uns über dieselben verständigt haben. Denn »voraussetzungslos« das Problem erörtern zu wollen, würde einen Verzicht auf die Ergebnisse vorausgegangener Geistesarbeit in sich schließen.


Ich halte es für ein feststehendes Resultat der modernen naturwissenschaftlichen Forschung, oder richtiger der naturwissenschaftlichen Spekulation, dass das Menschengeschlecht auf dem Wege einer unabsehbar langen Entwicklung sich aus ursprünglich niederen, einfachen Organismen zu immer höheren und komplizierteren, und endlich zum höchsten Typus, welchen wir kennen, emporgerungen hat. Ich bekenne mich damit als Anhänger der sogenannten Deszendenztheorie. Wir haben die Wahl zwischen zwei Annahmen, zwei Voraussetzungen. Entweder ist unser komplizierter Organismus plötzlich in seiner ganzen Kompliziertheit entstanden, resp. geschaffen worden. Oder derselbe hat sich aus einfacheren Organismen allmählich entwickelt. Eine andre Möglichkeit gibt es nicht. Welche von beiden Möglichkeiten die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, scheint mir nicht zweifelhaft. Über die Wege jener Entwicklung wird die Wissenschaft freilich wohl immer nur zu einem annähernden, nie zu einem ganz abschließenden Resultat gelangen, allein das ist für unsere Erörterungen auch nicht von wesentlicher Bedeutung. Wohl aber ist es wesentlich, ob wir an jene Entwicklung glauben oder nicht.

Man hat bei der theoretischen Konstruktion des Ursprungs der Sprache, der Religion, der Mythologie oft genug den Fehler begangen, dass man den Urmenschen gewissermaßen plötzlich mitten in die Natur, mitten in die ganze Fülle ihrer großen, furchtbaren oder wohltätigen Erscheinungen hineinsetzte und diese nun auf ihn wirken ließ. Da staunte er denn über die Erscheinung der Sonne, der Morgenröte, des gestirnten Himmels, entsetzte sich vor Donner, Blitz und Sturm, und machte infolge solcher und andrer Eindrücke eine geistige Revolution durch, die endlich zur Entstehung der Sprache und der Religion führte. Allein wir dürfen nie vergessen, dass die Urmenschen, ehe sie Menschen wurden, als sie noch sozusagen Untermenschen waren, schon durch unabsehbare Zeiträume mitten in der Natur standen, in ihr lebten und starben, dass ihnen also alle ihre Erscheinungen, wie auch eine Fülle sozialer Instinkte, schon durch endlose Generationen so wohlbekannt und vertraut waren, wie auch den anderen höheren Wirbeltieren. Es muss neben dem, was sie mit den anderen Wirbeltieren gemein hatten, aber noch ein Mehr an Entwicklungsfähigkeit in ihnen gelebt oder geschlummert haben, das man groß, ja wunderbar nennen möchte, wenn man die aus ihm erfolgende Entwicklung des Menschengeschlechtes betrachtet. Dies Mehr war der geheimnisvolle Kern in seinem Wesen, der den Untermenschen zum Menschen werden ließ, der göttliche Funke, der nachmals in herrlichen Flammen auflodern sollte.

Diese auf dem Standpunkte der Deszendenztheorie selbstverständlichen Voraussetzungen sind nicht bedeutungslos für unsere weitere Untersuchung.

Welches sind nun die Anfänge religiöser Bildungen? Auf welche Wurzeln der Religion führt uns die Betrachtung der ältesten und ursprünglichsten ihrer Formen?


Wenn wir etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, oder auch noch später, an diejenigen, welche sich mit den Religionen des Altertums oder der Naturvölker als Forscher, ohne konfessionelle Voreingenommenheit, beschäftigten, diese Frage gerichtet hätten, dann würde die Antwort fast allgemein gelautet haben: Naturverehrung ist der Anfang, der Ursprung der Religion! Man war es eben allgemein gewohnt, alle die sogenannten natürlichen Religionen — im Gegensatz zu den offenbarten — von einer Verehrung der Naturerscheinungen und gewisser Naturobjekte ausgehen zu lassen. Das galt für so selbstverständlich und schien so deutlich aus dem Charakter jener Religionen hervorzuleuchten, dass die meisten sich gar nicht einmal die Mühe gaben, dies erst noch besonders zu beweisen.

Heutzutage, wo die Theorie vom Seelenkult als Wurzel der Religion sich stark in den Vordergrund gedrängt hat, würde die Antwort wohl wesentlich anders ausfallen. Nicht wenige Forscher wollen alle Religion aus diesem letzteren Prinzip ableiten. Andere halten an der Naturverehrung als Ursprung der Religion fest und gestehen dem Seelenkult nur eine untergeordnete, nebensächliche, nicht spezifisch religiöse Bedeutung zu.

Wieder andere, zu denen auch ich gehöre, sehen in der Naturverehrung und in dem Seelenkult selbständige Wurzeln der Re¬ligion, die sich nur in mannigfacher Weise miteinander verbinden und verschlingen.

Wir fassen zunächst die Naturverehrung ins Auge.

Es ist nicht zu verwundern, dass man dies Prinzip lange Zeit fast ausschließlich als die Quelle der sogenannten natürlichen Religionen angesehen hat, denn in der Tat drängt sich uns bei Betrachtung der Religionen des Altertums wie der Naturvölker in breiter Massenhaftigkeit gerade die Verehrung der Natur und ihrer Erscheinungen entgegen. Der Himmel und seine Lichterscheinungen, Sonne, Mond und Sterne, das Luftreich mit Gewitter, Donner und Blitz, Stürmen und Winden, die Erde mit dem, was sie hegt und trägt, Tiere und Pflanzen, Feuer und Wasser, Quellen und Flüsse, Meer und Berge, Felsen und Steine — sie begegnen uns bei unzähligen Völkern des Altertums wie auch der Gegenwart als Gegenstände religiöser Verehrung, wie auch als handelnde Personen mythischer Erzählungen.

Die Naturerscheinung wird als etwas Lebendiges, etwas Wirkendes, als eine Macht empfunden und aufgefasst, als wohltätig und freundlich oder furchtbar, oder auch beides zugleich. Es liegt nicht der geringste Grund dafür vor, hier etwas andres zu sehen, als einen ganz elementaren psychischen Prozess. Die Annahme der radikalen Vertreter der Seelenkulttheorie, der Mensch habe sich die Naturobjekte erst dann als beseelt vorstellen können, nachdem er die Seelen abgeschiedener Menschen in dieselben hinein versetzt, — auch Himmel, Sonne, Mond, Erde Feuer usw. seien erst dadurch zu Objekten der religiösen Verehrung geworden, dass man sich die Seelen verstorbener Menschen in denselben eingekörpert wohnend dachte, leidet an der höchsten inneren Unwahrscheinlichkeit. Dieses künstlich konstruierten Umweges bedurfte es nicht. In den Anfangsstadien seiner Entwicklung sieht der Mensch die ihn umgebende Natur gleichsam mit den Augen eines Kindes an. Alles erscheint ihm belebt, wie er selbst belebt ist, — nicht nur Tiere rund Pflanzen, sondern auch Sonne und Mond, Winde und Wolken, Bäche und Berge. Er legt ihnen Empfindungen bei, die den seinigen ähnlich, er redet mit ihnen, er erzählt von ihnen.

Das ist ein ganz elementarer Trieb, der unbewusst wohl schon in dem Untermenschen wirksam war, mit seinen Wurzeln in jene Vormenschenzeit zurückreichen dürfte, — ein Trieb, der den Glauben an abgeschiedene Geister durchaus nicht voraussetzt. Wir finden ihn in lebhafter Wirksamkeit bei dem Kinde, das mit Stöcken, Klötzchen oder Steinen wie mit lebenden Dingen spielt, auch wenn es noch gar keine Ahnung davon hat, dass es etwas wie Tod, Seelen und Geister gibt. Es belebt, es personifiziert die Dinge instinktiv, unwillkürlich. Ebenso gewiss schon der Urmensch. Dieser Urtrieb hat etwas mit dem poetischen Triebe Verwandtes, und Tylor hat recht, wenn er sagt, »dass, was für uns Dichtung ist, dem ältesten Menschen Naturanschauung war«. Er ist aber auch mit dem sprachbildenden Triebe verwandt, denn die Analyse der Sprache zeigt uns gleichfalls, dass der Mensch sich die umgebende Natur lebendig, handelnd, wirkend vorstellte. Man verkehrt die Sache aber ganz und gar, wenn man darum — so wie Max Müller — den Ursprung der Religion aus der Sprache ableiten will. Sie wurzeln vielmehr beide in ihren Anfängen in der gleichen elementaren Anschauung einer allerwärts belebten Natur. Die Sprache wird nur das Bewusstwerden dieser Anschauung gefördert und gestützt, nicht aber diese Anschauung oder gar die Religion erzeugt haben. Ebensowenig vermag ich in der ästhetischen Empfindung gegenüber gewissen Naturerscheinungen Grundlage und Wurzel der Religion zu er¬kennen, wie das Novalis, Fries und andre Denker wollten.

Wohl mag die Freude am Schönen in der Natur, ein elementarer ästhetischer Trieb viel dazu beigetragen haben, die religiöse Empfindung schon des Urmenschen in eine höhere Sphäre zu heben, sie zu weihen, zu veredeln. Doch das Grundlegende, die Belebtheit der Naturerscheinungen und das Gefühl der Abhängigkeit von denselben, ist tiefer begründet und hätte durch keine Empfindung des Schönen oder Erhabenen erzeugt werden können. Eher könnte da wohl der Satz der Alten Beachtung verdienen: timor fecit deos, die Furcht hat die Götter erzeugt, — ein Satz, den Happel dahin modifiziert, dass er »Schauer« für Furcht setzt und in dem Schauer vor dem Unbekannten, Unsichtbaren, Mächtigen, Unnahbaren die Quelle aber die ganze Natur dem Menschen belebt erschien, war nicht die Wirkung der Furcht, weit eher — wenigstens teilweise — deren Ursache. Das entwuchs ganz anderen Seelenkräften.

Diese elementare Naturanschauung wurde mächtig unterstützt durch ein andres, ebenfalls elementares psychisches Phänomen, nämlich den Trieb, für jede Erscheinung und Begebenheit nach einer Ursache oder einem Urheber zu suchen — das Kausalitätsbedürfnis —, in welchem der Ethnologe Oscar Peschel geradezu die Wurzel der Religion sieht, in Verbindung allerdings mit dem bei kindlichen Völkern sich findenden »Unvermögen, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als belebt zu denken«, — also eben demselben psychischen Phänomen, von dem wir ausgegangen sind.

Leben, Leben und immer wieder Leben! Das war es, was der Mensch um sich herum in der Natur sah oder zu sehen glaubte. Leben, wie er es selbst in sich trug, in sich wirken fühlte. Er sah es vor allem im Reich der Tiere, im Reich der Pflanzen, — und er fühlte sich diesen zugehörig, wesensverwandt, ursprungsverwandt. Da liegt die Wurzel des heute so viel genannten »Totemismus«.*)
*) Totemismus ist der Glaube primitiver Völkerstämme an ihre Abstammung von gewissen Tierarten und entsprechende Ehrung zur letzteren.

Er sah es aber auch im eilenden, rauschenden Fluss, in der murmelnden Quelle, im knisternden, gefräßig verzehrenden Feuer, im heulenden Sturm, im gewaltigen Drama des Gewitters, im Lawinen herabsendenden Berge, in der ruhig wandelnden, freundlich wärmenden Sonne, im wechselnden Mond, im Heer der Sterne. Leben, überall Leben! Lebende Wesen und Mächte aller Art, der Mensch sah sich mitten in sie hineingestellt. Er fühlte sich ihnen verwandt und doch auch wieder fremd. Anders als er selbst war vieles, seltsam, rätselhaft, geheimnisvoll. Manches war wohltätig, freundlich, vieles gefährlich, Schrecken und Furcht, Angst und Qual erregend. Abwehr war oft unmöglich, — ebenso unmöglich für den Menschen, den etwa ausbleibenden Segen der Natur zu ersetzen. Das Gefühl der Abhängigkeit, der Ohnmacht beherrschte den Menschen gegenüber den fremden, den furchtbaren wie den heilvollen Mächten, — ja es lebte dies schon seit uralters her in ihm, schon in der Zeit des Untermenschentums.

Es galt, sich mit diesen Wesen und Mächten in Einklang zu setzen, sie freundlich zu stimmen, sie zu begrüßen, ihnen zu schmeicheln, sie zu loben und zu preisen, sie zu bitten und anzuflehen, sie demütig zu verehren.

Das ist die Naturverehrung, — die eine große Wurzel der Religion.

Neben ihr aber lebt eine andre — ganz selbständig, von jener nicht ableitbar —, der Seelenkult. Ihre Bedeutung ist zwar auch früher nicht geradezu übersehen, aber doch erst in neuerer Zeit ganz erkannt und energisch hervorgehoben, ja sogar überschätzt worden. Männer wie
Herbert Spencer und Julius Lippert sehen in dem Seelenkult die Wurzel aller Religion. »The rudimentary form of all religion is the propitiation of dead ancestors«, sagt Spencer.

Auf jeden Fall ist die Verehrung der Seelen, der Manen, der abgeschiedenen Geister der Vorfahren eine der primitivsten Formen der Religion. Sie ist weit verbreitet und findet sich vielfach gerade bei den kulturell niedrigst stehenden Völkern, bei denen sie die ganz vorwiegende, wenn auch keineswegs die einzige Form der Religion bildet. Dazu gehört namentlich eine größere Anzahl von Völkern in Mittel- und Südafrika. Aber auch von den Bewohnern der Südseeinseln und Neuseelands lässt sich wesentlich dasselbe behaupten, — und in Asien spielt bekanntlich noch bei dem relativ hoch entwickelten Volke der Chinesen der Seelenkult und die Ahnenverehrung eine eminent hervortretende Rolle.

Von den niedersten Stufen des Seelenkults, wo derselbe nur wie eine Art Gespensterglaube erscheint, könnte man geneigt sein zu behaupten, derselbe wäre am Ende gar nicht wirklich als eine Religion zu betrachten. Indessen können wir dies doch nicht zugeben. Es ist eine Form der Religion, wenn auch eine überaus rohe. Wir finden die charakteristischen Elemente der Religion beisammen: den Glauben an Geistwesen jenseits der Sphäre des Menschen, das oft bis zur äußersten Furcht gesteigerte Gefühl der Abhängigkeit von denselben und das Bedürfnis, sich mit ihnen in Einklang zu setzen, woraus eben der »Kult« entsteht.

Bei den niedrigst stehenden Völkern werden die Seelen in der Regel als böse, übelwollende Geister oder Dämonen angesehen, die oft selbst ihren früheren Verwandten und Freunden zu schaden geneigt sind und die man daher auf mancherlei Art zu versöhnen suchen muss. Ihre böswillige Natur erklärt sich aus dem Unmut der Abgeschiedenen über die Trennung vom Leibe, die Verbannung aus der Welt der Lebendigen. Für besonders gefährlich gelten die Seelen derjenigen Menschen, die eines unzeitigen oder gewaltsamen Todes gestorben, oder nicht in gebührender Weise bestattet sind.


Doch wir sehen diesen uns abstoßenden Geisterglauben sich auch höher heben, sich veredeln und endlich ganz dasjenige werden, was wir Gottglauben nennen. Schon bei recht primitiven Völkern erscheint vielfach der Glaube, dass die Seelen der Eltern, der Vorfahren ihren Nachkommen freundlich gesinnt, denselben als schützende Geister zur Seite stehen, ihnen im Kampf helfen u. dgl. m., wenigstens wenn man ihnen die gebührenden Spenden darzubringen nicht versäumt. Man verehrt sie, man bittet sie um Schutz und Hilfe, man betet zu ihnen. Das gilt namentlich vom männlichen Haupte der Familie, vor allem aber von abgeschiedenen Stammeshäuptlingen, die oft geradezu als Götter verehrt werden. So in Afrika, so auch auf den polynesischen Inseln, wo alte Häuptlinge nach ihrem Tode zu Gottheiten werden, die das Wachstum der Yam- und Fruchtbäume leiten. Man errichtet ihnen Heiligtümer, man bringt ihnen Gebete und Opfer dar. Ähnlich auch anderwärts. Die Mongolen verehren die Seelen der Familie des Dschingis Chan als gute Gottheiten und den Dschingis Chan selbst als deren Haupt. In China werden den verstorbenen Kaisern Tempel errichtet und Kongfutse, der einst Minister, Philosoph und Moralist war, empfängt Opfer aus kaiserlicher Hand.

Wie die Naturverehrung auf der großen Tatsache des Lebens, so ruht Seelenglaube und Seelenkult auf der großen, ewigalten, und doch immer aufs Neue den Menschen schreckenden und erschütternden Tatsache des Todes. Leben sah der Mensch ringsum in der Natur, aber auch Tod und immer wieder Tod! Und diese beiden großen, beständig miteinander ringenden, scheinbar unversöhnlich feindlichen Mächte wurden beide zu Wurzeln der Religion, — der Naturverehrung hier und des Seelenkultes da. Das schreckende Rätsel des Todes, vor dem auch das Tier zurückschaudert, drängte die Phantasie des Menschen in eine andere Richtung als das freundlichere Rätsel des Lebens, — trieb den Spieltrieb des Geistes in andere Bahnen.


Der Tote, der noch gestern als ein Lebendiger umherging, sprach und handelte, liegt jetzt kalt und regungslos da, sieht, hört, fühlt, atmet nicht mehr, Bewusstsein und Willensregungen sind dahin. Es ist offenbar ein Teil seines Selbst von ihm gewichen, der wichtigste Teil, der Träger des Lebens, des Bewusstseins, der Willensregungen.

Als solcher Träger des Lebens erscheint dem Naturmenschen vornehmlich der warme Hauch, der Atem, der sinnlichste Teil dessen, was entschwunden ist, — der Atem, mit dessen Aussetzen das Leben abreißt. Aus dem Begriff des
Atems, des Lebenshauches, der sichtlich irgend wohin entflohen ist, entwickelt sich daher ganz naturgemäß der Begriff der Seele, welche vielfach auch in höher kultivierten Sprachen noch mit demselben Worte, das Atem bedeutet, bezeichnet wird. Als ein Hauch, oder auch ein Wölkchen, eine Art Rauch oder Dampf, wird die Seele gefasst, — letzteres vermutlich in Anlehnung an die bei kälterer Luft sichtbare Erscheinung des Atems. Auch als Schatten denkt man sie sich, — immer als ein dünnes, körperloses Gebilde, das den Augen erscheinend dem Verstorbenen gleicht, ohne ihm doch wirklich gleich zu sein.

Traumerscheinungen und Visionen, die auch bei primitiven Völkern nichts Seltenes sind, unterstützen und stärken den Glauben an die Seele und ihr selbständiges Fortleben. Da aber auch ein lebender Mensch dem andern im Traume erscheinen kann, entwickelt sich zugleich der Glaube, dass die Seele oder ein Teil der Seele auch den Körper des lebenden Menschen zeitweilig verlassen und frei umherschweifen könne.

Die aus der Welt der Lebendigen geschiedene Seele denkt man sich zunächst meist betrübt und unmutig. Man denkt sie sich zugleich von dem Leichnam noch eine Zeitlang in gewisser Weise abhängig. Sie weilt in seiner Nähe, kehrt öfters zu ihm zurück. Um die Seele zu versöhnen, zu beruhigen, wird der Leichnam sorgsam geborgen, wird Speise und Trank in seiner Nähe hingestellt oder ausgegossen, damit sich die Seele daran labe. Das warme feuchte Blut, mit dessen Herausströmen das Leben, die Seele entweicht, gilt in besonderer Weise als Lebenssaft und den Seelen besonders erwünscht. Die befriedigten, getränkten und gespeisten Seelen denkt man sich versöhnt und freundlich. Man betet zu ihnen, man bittet sie um Schutz. Hier haben wir Opfer und Gebet, die wichtigsten Elemente des Kultus.


Doch an den Leichnam bleiben die Seelen nicht dauernd gebunden. Sie schweifen umher, sie begleiten schützend die Kinder ihres Stammes, sie fahren in Wind und Sturm daher, hausen im Erdenschoß, in Quellen, Flüssen und Seen, in Bergen und Felshöhlen, oder schwingen sich gar zu den Gestirnen auf und mischen sich in ihre Schar. Sie wählen sich Bäume und Pflanzen, oder auch Tiere zum Aufenthalt, aber auch Steine oder sonst irgendwelche leblose Gegenstände.

Man denkt sich also die abgeschiedenen Seelen über alle Reiche der Natur hin verbreitet, in den verschiedensten Naturerscheinungen wohnend, in ihnen vielfach wirkend, z. B. Fruchtbarkeit und Gedeihen schaffend. So können aus den abgeschiedenen Seelen der Vorfahren in der Natur wirkende Kräfte, waltende Geister und Götter werden, und es liegt auf der Hand, dass diese Seelen sich mit den Seelen der von vornherein als belebt gefassten Naturerscheinungen vermischen mussten, so dass sich eine feste Grenze zwischen beiden gar nicht ziehen lässt. Es folgt daraus nicht, dass die Naturverehrung aus dem Seelenglauben abzuleiten ist, wohl aber dürfte sie durch denselben wesentlich beeinflusst worden sein.

Lebendige Mächte, von denen er sich abhängig fühlt, waren die Naturerscheinungen für den Menschen von vornherein und unmittelbar. Aber es waren geist-leibliche Mächte, nicht geistige Wesen, die wir als die charakteristischen Verehrungsobjekte in allen Religionen kennen. Durch den Seelen- und Geisterglauben wurde das Seelische und Geistige als etwas Selbständiges, vom Körper mehr oder minder Unabhängiges erfasst, und nun mochte auch Seele und Geist der Naturerscheinungen sich von diesen mehr und mehr frei und unabhängig machen, mochte zum geistigen Wesen werden, das die Naturerscheinung lenkt und regiert, zum Naturdämon, zum Naturgott. So hat die Vorstellung von den Seelen die Vorstellung von den Urhebern und Lenkern der verschiedenen Naturerscheinungen entscheidend beeinflusst und sich angeähnlicht. Wir erkennen zwei große, gleichberechtigte Wurzeln der Religion: die lebendige Anschauung eines allumfassenden Lebens, die Naturanschauung, aus welcher die Naturverehrung folgt; und die Erkenntnis, dass alles sichtbare Leben aus zwei Teilen besteht, einem leiblichen und einem geistigen, die sich trennen können und im Tode sich sichtlich trennen, wo dann der geistige Teil selbständig weiterlebt: das ist der Seelenglaube. Das eine ist ebenso fundamental und ebenso alt wie das andre.

Diese beiden Wurzeln der Religion verschlingen und verschmelzen sich vielfach miteinander, wir können sie aber trotzdem auch heute noch in ihren Anfängen und Endpunkten deutlich auseinander halten. Bei allen Völkern werden die Seelen der Väter, der näheren oder entfernteren Vorfahren deutlich als eine besondere Klasse von den Geistern, Dämonen und Göttern der Naturerscheinungen unterschieden, wenn auch mannigfache Übergänge nicht fehlen. Und andrerseits kenne ich kein Volk, das z. B. die Sonne oder das Feuer oder den Donner darum für belebt, für mächtig, wirksam und verehrungswürdig hielte, weil in diesen Naturerscheinungen die Seele eines abgeschiedenen Menschen wohnt. Naturverehrung und Seelenkult sind gleichberechtigte große Wurzeln der Religion, vergleichbar zwei vielfach miteinander verschlungenen und verwachsenen Wurzeln ein und desselben Baumes, die sich doch noch immer deutlich voneinander unterscheiden lassen.


Neben diesen kann weder der Totemismus noch der sogenannte Fetischismus eine selbständige Bedeutung beanspruchen. Gehört der Totemismus als ein uraltes Stück zur primitivsten Naturverehrung, so ist der Fetischismus nichts als eine besondere Form des Seelen- und Geisterglaubens. Er besteht ja in nichts andrem als in dem Glauben, dass alle möglichen Dinge und Gegenstände von mehr oder minder mächtigen Geistern zum Wohnsitz erwählt, von ihnen bewohnt, besessen sein können und eben dadurch zu Objekten der Verehrung werden.

Sind nun aber Naturverehrung und Seelenkult die einzigen Wurzeln der Religion? Diese Frage wird von den meisten Forschern der Gegenwart unbedingt bejaht werden, und zwar in der Weise, dass die einen beide Wurzeln als durchaus selbständige anerkennen, während die andern entweder nur die eine oder die andre als alleinige Wurzel der Religion gelten lassen wollen. Im Gegensatz dazu bin ich der Meinung, dass die Frage unbedingt verneint werden muss.

Wenn wir die Religionen der primitiven und primitivsten Völker näher betrachten, tritt uns eine merkwürdige Tatsache entgegen, die sich mit den herrschenden Theorien vom Ursprunge der Religion aus dem Seelenkult oder der Naturverehrung allein schlechterdings nicht in Einklang bringen lässt. Es ist dies der gerade unter ihnen weit verbreitete, wenn nicht allgemeine
, Glaube an ein höchstes gutes Wesen, das meist schöpferisch gedacht wird, das selbst gut ist und auch von den Menschen fordert, dass sie gut, gerecht, moralisch, in mancher Beziehung selbstlos und aufopfernd handeln. Es wacht über den Handlungen der Menschen und wird oft, wenn auch nicht immer, das Böse bestrafend, das Gute belohnend gedacht.


Dies höchste Wesen erscheint unter verschiedenen Eigennamen, wird aber auch oft allgemein
der Vater, der Alte des Himmels, der Macher des Alls, der Schöpfer, der Gute, der große Freund, der große Geist oder dem ähnlich benannt. Es war da, ehe die Welt und die Menschen da waren, ehe der Tod da war, und schon darum kann es nicht die Seele eines abgeschiedenen Menschen sein, so wenig wie irgend eine Naturerscheinung, wenn dies höchste Wesen auch nicht selten mit dem Himmel in Beziehung gebracht, in ihm wohnend und von dort aus wachend und herrschend gedacht wird. Der Tod kam nach den Sagen vieler primitiver Völker erst durch irgend ein Versehen, ein Unrecht in die Welt. Das höchste Wesen aber ist nie gestorben und kann nie sterben, es ist über den Tod erhaben. Über seine Natur, ob es ursprünglich geistleiblicher oder geistiger Art ist, lässt sich nichts Bestimmtes sagen. Diese Unterscheidung war für die primitiven Menschen, welche zuerst diese Gestalt konzipierten, wohl auch nicht von wesentlicher Bedeutung und wurde vielleicht gar nicht klar erfasst.

Dieses stets gütig und wohlwollend gedachte höchste Wesen wird bei den primitiven Völkern meist nicht durch Opfer und Spenden, Gebete und Lieder geehrt. Man ehrt es, indem man seinen Willen tut, indem man gut und recht handelt und denkt, jenem Wesen ähnlich. Wo ihm Opfer dargebracht werden, da wird dies wohl mit Recht als eine Übertragung vom Seelenkult her angesehen. Gerade dieser Umstand, dass das höchste Wesen keinen eigentlichen Kult hat, während ganze Scharen von gierigen, hungrigen und durstigen Geistern daneben die verschiedensten Darbringungen erhalten, deutet darauf hin, dass wir es hier mit einer total und fundamental verschiedenen religiösen Konzeption zu tun haben.

Man hat aber nur ganz unrichtigerweise aus diesem Umstande den Schluss gezogen, dass dieses höchste Wesen wenig oder gar nichts bedeute, gegenüber den oft übelwollenden Seelen und Geistern. Man hat wohl geglaubt, ein solches Wesen, welches jenen Völkern selbst so wenig bedeute, dass man ihm nicht einmal opfere, sei wohl auch nicht wert, von der Forschung viel beachtet zu werden. Mehr noch standen seiner richtigen Wertung und Anerkennung aber die herrschenden wissenschaftlichen Vorurteile im Wege. So erklärt sich der bemerkenswerte Umstand, dass nicht nur der einseitig-doktrinäre Herbert Spencer den Glauben an ein höchstes Wesen bei den niederen Rassen geradezu unberücksichtigt lässt, obgleich er vielfach Werke benützt, die deutliche Zeugnisse dafür bieten; sondern dass auch der so gerechte und umsichtige Edward B. Tylor ihm nur einige zwanzig Seiten seines umfangreichen Werkes über die »Anfänge der Kultur« widmet.


Und doch ist gerade dieser Glaube eine Tatsache von der höchsten religionsgeschichtlichen Bedeutung, und dies um so mehr, als er sich gerade bei den kulturell am niedrigsten stehenden Völkern und Rassen relativ rein, deutlich und kräftig vorfindet. Diesen Glauben aus dem Seelenkult und der aus ihm hervorgewachsenen Ahnenverehrung ableiten zu wollen, ist ein vergebliches Bemühen. Er findet sich bei Völkern, die noch gar keine Ahnenverehrung, keinen Heroendienst entwickelt haben, wie z. B. den Australiern, den Andamanesen, den Feuerländern und Buschmännern, Völkern, die den Seelenkult nur in der primitivsten Form kennen, die nur den Seelen unlängst verstorbener Menschen opfern und die Gestalten hervorragender Personen früherer Zeiten überhaupt nicht im Gedächtnis behalten haben.

Wenn einige Völker dennoch dies Wesen als den Vater des ersten Menschen und also ihren eigenen Urvater bezeichnen, so bemerkt Réville ganz richtig, dass da eben das höchste Wesen zum Vorfahren, zum Urvater gemacht ist, nicht aber der Vorfahre zum höchsten Wesen. Es ist ähnlich wie auch Adam in der Genealogie Luc. 3, 38 als Sohn Gottes erscheint, weil er von ihm unmittelbar geschaffen ist. Aber auch als der oberste Gipfel eines polytheistischen Pantheons lässt sich dies höchste Wesen nicht fassen, wie Tylor annimmt, weil es sich gerade sehr klar und deutlich bei Völkern findet, die gar kein solches Pantheon noch entwickelt haben. Es ist auch nicht die Spiegelung irdischen Königtums, wie andre Forscher glauben, weil es sich bei Völkern findet, die noch kein Königtum kennen, keine höheren Sozialformen entwickelt haben. Erst auf höheren Kulturstufen tritt das höchste Wesen an die Spitze des polytheistischen Pantheons und wird als der König der Welt gedacht.

Es handelt sich hier um eine höchst einfache, aber zugleich freilich eminent wichtige Bildung, — um den primitiven Gedanken: Es ist Einer da, es muss Einer da sein, der alles gemacht hat; es muss Einer da sein, der da will, dass ich so und so handle, dies und das unterlasse usw. Dieser Eine brauchte nicht notwendig im Himmel zu wohnen. Die Feuerländer dachten ihn sich als großen schwarzen Mann, der im Walde und in den Bergen haust, jedes Wort und jede Tat der Menschen sieht und weiß und das Wetter darnach einrichtet. Aber es lag doch auch nahe, das höchste Wesen in die lichte Himmelsferne hinauf zu versetzen, ihn zum Alten des Himmels, zum Vater im Himmel zu machen. Und man wird diese höchst einfache Konzeption, die keine irgend höher entwickelte Kultur voraussetzt, wohl zu den Elementargedanken des Menschengeschlechtes rechnen müssen, da sie ebenso wie andre Elementargedanken durch ein großes Material aus allen Teilen der Erde bezeugt ist.


Wenn man diesen Zeugnissen von dem Glauben an ein
höchstes gutes Wesen bei den primitiven Völkern jetzt damit zu begegnen und sie dadurch zu entkräften sucht, dass man europäische oder islamitische Beeinflussung annimmt, so erweist sich auch dies Bemühen bald als ein vergebliches. Wir finden jenen Glauben bei Völkern, die noch gar keine oder doch keine intimere Berührung mit Europäern oder Mohammedanern gehabt, die sich vor solcher Berührung ängstlich hüten, ja sie verabscheuen. Wir sehen, wie dieser Glaube gerade im bewussten Gegensatz zu den Predigten der christlichen Missionäre aufrechterhalten und bewahrt wird, auch pflegt in demselben nichts zu liegen, was ihn als geistiges Lehngut erkennen lässt.
Die Australier z. B., die man einst für religionslos erklären konnte, haben nicht nur Seelenkult und Naturverehrung, sondern auch den Glauben an ein höchstes gutes Wesen, den sie in ihren primitiven Mysterien der heranwachsenden Jugend energisch einprägen, während sie von den christlichen Missionären nichts wissen wollen, ihre Lehre und ihren Einfluss
perhorreszieren
[verabscheuen, entschieden ablehnen].

Als Gebote dieses höchsten guten Wesens werden den jungen Leuten einige einfache Moralsätze eingeschärft: den Alten zu gehorchen, mit den Freunden (d. h. Stammesgenossen) friedlich zu leben, alles mit ihnen zu teilen u. dgl. m. Auch bei den afrikanischen Völkern findet sich der Glaube an »Gott«, an ein höchstes gutes Wesen allgemein verbreitet,*) doch ist derselbe vielfach durch den üppig wuchernden Geisterglauben stark in den Hintergrund gedrängt und wird das höchste Wesen von manchen derselben nur wenig beachtet, eben weil es durchaus gut und freundlich sei und niemand Schaden tue, wie die Geister.

*) Livingstone sagt, von den afrikanischen Völkern redend, es liege keine Notwendigkeit vor, selbst den allerniedrigst stehenden unter denselben von der Existenz Gottes zu erzählen oder von einem zukünftigen Leben, da diese Tatsachen allgemein zugegeben werden. Ganz ebenso lautet das Urteil des berühmten Reisenden Mungo Park, der Afrika i. J. 1805 besuchte und die Eingeborenen gründlich kennen lernte. Waitz konstatiert in seiner Anthropologie der Naturvölker bezüglich der großen Negerrasse das ihn überraschende Resultat, dass sich bei den Stämmen, wo am wenigsten fremder Einfluss angenommen werden kann, ein Glaube findet, der nicht Monotheismus ge¬nannt werden könne, aber doch sich in dieser Richtung bewege: der Glaube, resp. auch die Verehrung eines höchsten Wesens als des Schöpfers, dem jedoch - im Unterschiede von den vielen Geistern — keine Opfer dargebracht werden.

Bei den Giljaken in Ostasien heißt das höchste Wesen »der Gute«, wird deutlich von der Geisterschar unterschieden, aber nicht angebetet. Bei den Chinesen, Annamiten und andern Völkern verschmilzt die Vorstellung von ihm mit der Vorstellung vom Himmel, also einer Naturerscheinung, während es bei vielen Indianerstämmen der große Geist genannt wird und also eine Assimilation an die Seelen- oder Geistvorstellung erfahren hat, die ihm nicht vom Hause aus charakteristisch ist. Näheres findet man über diesen Glauben an ein höchstes Wesen bei primitiven Völkern in der trefflichen zweiten Hälfte von Andrew Langs Buch »Making of Religion«.

Der Glaube an ein höchstes gutes Wesen bildet neben Naturverehrung und Seelenkult eine dritte mächtige Wurzel der Religion. Der Kern derselben ist unlöslich mit der Moral, der Idee des Guten verbunden. Mag das höchste Wesen mehr kräftig, energisch, aktiv oder mehr blass und passiv erscheinen, stets ist es durchaus gut gedacht, liebt, wünscht und will das Gute. Weder die Naturerscheinungen noch auch die abgeschiedenen Seelen haben zur Moral von Hause aus irgendwelche Beziehung, das höchste gute Wesen aber wäre ohne diese Beziehung nichts, sie ist ihm absolut wesentlich, sie ist es, die das höchste gute Wesen spezifisch von jenen unterscheidet. Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit, Selbstverleugnung, Liebe bilden das Wesen dieses Wesens, sein Sein und sein Wollen. Welche Variationen sich sonst auch finden mögen, dieser Kern seiner Natur ist überall als solcher erkennbar. Von ihm müssen wir daher ausgehen. Wir finden gerade bei den allerprimitivsten Völkern, wie Australiern, Andamanesen, Feuerländern u. a. den festen Glauben, dass die Gebote der Moral den Willen dieses höchsten Wesens darstellen, seine Gebote und Forderungen sind. Bei andern Völkern ist dieser Glaube durch den überwuchernden Geisterkult oder auch die Naturverehrung beeinträchtigt, zurückgedrängt und abgeblasst. Doch bezeugt die Tatsache der überall verbreiteten Gottesurteile, dass an eine höhere Macht geglaubt wird, welche die Guten und Unschuldigen beschützt, die Bösen der Strafe überliefert. Endlich wird das höchste Wesen meist auch als Schöpfer der Welt und der Menschen gedacht.

Wie kam der Mensch, der Urmensch schon, zu solchem Glauben?

Aus dem Tierreich waren die Untermenschen emporgestiegen. Tief und fest aber ruhen im Tierreich schon die Wurzeln der Ethik, als Instinkt der Liebe, der gegenseitigen Hilfe, der Unterordnung unter gemeinsame Zwecke, als Instinkt der Selbstverleugnung, der Selbstaufopferung des Individuums im Interesse der Gattung. Der übermächtige Fortpflanzungstrieb lässt das Individuum im gegebenen Falle unweigerlich in den Tod gehen. Es stirbt, um sein Geschlecht zu erhalten, wenn auch dessen nicht bewusst. Der Instinkt der Mutterliebe lässt das Muttertier sich für seine Jungen opfern. Der Vogel fliegt in sein brennendes Nest, um noch sterbend mit seinen Flügeln die sterbenden Jungen zu decken. Die angegriffenen Ameisen retten nicht sich, sondern die junge Brut ihres Stammes, die sie nicht einmal selbst gezeugt und geboren haben. Die Mitglieder tierischer Gemeinschaften verteidigen todesmutig, selbstaufopfernd ihre Herde, ihren Stamm, ihren Staat, ihre gemeinsame Wohnstätte. Wir sehen sie oft den gemeinsamen Besitz friedlich und gerecht untereinander verteilen. Selbst eine geregelte Verteilung des Geschlechtslebens findet sich bei gewissen Tieren, und viele müssen im Interesse der Gattung auf die sexuellen Freuden verzichten. Neben dem roh-egoistischen Triebe der Selbsterhaltung, selbst auf Kosten andrer, steht dieser mächtige Trieb der Selbstaufopferung im Interesse andrer, im Interesse der Gattung, der altruistische Trieb, als eine ebenso sichere Tatsache unerschütterlich fest, schon für das Tierreich. Wo dieser Trieb herstammt, das haben wir hier im Augenblick nicht zu untersuchen. Doch dass er da ist und mächtig waltet, steht zweifellos fest.

Wenn nun jene Untermenschen, aus tierischer Dumpfheit zum Denken erwachend. Menschen werdend, diesen Trieb an sich und anderen wahrnahmen. wenn sie dessen inne wurden, wie sehr derselbe dem Interesse des Individuums widerstreitet, und wenn sie ihn dennoch mit der ganzen Macht und Unfehlbarkeit eines noch tierischen Instinktes in ihrem Inneren wirken fühlten, da mochten sie sich wohl wundern, da mochten sie fragen: Warum tun wir so, warum müssen wir so tun? Und die einfache Antwort, die sie sich gaben und geben mussten, da kein äußerer Zwang sich entdecken ließ, war diese: Es ist Einer da, es muss Einer da sein, der da will, dass wir so handeln! Er ist nicht zu sehen, doch es muss ein Großer, ein Mächtiger sein, der Größte und Höchste wohl, da alle seinem Willen folgen müssen, auch ohne ihn zu sehen oder zu hören. Und wenn sie die Welt und sich selber be¬trachtend, den ebenso einfachen Gedanken fassten: Es ist Einer da, es muss Einer da sein, der das alles gemacht hat!

Die Sonne mit ihrer wohltuenden Wärme, den Wald mit seinen Früchten und Tieren usw., — auch dieser darum der Größte, der Mächtigste, der Höchste, und gut und freundlich, weil er so viel Gutes für uns gemacht hat, da lag der Gedanke nahe: der Eine, der dies alles gemacht hat, der Höchste, der Gute, der ist es auch, nach dessen Willen wir so und so handeln müssen: den Alten gehorchen, mit den Freunden teilen, sie nicht verletzen, die Unsrigen tapfer verteidigen usw. Das war das höchste gute Wesen, der Urquell des guten, selbstverleugnenden Handelns, der Wächter über das Tun der Menschen. Als unsre Ahnen, vielleicht in langsam vorschreitender Entwicklung, vielleicht plötzlich erleuchtet durch Geistesblitze höher veranlagter, vorgeschrittener Individuen, diesen Gedanken des einen, höchsten, guten, das Gute wollenden und fordernden Wesens fassten, das war die große Geburtsstunde der Menschheit als Menschheit, die eigentliche Geburtsstunde der Religion, und mit Eins auch die der Moral, im menschlichen Verstande des Wortes. Denn was ist die Moral, zum Unterschied von Sitte und Recht, anders als diejenige Summe von Lebensnormen, welche als Forderung eines höheren, übermenschlichen Willens gelten? Wenn heutzutage so oft behauptet wird, die Religion sei in ihren Anfängen ganz unabhängig von der Moral und keineswegs mit ihr untrennbar eng verbunden, so ist das wahr und falsch zugleich.


Wahr, — denn Naturverehrung und Seelenkult haben in der Tat ursprünglich gar keine Beziehung zur Moral und gewinnen solche allenfalls erst später auf sekundärem Wege.

Falsch, — denn der Glaube an ein höchstes gutes Wesen ist mit der Moral, dem Phänomen des Altruismus, von Haus aus engstens verbunden, ja aus ihr und mit ihr erwachsen und gar nicht von ihr zu trennen.

Naturverehrung und Seelenkult ruhen auf den großen Tatsachen von Leben und Tod in Natur und Menschengeschlecht, und ziehen aus denselben fort und fort ihre Nahrung. Ein ganz anderes Gebiet ist es, in welchem die dritte, die wichtigste und vornehmste Wurzel der Religion, der Glaube an ein höchstes, gutes, über der Moral wachendes Wesen, ihren Ursprung nimmt. Es war der Blick in das eigene Innere, in die Tiefen des eigenen Wesens, welcher den Menschen zu diesem Glauben gelangen ließ. Hier gewahrte er neben dem egoistischen den altruistischen Trieb, mit jenem streitend, als einen fremden Willen. Das Bedürfnis, diesen Trieb zu begreifen, ließ den Glauben an ein höchstes gutes Wesen erwachsen. Noch erstreckte sich der altruistische Trieb keineswegs auf alle Menschen, geschweige denn auf alle lebenden Wesen, sondern nur auf die Glieder der Familie, des Geschlechts und Stammes, die »Freunde«.

Es war wirklich nur Nächsten-Liebe, aber es war doch schon Liebe, die die eigenen Interessen, ja das eigene Leben den andern zum Opfer zu bringen fähig war. Der egoistische Trieb war den Menschen unmittelbar verständlich und bedurfte keiner Erklärung, der altruistische dagegen war etwas Seltsames, Wunderbares. Es war nicht der eigene Wille, es musste der Wille eines höheren, mächtigen Wesens sein, das ihn als Gebot und Gesetz in das Herz des Menschen gepflanzt hatte, oder, wie man nun auch bald annehmen mochte, den Vätern, den Alten verkündigt und eingeschärft hatte. So ist die Moral, die schon im Tierreich wurzelt, der Altruismus, die Nächstenliebe, die schon der Untermensch kannte, der Boden aus welchem der Glaube an ein höchstes moralisches Wesen, diese mächtige Wurzel der Religion, aufsprosste.


Wenn Kant die Religion definierte als die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote, so hat er damit sehr klar und bestimmt den Finger auf diese wichtigste Wurzel der Religion gelegt, ohne dass damit gesagt wäre, dass diejenigen unrecht haben, welche die Wurzel der Religion in der Naturanschauung und Naturverehrung oder im Seelenglauben und Seelenkult suchen. Alle drei sind mächtige, große Wurzeln der Religion, selbständigen Ursprungs, doch sich vielfach verschlingend und zusammenwachsend.

Jene Wahrnehmung der beiden, oft feindlich miteinander streitenden Triebe im Innern des Menschen, des egoistischen und altruistischen, ist sich gleich geblieben durch die ganze Entwicklungsgeschichte der Menschheit, bis auf den heutigen Tag, und bildet fort und fort die Quelle derselben Gedanken, desselben Glaubens. Mochte die Nächstenliebe der Urzeit sich zur allgemeinen Menschenliebe erweitern, zur Liebe sogar gegen alle lebenden Wesen, sie blieb im Grunde dieselbe, nur höher entwickelt. Der Apostel Paulus gibt dem Problem in seiner Weise klaren Ausdruck, wenn er Römer 7, 22. 23 sagt: »Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte, und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.« Und merkwürdig genug zieht Paulus mit weitschauendem Blick im folgenden Kapitel des Römerbriefes (8, 19—23) auch die Kreatur, d. h. die Tierwelt, in die zu Gott aufstrebende Weltentwicklung mit hinein, wenn er sagt, dass das ängstliche Harren der Kreatur auf die Offenbarung der Kinder Gottes wartet, — dass alle Kreatur sich mit uns sehnet und ängstet immerdar, dass aber auch sie frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens, zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

Was der Apostel das Gesetz Gottes nennt, nach dem inwendigen Menschen, das nannte und nennt schon der primitive Mensch das Gebot des höchsten Wesens, — und im tiefsten Grunde ist es dasselbe. Wenn aber der Gegensatz des Egoistischen und Altruistischen schon im Tierreich wirkt und waltet, so unterscheidet sich doch der Mensch vom Tiere und erhob sich über dasselbe dadurch, dass ihm dieser Gegensatz zum vollen Bewusstsein kam und dass er den altruistischen Trieb als den Willen einer außer ihm stehenden, höheren Macht, eines höchsten Wesens erkannte und glaubte. Und es war das der Anfang einer gewaltigen Entwicklung.

Aus den großen Phänomenen
Leben, Tod und Liebe oder Altruismus erwachsen, sehen wir die drei Wurzeln der Religion, Naturverehrung, Seelenkult und Glaube an ein höchstes gutes Wesen, überall auf der Erde nebeneinander und miteinander sich entwickeln und wirken, sehen sie sich in mannigfaltigster Weise verbinden, sich verschlingen, assimilieren, verwachsen und auf solchem Wege die verschiedenartigsten Religionsgebilde, seltsame, wunderliche und schreckende, aber auch große, schöne, ja herrlich schöne, entstehen lassen. Geschichte und Gegenwart zeugen davon. Offene Augen müssen es sehen.

In allen Religionen der Welt, wie verschieden sie auch aussehen mögen, lassen sich doch immer wieder bei näherer Betrachtung diese drei Wurzeln der Religion herauserkennen und nachweisen. Ihre Verschiedenheit beruht zum größten Teil auf der verschieden starken und verschieden gearteten Entwick¬lung jener drei Wurzeln, auf der verschiedenen Art, wie sich dieselben miteinander verbinden, verwachsen, gegenseitig ausgleichen, oder aber eine die andre bekämpfen und unterdrücken. Das Vorwalten der einen oder der andern Wurzel gibt den einzelnen Religionen vornehmlich ihr charakteristisches Gepräge.

So waltet z. B. in den altarischen Religionen die Naturverehrung, kraftvoll entwickelt, unzweifelhaft vor, ohne dass darum der Glaube an ein höchstes gutes Wesen oder Seelenkult und Seelengötter den Ariern unbekannt wären. In den Religionen der mittel¬- und südafrikanischen wie auch der polynesischen Völker macht sich deutlich der Seelenkult als die am kräftigsten entwickelte Wurzel der Religion bemerkbar, ohne dass ihnen darum Naturverehrung und der Glaube an ein höchstes gutes Wesen fehlten. Wieder andre Religionen — und es sind die vornehmsten — zeigen uns eine überwältigende Entwicklung des Glaubens an ein höchstes gutes Wesen, unter Zurückdrängung der andern Wurzeln usw.


Wie Naturverehrung und Seelenkult sich miteinander verbinden und verschmelzen können, ja müssen, haben wir früher gesehen. Aber auch der Glaube an ein höchstes gutes Wesen kann ähnliches erfahren. Er kann sich der Vorstellung von Seelen und Geistern ohne Körper anähnlichen, dann wird das höchste Wesen zum großen Geiste, und diese Entwicklung ist sogar die Regel, — sie ist um so natürlicher, als das höchste Wesen ja so groß und mächtig gedacht, doch den Blicken der Menschen nicht sichtbar ist.


Die Vorstellung von dem höchsten guten Wesen kann aber auch in dem Himmel der höchsten erhabenen Stätte, die dem menschlichen Auge sich darbietet, der herrlichsten Naturerscheinung, in Zusammenhang gebracht werden und dadurch mit noch einer andern Wurzel der Religion, der Naturverehrung, verwachsen. Denkt man sich dan
n das höchste gute schöpferische Wesen als großen Geist, als Vater der Welt und des Menschengeschlechtes, im Himmel wohnend oder gar geradezu »Himmel« genannt, mit ihm quasi identifiziert, dann sind in dieser einen Vorstellung alle drei Wurzeln der Religion zusammengewachsen und es lässt sich begreifen, dass dieselbe eben darum besonders stark und siegreich sein muss. Diese Entwicklung beobachten wir in der Tat an vielen Punkten der Erde. — Es können aber auch umgekehrt die Gebilde der andern beiden Religionswurzeln von dem moralischen Moment, das ihnen ursprünglich fremd ist, affiziert werden und sich damit der Natur des höchsten guten Wesens anähnlichen. So wird mehrfach der Sonnengott auch zu einem Überwacher des menschlichen Tuns in moralischer Beziehung. So konnten der alte Feuer- und Lichtgott Apollon, der alte, mit Wodan und Civa ursprünglich identische, Seelenheerführer Dionysos, ethisch vertieft, zu Sühnegöttern des griechischen Volkes werden, neben dem erhabenen Vater Zeus.

So konnte Agni zum priesterlich-heiligen Gotte werden, ja es konnten Vishnu und Civa, ein Sonnengott und ein Seelengott, trotz so mancher entgegenstehender Züge, bei ihren speziellen Verehrern geradezu in die Stelle des höchsten guten Wesens einrücken.

Die Dreifältigkeit der Religionswurzeln dürfte tief im Wesen des Menschen begründet sein. Dieses Wesen ist längst als ein dreifach zusammengesetztes erkannt, als
sinnliches, geistiges und sittliches. Sehen wir daraufhin die drei Wurzeln der Religion an, so entspricht offenbar die Naturverehrung dem sinnlichen, der Seelen- und Geisterkult dem geistigen, der Glaube an ein höchstes gutes, das Gute forderndes Wesen dem sittlichen Teile der Menschennatur. Alle drei vereinigt entsprechen der Gesamtheit des menschlichen Wesens und befriedigen dasselbe in seinem Streben über sich selbst hinaus. In dem Universalen dieser Vereinigung liegt seine Macht und Bedeutung für das Menschengeschlecht begründet.

Die Dreifältigkeit der Religionswurzeln ist aber augenscheinlich auch der Grund oder doch ein wesentlicher Grund dafür, dass manche und insbesondere die arischen Völker ein Streben zeigen, Gottheiten zu dritt zu vereinigen, sich eine Götterdreiheit, ja Dreieinigkeit zu konstruieren, oder auch mehrere solche. Oft entsprechen die drei ganz den drei großen Wurzeln der Religion, wie sich das z. B. für die Dreiheit Brahma-Vishnu-Civa deutlich zeigen lässt. Bisweilen aber bewegt sich das offenbar tiefbegründete Streben nach einer Dreiheit oder Dreifachheit auch in anderen Richtungen. Ein näheres Eingehen auf diese Frage ist hier am Ort nicht möglich. Ebensowenig vermag ich die Frage zu verfolgen, wie sich die drei Wurzeln der Religion noch fort und fort nebeneinander in unsrem Bewusstsein, im Bewusstsein der Individuen wie der Völker, geltend machen. Eine höchst merkwürdige Äußerung Goethes darf ich aber in diesem Zusammenhange doch wohl nicht übergehen. Er bekennt sich in derselben gewissermaßen zu drei Religionen gleichzeitig. Die Stelle findet sich in einem Briefe an Jacobi vom 6. Januar 1813 und lautet:

»ich für mich kann bei den mannigfachen Richtungen meines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben. Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als Naturforscher und eines so entschieden wie das andere. Bedarf es eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, dass nur die Organe aller Wesen zusammen es erfassen mögen.«

Man hat Goethe wegen dieses Ausspruches wohl der Unklarheit in religiösen Dingen und einer seltsamen Inkonsequenz beschuldigt, indessen ist hier doch wohl eine wesentlich andere Beurteilung am Platze. Die herrliche Naivität Goethes, die mit seiner Größe so untrennbar verbunden ist, tritt klar an den Tag. In seinem reichen Innenleben — dem reichsten, das wir kennen — sieht und fühlt er ruhig beobachtend ein Dreifaches an Religion, an religiösem Bedürfnis, und gibt dem offen in seiner Weise geistreichen Ausdruck.

Als Künstler und Dichter, mit der mehr sinnlichen Seite seines geistigen Wesens, sieht er überall in der Natur lebendige Wesenheiten, die er mit Ehrfurcht betrachtet.

Als Forscher und Denker, rein geistig also, bedarf er des sublimierten Seelenbegriffes. der pantheistischen Weltseele
.

Als sittlicher Mensch aber braucht auch er einen sittlichen Gott, ein höchstes gutes, die Moral, die altruistische Liebe darstellendes, wirkendes und regelndes Wesen. Erst so ist seinem ganzen menschlichen Mikrokosmos genug getan. Er kann nicht eines um des andern willen unterdrücken, er verlangt »eines so entschieden wie das andre«. Er ist sinnlich, geistig und sittlich zugleich, und will es sein, in harmonischer Vereinigung. Wenn Goethe sich mit Jacobi über »Gott« nicht verständigen kann, so beruht das größtenteils darauf, dass der eine nur von der einen, der andre von der andern oder den andern Wurzeln der Religion redet.

So erscheint uns auch Goethe in gewisser Weise als ein Zeuge für die dreifache Wurzel der Religion.

Ob eine von den drei Wurzeln der Religion älter, eine jünger als die andern ist, halte ich für eine kaum zu beantwortende Frage. Tatsache ist, dass sie sich alle drei schon bei den primitivsten Völkern vorfinden und dass sie alle drei mannigfach verschlungen fortleben und fortwirken bis in die Gegenwart. Und mit dieser Tatsache werden wir uns wohl begnügen müssen.

Wie hat sich nun aber der Aufstieg der Menschheit von niederen zu höheren Religionsformen vollzogen?

Das ist eine lange und vielverzweigte Geschichte, die wir hier kaum flüchtig skizzieren können. Das Wesentliche derselben aber lässt sich dahin zusammenfassen, dass trotz mancher Schwankungen und Abweichungen im Laufe der Jahrtausende doch mehr und mehr der Glaube an ein höchstes gutes Wesen als die kraftvollste und edelste Wurzel der Religion hervorgetreten und sieghaft über die andern hinausgewachsen ist. Diese Aufwärtsbewegung findet aber nicht gleichmäßig oder auch nur ähnlich allerorten statt, vielmehr treten dabei einzelne bestimmte Völker — insbesondere eines — und bestimmte Persönlichkeiten mächtig hervor, und die Kraft ihrer Gedanken und inneren Erfahrungen reißt andere mit sich und erfüllt sie mit den gleichen Überzeugungen
.

Einen kräftigen Schritt in dieser Richtung taten die alten Perser mit ihrer Zarathustra-Religion. Hatte auch der arischen Urzeit schon der Glaube an ein höchstes gutes Wesen nicht gefehlt, so trat derselbe doch hinter der vielseitig ausgeprägten Naturverehrung entschieden zurück. In der Gestalt des Ahuramazda aber wurde dieser Glaube durch den großen persischen Reformator zu einer früher nicht geahnten Höhe emporgehoben. Ahuramazda, der große, rein geistige, gute, durch und durch moralisch gerichtete, schöpferische Gott überragt alle andern Götter so sehr, dass sie neben ihm sich klein ausnehmen. Der von ihm siegreich geführte Kampf des Guten gegen das Böse nimmt hier alles Interesse in Anspruch. Naturgötter und Seelengötter erscheinen neben Ahura an Zahl und Bedeutung sehr reduziert, — allein sie sind doch da und manche von ihnen werden fort und fort hoch verehrt.

Ganz anders, sehr interessant, aber auch sehr kompliziert, ist die Entwicklung der Dinge in Indien, — zu kompliziert, als dass ich hier eine wirkliche Darlegung und Würdigung unternehmen könnte. Sie soll an anderem Orte erfolgen. In Varuna und seinen Brüdern lebt das höchste gute Wesen der indopersischen Einheitsperiode bei den älteren Vedadichtern fort. Eine spätere Zeit bringt mannigfache neue Ansätze und Sprossen derselben Religionswurzel, welche alle zuletzt in dem unpersönlichen Atman-Brahman der Upanishad-Zeit auslaufen. Pantheistische Identifikation schützt hier die andern Götter vor Vernichtung, und der pantheistische Zug bleibt dem indischen Denken, zum mindesten dem brahmanisch-indischen, durch alle Zeiten hindurch charakteristisch. Den hohen philosophischen Wert des All-Eins-Gedankens der Upanishaden kann ich hier am Orte nicht würdigen. Seine religionsschöpferische Kraft war weniger bedeutend. Der Buddhismus ließ ihn fallen.

Im Buddhismus ist nur der Glaube an eine ewige, unwandelbare moralische Weltordnung übrig geblieben, der abstrakte Kern des Glaubens an ein höchstes gutes Wesen. Die andern Religionswurzeln sind völlig eliminiert, — aber sie rächen sich bald und bringen sich neu zur Geltung, und umso nachhaltiger, je mehr außerindische Völker der Buddhismus auf seinem Siegeszuge gewinnt. Es dauert nicht lange, so dringen unter verschiedenen Vorwänden Naturgötter aller Art in die Religion des Buddha ein, während die Verehrung des abgeschiedenen Religionsstifters und seiner Apostel einen ausgebildeten Ahnenkult zeitigt. Die Idee eines höchsten guten Wesens konnte hier nicht mehr aufkommen, da sie neben der moralischen Weltordnung unnütz erschien.

In der brahmanischen Welt aber wurde das Brahman wieder persönlich gestaltet, als höchstes gutes schöpferisches Wesen, und neben diesen Gott wurde der alte Sonnengott Vishnu, also ein Naturgott, desgleichen der alte Seelengott Civa gesetzt. Das System der drei Götter Brahma-Vishnu-Civa zeigt uns so wieder Sprossen aller drei Religionswurzeln nebeneinander. Einen totalen Sieg einer derselben gibt es hier nicht, doch zeigen die Ideen der Reformatoren von Nanak und Kabir bis auf Keschub Tschander Sen die überwiegende Bedeutung der Idee des höchsten guten Wesens, freilich nicht ohne Beeinflussung von seiten des Islam und des Christentums.

Bei den Griechen war die Gestalt des höchsten guten Wesens — Zeus — in Poesie und Mythus stark vermenschlicht und dem Bilde der eigentlichen Naturgötter assimiliert. Im Kultus aber lebte dieselbe reiner und echter fort, und ernste Denker erhoben sie zu würdiger, ja bewunderungswürdiger Höhe. Doch wie groß und schön, wie begeistert auch griechische Philosophen und Dichter von Zeus, der allumfassenden Gottheit, zu reden und zu singen wussten, diese Gedanken blieben auf engere Kreise beschränkt, während im Volk die Vielgötterei in Naturverehrung und Heroenkult ruhig weiterlebte. Sie waren pantheistisch gefärbt, und – auch dasjenige, was man bei den Ägyptern »Monotheismus« genannt hat, trägt den Stempel pantheistisch gerichteter priesterlicher Spekulation.

Wirklicher »Monotheismus« war dies alles nicht, obwohl man das Wort öfters auch zur Bezeichnung der erwähnten indischen und griechischen Ideen gebraucht hat. Monotheismus heißt die Verehrung nur eines Gottes, von dem griechischen Worte mónos »nur einer, ein einziger, einer allein«. Das Wort trägt also etwas streng Ausschließendes, Exklusives an sich, nicht etwas Allumfassendes. Zu solchem wirklichen, streng ausschließenden Monotheismus ist aber nur ein Volk selbständig gelangt, — das Volk Israel, die Juden. Das gibt ihnen ihre ganz besondre Stellung, ihre durch nichts zu verwischende Eigenart und eigenartige Bedeutung in der Religionsgeschichte der Menschheit.

Auch die Semiten sind von Hause aus Polytheisten, wie alle Völker. Auch in der ursemitischen Zeit gab es Naturverehrung und Seelenkult, — daneben aber auch schon den Glauben an ein höchstes gutes Wesen. Im Hintergrunde aller göttlichen Mächte stand der höchste Gott, El oder Il genannt. Er ist die höchste Weltmacht, steht aber dem Menschen fern und ist ihm unnahbar. Er wird anerkannt, aber wenig verehrt und verflüchtigt sich vielfach völlig,*) — ganz ähnlich, wie das auch bei vielen anderen Völkern für das höchste Wesen charakteristisch ist.
*) Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 1, p. 210. — Noch der sterbende Christus ruft mit diesem Namen, der bei den Juden neue und vertiefte Bedeutung gewonnen hatte, Gott an (Eh, Eh, lama asabthani!)

Die besondere Tat der Juden besteht nun darin, dass sie dies höchste Wesen zu ihrem Nationalgott machen, oder, wie einige Forscher meinen, mit ihrem Nationalgott Jahwe identifizieren und nun Jahwe als das höchste, gute, schöpferische Wesen, als den einzigen, allmächtigen und allgütigen Gott verehren, dass sie mit wachsender Strenge und Ausschließlichkeit die Verehrung jedes andern Gottes außer diesem perhorreszieren und endlich sogar die Existenz andrer Götter leugnen. Es ist nicht undenkbar, dass »Jahwe« oder eine entsprechende ältere Form dieses Namens schon in der ursemitischen Zeit ein Beiname des höchsten Wesens (El, Il) war. Wenn die von Delitzsch so energisch in Diskussion gebrachte keilinschriftliche Form Jaahve-ilu wirklich richtig gelesen ist und wirklich »Jaahve ist Il«, »Jaahve ist Gott«, bedeuten sollte, dann würde das für diese Vermutung sprechen und dann könnte man direkt sagen, die Israeliten hätten einfach und ohne Umweg das höchste Wesen der ursemitischen Zeit zu ihrem Gotte gemacht.

Da indessen diese Sache für ganz unsicher gilt, dürfen wir darauf nichts bauen. Im wesentlichen kommt ja auch das, was die leitenden Geister Israels getan und was sie durchgesetzt, auf das gleiche hinaus. Sie haben wirklich das höchste Wesen zu ihrem Stammes- und Nationalgott erwählt, auch wenn dies erst – was wir vorläufig dahingestellt sein lassen – durch Identifikation desselben mit ihrem eigentlichen Stammgott Jahwe geschehen sein sollte. Sie haben mit gewaltiger Energie, in jahrhundertelangem Kampfe die Verehrung der Naturgötter, die auch in Israel fraglos seit uralters geübt und nicht erst von andern Völkern übernommen wurde, unterdrückt und wirklich ausgerottet. Desgleichen den Seelenkult, der so gründlich beseitigt wurde, dass man in unseren Tagen ernstlich die Frage diskutieren konnte, ob die alttestamentlichen Juden überhaupt an ein Fortleben der Seele nach dem Tode glaubten.

Jedenfalls konnte man ein orthodoxer Jude und sogar Priester sein ohne solchen Glauben. Die Sadduzäer, welche zu Christi Zeit in der jüdischen Priesterschaft eine führende Rolle spielten. hatten die Lehre, »es sei keine Auferstehung, noch Engel, noch Geist«, während die Pharisäer beides bekannten (vgl. Apostelgesch. 23, 8). Ein Sadduzäer, mit dieser total negativen Stellung gegenüber dem Seelenglauben, konnte sogar Hoherpriester sein. Es galt also dieser Glaube als etwas Indifferentes, für die korrekte religiöse Stellung keines¬wegs Notwendiges. Ich möchte meinen, dass diese uns überraschende Tatsache sich am besten gerade aus der schroff feindseligen Stellung erklärt, welche die großen Verkünder und Träger des Jahwe-Glaubens und der ausschließlichen Jahwe-Verehrung gegenüber dem Seelenkult ebenso wie gegenüber dem Naturkult einnahmen. Selbst den Glauben an das Fortleben der Seele gaben sie dran, wenn nur der Seelenkult verschwand.

Als solche Träger und Verkünder des reinen Jahwe-Glaubens und der ausschließlichen Jahwe-Verehrung hat man längst die Propheten erkannt. Sie und ihre Gesinnungsgenossen hatten keine leichte Aufgabe, denn es galt hier, zwei mächtige Wurzeln der Religion, die in allen Völkern seit uralters leben, zugunsten der dritten völlig auszumerzen. Das Ziel konnte nur in jahrhundertelangen Kämpfen erreicht werden, unter immer erneutem Widerstreben, immer erneuten Rückfällen der Masse des Volkes, die sich nicht so rasch jene hohen Gedanken aneignen konnte. Doch es wurde erreicht, dank der einmütigen, zielbewussten, energischen Arbeit der geistigen Führer des Volkes, die sich in unmittelbarer Beziehung zu dem von ihnen bekannten großen Gotte fühlten. Es wurde erreicht und damit zum ersten Mal ein wirklicher Monotheismus, die Verehrung nur eines Gottes, — des höchsten guten schöpferischen Wesens, zu dem sich Israel als zu seinem Gott bekannte und der als allmächtiger, überall waltender, ewiger, heiliger Gott erkannt wurde, — unter völligem Ausschluss jedes andern Gottes, jedes andern Kultes.

Zu solcher Ausschließlichkeit hin haben außer den Juden nur noch die Perser selbständig einen Schritt getan mit ihrer Zarathustra-Religion. Doch sie gingen nicht konsequent bis zum Ziele, falls sie dasselbe jemals ganz erfassten. Von dem reichen Erbe altarischer Naturverehrung blieb ihnen zu viel, was sie nicht opfern wollten. Für die jüdischen Prophäen aber gab es kein Opfer das dem hohen Ziele der reinen .Jahwe-Verehrung gegenüber überhaupt als ein Opfer gelten konnte. Ganz erfüllt von dem einen, großen Gedanken pflanzten sie ihn fort von Geschlecht zu Geschlecht, bis er endlich für immer den vollen entscheidenden Sieg erlangte und immer herrlicher strahlend auch über Israels Grenzen hinaus die Herzen der Völker packte und erleuchtete.

Wenn die alttestamentlichen Schriften auf dem Standpunkt stehen, dass Israel von Anfang an die reine Jahwe-Verehrung besessen und nur durch den Einfluss andrer Völker zur Verehrung andrer, falscher Götter verleitet wurde, so ist das irrig insofern, als auch Israel wie alle Völker von Anfang an Naturverehrung und Seelenkult gekannt hat, — es ist aber doch auch wiederum wahr, insofern auch Israel die Verehrung eines höchsten, guten, wohl schon früh auch schöpferisch gedachten Wesens aus der grauesten Urzeit mitbrachte und insofern die Jahwe-Religion nichts andres war als die Fortsetzung, die konsequente Durchführung und höchste Erhebung jener uralten Verehrung. In der Jahwe-Verehrung hatte sich die eine, die vornehmste und edelste Wurzel der Religion zur Alleinherrschaft, zur Religion schlechthin ausgewachsen. Das ist eine durchaus singuläre Entwicklung, — das gleiche hat sich nirgends wieder ereignet, vielmehr geht aller wirkliche und konsequente Monotheismus auf den so errungenen jüdischen Monotheismus zurück.

Es ist merkwürdig, welche Unklarheit bei uns im Gebrauch des Wortes »Monotheismus« herrscht. Einiges derart habe ich schon früher angedeutet. Ein besonders krasses Beispiel trat in dem bekannten Delitzschschen Vortrag über »Babel und Bibel«, und zum Teil auch in der daran sich schließenden breiten Diskussion zutage. Nehmen wir an, was ja keineswegs erwiesen und nach Kennerurteil nicht einmal wahrscheinlich ist, dass der keilinschriftlich vorliegende Name Jaahve-ilu wirklich sichergestellt und richtig gedeutet wäre durch »Jaahve ist Gott« oder selbst »höchster Gott« — wie konnte man von »Monotheismus« reden bei einem Volke, das neben diesem Gotte zweifellos unzählige andre Götter verehrte und nie daran dachte, sich auf die Verehrung eines einzigen Gottes zu beschränken?

Es ist in diesem Falle, wie auch sonst nicht selten, der Monotheismus mit dem Glauben an ein höchstes gutes Wesen einfach verwechselt worden. Es ist dies nur insofern halbwegs entschuldbar, als aus letzterem Glauben tatsächlich der Monotheismus erwachsen ist, aber doch erst durch energischen Ausschluss aller anderen Götterverehrung. Der Glaube an ein höchstes gutes Wesen ist, mehr oder minder klar und kräftig, allen Völkern eigen, ein wirklicher Monotheismus aber lebte zuerst allein im Volke der Juden, denn von allen Völkern haben sie zuerst den großen Entschluss gefasst, nur einem Gotte zu dienen, nur das höchste gute schöpferische Wesen allein als ihren Gott zu verehren und keinen andern Gott zu haben neben ihm, dem Allmächtigen, der alles regiert, — den sie sich nun in ganz andrer Weise aktiv denken mussten als andre Völker, bei denen das höchste gute Wesen neben unzähligen andern Göttern steht, durch die es oft genug verdeckt, verdunkelt und ganz in den Hintergrund gedrängt wird. »Dieser und dieser allein ist Gott und soll unser Gott sein! Dieser und dieser allein ist der Schöpfer, Lenker, Regierer der ganzen Welt, der allmächtige, ewige, heilige Gott!« — Das war die Erkenntnis, das die Erleuchtung, die das Volk Israel groß gemacht und ihm seine weltgeschichtliche Bedeutung verliehen hat.

Über den Anfang der Verehrung Jahwes unter diesem Namen, als Gott des jüdischen Volkes, bietet die Bibel zwei scheinbar etwas widersprechende Nachrichten. Nach 1. Mose 4, 26 hätte die Jahwe-Verehrung schon lange vor Abraham begonnen, denn dort heißt es: »Auch dem Seth wurde ein Sohn geboren, den nannte er Enos. Damals fing man an den Namen Jahwes anzurufen.« Dagegen sagt eine andre Stelle ausdrücklich, dass dieser Name auch den Erzvätern noch unbekannt war, oder doch zum mindesten, dass Gott sich ihnen unter diesem Namen nicht offenbarte. Es ist 2. Mose 6, 2. 3: »Da redete Gott mit Mose und sprach zu ihm: Ich bin Jahwe. Ich bin einst als El Schaddaj (d. i. Gott der Allmächtige) Abraham, Isaak und Jakob erschienen; aber unter meinem Namen Jahwe habe ich mich ihnen nicht offenbart.« — Es scheint, dass erst durch Mose der Name »Jahwe« endgültig und für immer als die eigentliche Bezeichnung ihres Gottes bei den Juden festgesetzt wurde,*) allein es ist sehr wohl möglich, ja vielleicht sogar wahrscheinlich, dass dieser Name auch sehr viel früher schon als Beiname des Gottes, resp. des höchsten guten Wesens vorkam, und so gefasst liegt auch in der erstangeführten Stelle kein wirklicher Widerspruch zu der folgenden vor. Denn dass der Beiname eines Gottes später zum Hauptnamen desselben erhoben wird, ist ein in der Religionsgeschichte bekanntlich sehr oft sich ereignender Vorgang.

*) Vgl. 2. Mose 3, 13—15: 13. Und Mose sprach zu Gott: Wenn nun aber zu den lsraeliten komme und ihnen sage: der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt und sie mich fragen: wie heißt er? was soll ich ihnen antworten?
14. Da erwiderte Gott Mose: Der »Ich bin, der ich bin«; dann sprach er: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der »Ich bin« hat mich zu euch gesandt!
15. Hierauf sprach Gott weiter zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sagen: Jahwe (d. h. »Er ist«), der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs hat mich zu euch gesandt; dies ist mein Name auf ewige Zeiten und dies meine Benennung auf Geschlecht zu Ge¬schlecht. — Die Übersetzung ist hier wie in den oben im Text angeführten Bibelstellen diejenige von E. Kautzsch, eine anerkannt vortreffliche.


»Jahwe« heißt » Er ist«, — das ist, wie mich David Heinrich Müller belehrt, die genaueste Übersetzung dieses Namens. Es darf gewiss als höchst merkwürdig bezeichnet werden, dass genau so auch eine der tiefsinnigsten Upanishaden der Inder das höchste Wesen benennt. Die Kâthaka-Upanishad sagt, vom Atman-Brahman redend (2, 6, 12, 13): »Nicht mit dem Wort, nicht mit dem Denken, nicht mit dem Auge kann man ihn erreichen. Wie kann dies anders erfasst werden, als indem man sagt: »Er ist«! »Er ist« — so soll man ihn erfassen! — »Er ist«, — wer ihn so erfasst hat, dem wird sein wahres Wesen klar.« — Diese merkwürdige Stelle zeigt uns, wie das indische Denken in einem Augenblicke höchster Steigerung, im leidenschaftlichen Ringen nach der Erkenntnis, dem höchsten Wesen genau dieselbe Bezeichnung gibt, die die Juden ihrem Gott gegeben: »Er ist Jahwe!« Der große Unterschied liegt nur darin, dass die zitierten Verse der Upanishad keine erhebliche praktische Folge für die Religion der Inder gehabt haben. »Er ist« wurde niemals ein wirklich gebrauchter Name des höchsten Wesens bei den Indern, — die Juden aber nannten und nennen so ihren Gott bis zum heutigen Tage.

Dieser Name schon sagt uns deutlich genug, dass jene modernen Theorien, nach welchen Jahwe ursprünglich ein kleiner Stammesgott, wie es viele gab, ein Kriegsgott oder Gewittergott gewesen sein soll, nichts sind als Vermutungen, denen alle Wahrscheinlichkeit mangelt. Diesen Namen konnte natur¬gemäß, wie in Indien, auch in Palästina nur das höchste Wesen erhalten, — dasselbe höchste Wesen, das die ursemitische Zeit El oder Il benannte. Dies höchste Wesen erkor sich das Volk Israel zu seinem Gott, — dem einzigen, den es verehren wollte, dem einzigen endlich, dessen Existenz es gelten ließ. Das höchste Wesen wurde so zum Gotte Israels gemacht, nicht aber wurde ein kleiner jüdischer Nationalgott, wie man wohl meint, in übermäßiger Selbstschätzung von den Juden zum höchsten Wesen hinaufgeschraubt. Wenn dieser Gott nun sein kämpfendes Volk Israel schützend begleitete und seine Feinde zerschmetterte, dann nahm er naturgemäß streitbare Züge an, und wenn er als der allmächtige einzige Gott in der ganzen Natur waltete, dann gebot er auch über Gewitter und Sturm. Darum hat man noch keinen Grund, in ihm einen alten Kriegsgott oder Gewittergott zu vermuten und darin die Wurzel seines Wesens zu finden.

Bei germanischen Stämmen ist das höchste Wesen geradezu zum Kriegsgott geworden, wie ich in meinem in Vorbereitung begriffenen Buche über »Altarische Religion« zu zeigen gedenke, — und auch das höchste Wesen der alten Arier offenbart sich im Gewitter, — und solches geschah, obwohl diese Völker noch andre göttliche Helfer im Krieg, und spezielle Gewittergötter daneben besaßen, während Israel nur einen Gott hatte, der ihm naturgemäß auch im Kriege helfen, auch des Gewitters walten musste. Jahwe, der allmächtige, ewige Gott der Juden, ist seinem Ursprunge nach kein Naturgott, noch weniger ein Seelengott, sondern die machtvollste und imponierendste Entwicklung jener andern, edelsten Wurzel der Religion, des Glaubens an ein höchst gutes, schöpferisches Wesen.

Kein anders Volk hat den Wert dieses Glaubens so früh, so klar und so tief erkannt. Kein andres hat sein ganzes Heil auf ihn allein gesetzt, kein andres sein Geschick mit ihm für immer unlösbar verknüpft. Mochte die Masse des Volkes noch so oft, noch so weit abirren, seine leitenden Geister führten es doch immer wieder zu diesem Born des Heils und der Rettung zurück. Und gerade in dem langen Elend und Jammer seiner Geschichte wuchs das jüdische Volk mit diesem großen Glauben zusammen und lernte die Wahrheit des Psalmwortes kennen:


»Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde!«

Auf dem Grunde dieses Glaubens ist das Christentum erwachsen, dieser Glaube hat auch noch im Islam einen mächtigen Sprössling gezeugt, und unabsehbar ist die Zahl der Völker, deren religiöses Leben er beeinflusst und gefördert, befruchtet und veredelt hat.

Es ist heutzutage Mode geworden, den jüdischen Gottglauben möglichst geringschätzig und feindselig zu behandeln, und es hält nicht schwer, aus der Bibel zahlreiche Züge beizubringen, die uns heute erschrecken und abstoßen. Das sind die Flecken und Schatten, die sich dem erhabenen Bilde des großen Gottes mit Notwendigkeit anhängen und anheften mussten, — abgesehen von der allgemein menschlichen Schwäche und dem relativ doch noch nicht hohen Kulturzustand jener Zeiten schon allein aus dem Grunde, weil er Nationalgott geworden war. Von den Leidenschaften, die das Volk be¬wegten, wurde unwillkürlich manches auf den Gott übertragen und sein Bild dadurch entstellt. Aber die großen leitenden Geister des Volkes arbeiten doch auch wieder fort und fort mit Erfolg an der Läuterung und Reinigung dieses Bildes.

Man stelle nur ehrlich vergleichend das Bild des Gottes der Propheten und Psalmen neben alle andern vorchristlichen Göttergestalten, und man wird Ehrfurcht gewinnen vor seiner Größe und Heiligkeit. Und man soll und darf es nicht verkennen, dass es schon an sich etwas Großes, eine weltgeschichtliche Tat von der höchsten Bedeutung war, wenn das jüdische Volk zuerst und allein — im Unterschiede von allen andern Völkern, die den andern Religionswurzeln breiten und breitesten Spielraum gaben — die Verehrung des höchsten guten Wesens allein als die rechte Religion erkannte, diese Idee sich immer mehr zu eigen machte, mit ihr wuchs und verwuchs. Wenn das jüdische Volk mit seinem Jahwe-Glauben und durch denselben sich einer ganz singulären und hohen Stellung unter allen Völkern bewusst war und sich darum das auserwählte Volk Gottes nannte, so hatte es trotz allem und allem ein wohlbegründetes Recht dazu. Dieser Glaube ist sein Adelsbrief und sein unvergänglicher Ruhmestitel, und es ist sehr wohl und sehr tief begründet, dass auch heute noch die Worte der alten jüdischen Propheten und Psalmendichter den religiös gesinnten Menschen der höchststehenden Kulturvölker ein kostbarer, unveräußerlicher Schatz sind, in dem sie Trost und Frieden und höchste religiöse Erhebung finden.


Jesus Christus
aber bringt die Vollendung des jüdischen Gottesglaubens, seine höchste Erhebung und Läuterung. Das Bild Gottes und der gottgewollten Nächstenliebe lebt in ihm in vollendeter Reinheit, und so verkündet, so offenbart er beide, — obwohl er selbst darauf hinweist, dass in der Gottes- und Nächstenliebe schon das ganze Gesetz »hanget«, und die Propheten. Er schließt sich ebenso gewiss an den großen Gottglauben des alten Testamentes an, wie er andrerseits die alttestamentlichen Lehren und Vorschriften in wichtigen Punkten berichtigt, läutert und auf eine höhere Stufe erhebt. Es war schon ein Großes, dass das jüdische Volk nur seinen Gott, das höchste, gute, schöpferische Wesen, den allmächtigen, ewigen, heiligen Gott glauben und verehren wollte, nur von ihm sich abhängig fühlte, und nur mit ihm sich in Einklang setzen wollte. Aber ein Größeres und Größtes noch brachte Christus, denn er hat der Welt diesen Einklang vorgelebt, bis zum letzten Atemzuge in fleckenloser Reinheit. Er durfte das große Wort sprechen: »Ich und der Vater sind eins«, — er hat uns in seinem Leiden und Sterben das Höchste, die erbarmende Liebe Gottes, offenbart.

Haben sich auch im Verlaufe seiner Entwicklung mancherlei Flecken und Schatten dem Christentum angeheftet, so glauben und vertrauen wir doch auf die siegende Kraft, die es in sich trägt, — wir glauben und vertrauen auf seine Weiterentwicklung, dass es sich immer wieder neu — und doch das alte —, neu und reiner erheben wird und in leuchtender Reinheit strahlen, zum Heile der Menschheit.*)

*)Die hier entwickelten Gedanken sind zum größten Teil dem ersten Bande eines in der Ausarbeitung begriffenen größeren Werkes entnommen, meiner »Altarischen Religion«, welche sobald als möglich im Verlage von J. F. Lehmann erscheinen soll. Der erste Band dieses Werkes behandelt Wesen und Ursprung der Religion, sowie den Glauben an ein höchstes Wesen bei den alten Ariern. Der zweite Band enthält die Naturverehrung der arischen Urzeit, der dritte soll dem Seelenkult und den Seelengöttern jener Zeit gewidmet sein. Was ich hier, meiner Aufgabe gemäß, in möglichster Kürze und Knappheit darzulegen versucht habe, wird man dort ausführlicher behandelt und be¬gründet finden. Dort wird auch der eigentümliche Wert und die hohe Bedeutung des arischen (d. h. indogermanischen) Wesens, der arischen Kultur und Religionsentwicklung, die ich hier am Orte nicht entsprechend schildern konnte, deutlich hervortreten. S. 1-39
Aus: Beiträge zur Weiterentwicklung der Christlichen Religion. Herausgegeben von den Autoren der Beiträge, München 1905, J. F. Lehmanns Verlag

Die Wurzeln der Sage vom heiligen Gral
Zusammenfassung und Schluss
Wir haben die Wurzeln der Gralsdichtung - soweit nicht christliche Legende, sondern altarische Sage in Betracht kommt — in der uralten Vorstellung von Sonne und Mondi als wunderbaren himmlischen Gefäßen erkannt. Gefäßen mit köstlichem, begehrenswertem Inhalt, reiche Gaben spendend. In fernem Lichtland strahlen sie, droben auf dem Himmelsberg, den Menschen unnahbar, nur Göttern, Halbgöttern und Seligen zugänglich.

Das Mondgefäß, dessen Inhalt — der himmlische Rauschtrank — von den Göttern getrunken, immer aufs neue anschwillt; der kupferne Kessel des Sonnengottes Vivasvant, der dem Yudhishtlhira und seinen Leuten nach Wunsch unerschöpflich Speisen spendet; der Breitopf des Rituals, der die Sonne im Abbild darstellt und für den frommen Darbringen zur Wunschkuh werden soll, die ihm alle Wünsche erfüllt; das unerschöpfliche Breitöpfchen des deutschen Kindermärchens; die unendlich mannigfaltigen Geschichten von wunderbaren Wunschmühlen in Europa, die im Grunde auch nichts weiter sind oder doch ursprünglich waren als wunderbare, Gaben spendende Gefäße, nichts andres ursprünglich als wiederum Sonne oder Mond, in solcher Weise vorgestellt; das Tischlein-deck-dich neben dem Esel Bricklebrit im deutschen Märchen; die verschiedenen Zaubergefäße der keltischen Sage, die teils Speise und Trank, teils auch andre Gaben und Kräfte spenden, die ebensowohl untereinander zusammen gehören, wie sie andrerseits von den Wunschmühlen verwandter europäischer Völker sich durchaus nicht trennen lassen; insbesondere auch das wunderbare goldene Becken, das Peronnik, der Dümmling im bretonischen Märchen, dem Riesen Rogdar abgewinnt und das ebenfalls Speise und Trank spendet, daneben auch Tote lebendig und Kranke gesund macht – sie sind sämtlich nur Variationen ein und derselben Grundvorstellung, die bei den phantasievollen arischen Völkern augenscheinlich in großer Kraft und Fülle wucherte.

Die Vorstellung von dem heiligen Gral als einem goldenen oder sonstigen köstlichen Gefäße, das auf wunderbare Weise unerschöpflich Speise und Trank spendet, reiht sich hier so ungezwungen an, dass wohl nichts natürlicher erscheint als die Annahme, die christliche Dichtung des Mittel¬alters habe auf die fabelhafte Passionsreliquie des Joseph von Arithmathia eine Anzahl märchenhafter Züge übertragen, die dem arischen Volkstum und speziell auch dem keltischen, in dessen Gebiet die Gralsage erwuchs, seit alters so geläufig und mit so vielen sagen- und märchenhaften Gefäßen verbunden waren. Speziell die speisegebende Kraft des Grals erklärt sich so auf die natürlichste Weise. Wenn Heinzel die Ansicht äußert, die Identifikation des Gefäßes, in welchem Joseph von Arimathia das Blut Christi auffing, mit der Abendmahlsschüssel Christi sei ein wichtiger Schritt in der Sagenentwicklung gewesen und es hänge damit wohl auch die speisegebende Kraft des Grals zusammen, so soll ihm darin nicht durchaus widersprochen werden. Gewiss passte die speisegebende Kraft besser zur Abendmahlsschüssel als zu dem Blutgefäße. Indessen ist damit die speisegebende Kraft doch noch keineswegs gegeben, am wenigsten in jener naiven Form, wie sie uns bei Wolfram und einigen französischen Dichtern entgegen¬tritt — spîse warm, spîse kalt usw. —, während sich dieselbe durch Übertragung eines geläufigen Sagen- und Märchenmotivs ganz leicht ohne weiteres erklärt.

Es bleibt in dieser Beziehung sehr beachtenswert, was Eduard Wechssler bemerkte: »Trotz ihres ausgesprochen religiösen Charakters wurde die Legende von Kirche und Geistlichkeit nicht anerkannt. Kein Schriftsteller von geistlichem Stand erzählt uns vom Gral. Nirgends finden wir in den so zahlreich überlieferten Werken der Geistlichen auch nur den Namen des Grals, außer bei dem Chronisten Helinand, erwähnt. Und doch kann ihnen die wundersame Märe von dem sechsfachen Glaubenssymbol nicht unbekannt geblieben sein. Sie haben also die Legende absichtlich mit Stillschweigen übergangen«.

Das ist wichtig. Es wurde über den Gral offenbar allzuviel erzählt und gefabelt, und zwar in Kreisen, die der Kirche ferne standen. Nicht geistliche, sondern weltliche Dichter waren es, die mit ihrer Phantasie den Grat umwoben, ihn mit ihren poetischen Erfindungen ausschmückten, ihn mit wunderbarer Herrlichkeit umkleideten und in unnahbare Höhen emporhoben. Die Kirche scheute offenbar davor zurück, mit diesen Spielen dichterischer Phantasie in ein näheres Verhältnis zu treten. Ohne feindselig zu sein, verhielt sie sich doch ablehnend und ließ die weltliche Dichtung frei walten. Das war gewiss richtig und ein Glück für beide Teile. Es spricht aber gewiss auch diese Stellung der Kirche zur Gralsage dafür, dass wir das christlich-legendarische Element in ihr seiner Bedeutung nach nicht überschätzen dürfen und volle Freiheit für die Annahme rein weltlicher, freidichterischer, oder auch volkstüm¬licher, sagenhafter und märchenhafter Beeinflussungen haben. Hätte die Kirche die Legende akzeptiert und kontrolliert, so wäre vieles anders geworden. Sie tat es nicht. Und so hatte jeder Dichter, groß oder klein, vollste Freiheit zum Fabulieren.

Neben der speisegebenden Kraft des Grals finden wir in manchen der mittelalterlichen Graldichtungen noch andere Züge, welche die Annahme eines Zusammenhanges derselben mit jenem altarischen Sagenkreis, der letzten Endes auf die Vorstellung von Sonne und Mond als himmlischen Gefäßen zurückgeht, weiter zu stützen durchaus geeignet sind.

Wir sahen, dass in einigen dieser Dichtungen das goldene Gralgefäß nicht getragen wird, sondern, hellen Glanz um sich verbreitend, frei durch die Luft schwebt und die Tafelnden automatisch bedient. Wir wurden dadurch an das Göttergelage in der Edda erinnert, wo das Bier in dem von Hymir erbeuteten Kessel sich selbst aufträgt, während helles Gold die Beleuchtung dazu gibt. Wir mussten uns sagen, dass für ein goldenes Gefäß, das strahlend frei durch die Luft schwebt, ein vollkommeneres und passenderes Urbild sich nicht denken lässt als das im Himmelsraum frei schwebende, hell strahlende Sonnen- oder Mondgefäß, welche beide nach uraltarischer Vorstellung Göttern und Seligen ihren köstlichen Inhalt darbieten.

Wir waren so kühn, selbst die Reihen von Decken, mit denen der himmlische Soma nach einer Stelle des Rigveda verhüllt ist, in Zusammenhang zu bringen mit den verschiedentlichen Hüllen oder Decken, mit denen der Gral bedeckt erscheint, bis er in feierlicher Stunde enthüllt wird. Dass dies eine kühne und selbstverständlich hypothetische Annahme ist, da hier Zwischenglieder zwischen Rigveda und Graldichtung zu fehlen scheinen, dessen sind wir uns ganz bewusst. Doch durfte uns das nicht hindern, auch diesen Punkt in der Reihe merkwürdiger Zusammenstimmungen mit aufzuführen.

Ein höchst wichtiger Punkt der Übereinstimmung, der einen bisher ganz dunkel gebliebenen Zug der Graldichtungen überraschend aufhellt, bestand darin, dass die Gewinnung des himmlischen Soma durch Indra zugleich Regengewinnung, Befreiung der Wasserströme für Erde und Menschenwelt bedeutet, dass das Somaopfer dementsprechend einen Regenzauber darstellt, der Soma-Mond ein Regenspender ist — und dass dazu in merkwürdigster Weise jene Gralsagen stimmen, die das Land um die Gralsburg als verdorrt, wüste und unfruchtbar schildern, bis die Auffindung der Gralsburg durch den Gralhelden oder die zauberische Frage, durch die er zum Herrn der Gralsburg wird, alles mit einem Schlage verändert, Wiesen und Wälder grünen, die Wasser wieder fließen macht. Der große Frühlingszauber des Gewittergottes lebt darin in sagenhafter Form weiter. Und wesentlich gestützt wurde diese Zusammenstellung durch den Nachweis, dass im altgermanischen Mythus die Wiedergewinnung des Donnerhammers durch Thôrr sich als Paralleldichtung zu seiner Erbeutung des Bierkessels für das Göttergelage von Hymir darstellt, dass beide untrennbar verschmolzen im estnischen Märchen von der Donnertrommel erscheinen und hier als Endzweck des Ganzen unzweifelhaft deutlich die Regengewinnung hervortritt.

Die Regengewinnung aber ist nach altindischer Sage das Werk des reinen Toren — und so ist es ein weiterer merkwürdiger Zug der Übereinstimmung, dass auch der Gralheld, der Sucher und Finder der Gralsburg, sich deutlich in dieser Eigenschaft darstellt: Parzival, der tumbe, der so deutlich mit Peronnik l’idiot zusammenstimmt.

Wir glaubten auch den rätselhaft dunklen Zug von dem reichen Fischer, als Gralsherrn , ein wenig aufzuhellen, indem wir an Hymir erinnerten, den Walfischangler, der den Kessel im Besitz hat, nach dem die Götter begehren, dazu noch andre ähnliche Kessel und den köstlichen Kelch; desgleichen an den Fischer Lijon des entsprechenden estnischen Märchens, bei dem freilich eine Verschiebung stattgefunden hatte.

Von großer Wichtigkeit ist der Umstand, dass das himmlische Lichtreich, in welchem Sonnengefäß und Mond-Soma strahlen, in Altindien deutlich als Wohnbereich der Seelen, der seligen Abgeschiedenen gedacht wird und dass diese letzteren als Mitgenießer des Inhalts jener himmlischen Gefäße erscheinen; dass speziell eine wichtige Erscheinungsform des Seelenheeres, die Gandharven, als waffentragende, ritterliche Hüter des himmlischen Rauschtrankes, resp. des Mond-Soma und wohl auch des Sonnenbreis, hervortritt, während die eng mit ihnen verbundenen weiblichen Partnerinnen, die Apsarasen, die indischen Schwanjungfrauen sind, aus deren Mitte Urvaci sich loslöst, um ihr typisch schwanelbisches Liebesabenteuer mit einem Sterblichen zu durchleben.

Den Apsarasen entsprechen in Skandinavien die Walküren, da auch diese Schwanjungfrauen sind und ähnliche Abenteuer erleben; und die Walküren wiederum stehen direkt mit dem himmlischen Rauschtrank von Walhall in Beziehung, da sie selbst ihn den Einheriern, einer andern Form des männlichen Seelenheeres, kredenzen. Kein Zweifel, dass schon in urarischer Zeit selige Scharen von Abgeschiedenen im Lichtreich des Himmels, der Sonne und des Mondes, gedacht wurden, darunter Schwanelben und kriegerisch gerüstete Männer. Vor allem das deutliche Bild dieser Vorstellungen im Veda löst uns ein großes Rätsel der Gralsage. Wir begreifen, warum die Gralsburg ein Eden. Schloss der Freuden, Schloss der Seelen genannt wird; wir begreifen die Verbindung des Schwanritters mit dem Gral, denn der Schwanritter ist ein unzweifelhafter alter Schwanelbe, der das typische Schwanelbenabenteuer durchlebt, und er ist zugleich der ritterliche Hüter des Gralgefäßes, er vereinigt in seiner Person in gewisser Weise die Natur der Gandharven und Apsarasen, resp. bestimmte wichtige Züge derselben oder summarisch, ins Germanische übersetzt, die Natur der Einherier und der schwanelbischen Walküren. Wir begreifen dies alles, sobald wir den Einfluss einer im stillen, im Volke fortlebenden altarischen Sagenwelt auf die Ausbildung der Gralsage annehmen. Und diese Annahme stimmt zu allen unseren Ergebnissen.

Auch die Entrücktheit des Grals, die Unzugänglichkeit seines Aufenthaltsortes, das Suchen des Grals durch die Gralhelden, unter allerlei Abenteuern und der durch den endlichen Erfolg dann sogleich eintretende Segen, erklärt sich durchaus nicht befriedigend aus der christlichen Legende von der köstlichen Passionsreliquie; wohl aber ohne weiteres aus den zahlreichen uralten Sagen und Mythen von dem Suchen und Gewinnen des vorenthaltenen, irgendwo im Verborgenen gehüteten, wunderbaren, resp. himmlischen Gefäßes.

Wenn in der Graldichtung meist bloß ein wunderbares Gefäß hervortritt, bisweilen aber auch zwei Gefäße nebeneinander erscheinen, von denen freilich eines das andre stets weit überragt; wenn drittens nicht selten auch noch eine Waffe, Lanze, hinzutritt dann passt auch dies Verhältnis vortrefflich zu altarischer Sage und altarischem Kult, wo bisweilen Sonne und Mond nebeneinander erscheinen, in der Regel aber doch nur von einem der beiden himmlischen Gefäße erzählt wird: während als drittes die Waffe des Donnergottes – Donnerkeil, Hammer, Pfeil, auch Lanze (im Mahâbhârata) hinzukommt, in der Regel als das machtvolle Mittel, das gesuchte Kleinod zu erringen, bisweilen aber selbst Gegenstand des Suchens und Ringens. Im Peronnik-Märchen erscheinen das goldene Becken und die diamantene Lanze, la lance sans merci, nebeneinander; im deutschen Märchen neben Tischlein-deck-dich und Bricklebrit der Knüppel-aus-dem-Sack, der beide wieder gewinnt.

Dass im Übrigen vielleicht die Gralprozession bei einigen Dichtern durch das Bild der Vorgänge bei der Messe, insbesondere der byzantinischen Messe beeinflusst worden ist, wollen wir nicht in Abrede stellen. Es ist das ganz möglich, vielleicht wahrscheinlich. Die Art und das Maß dieses Einflusses festzustellen, kann hier aber nicht unsere Aufgabe sein. Sie muss denen überlassen bleiben, welche gerade auf diesen Punkt ein besonderes Gewicht legen.

Wir können es auch nicht unternehmen, das Gebiet der eigentlichen christlichen Legende in der Graldichtung bestimmter zu umgrenzen. Uns muss es genügen festzustellen, dass sich jedenfalls ein reicher Strom altarischer Mythen, Sagen und Märchen mit dieser Legende vereinigt hat. Die Legende wurde von dem Strom erfasst, von der freien Fabulierlust weltlicher Dichter immer weiter getragen. Gerade dadurch aber, dass die hehre Passionsreliquie von heimischem Sagengut reich umsponnen ward, konnte eine Dichtung entstehen, die alle poetischen Bedürfnisse der Volksseele befriedigte und zugleich zum unvergleichlichen Symbol christlich-mittelalterlichen Empfindens und Glaubens emporwuchs.*

*Erst nach dem Abdruck der vorliegenden Abhandlung wurde mir das überaus wertvolle und reichhaltige Werk von Jessie L. Weston, The Legend of Sir Perceval, Studies upon its origin, development and position in the Arthurian cycle, London 1906—1909 (Band XVII und XIX der Grimm Library) bekannt. Dasselbe berührt sich vielfach mit meinen obigen Ausführungen und kommt insofern zu einem ähnlichen Resultat, als es die Gralsage ebenfalls sehr bestimmt auf den alten Naturkult zurückführen will. Näheres darüber s. in meinem Aufsatz »der arische Naturkult als Grundlage der Sage vom heiligen Gral« in den Bayreuther Blättern von 1911. S. 92-98
Aus. Die Wurzeln der Sage vom heiligen Gral von Leopold von Schroeder. Vorgelegt in der Sitzung am 6. Juli 1910. Sitzungsberichte Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Klasse. 166. Band, 2. Abhandlung. Wien, 1911. In Kommission bei Alfred Hölder