Hans Küng (1928 - )

Schweizer katholischer Theologe und Philosoph, der – zivilcouragiert in engagiertem Gottvertrauen – eine führende und vorbildliche Rolle in der innerkirchlichen Diskussion der Themen Unfehlbarkeit, Kirche und Gott wahrnimmt. In seinem 1990 erschienenen Buch »Projekt Weltethos« entwickelt und begründet er darüber hinaus die Idee, dass die Religionen der Welt nur dann einen faktischen Beitrag zur friedlichen Entwicklung der Menschheit leisten können, wenn sie sich auf ihre ethischen Gemeinsamkeiten besinnen und sich auf eine Grundsatzerklärung allgemeinverbindlicher Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen verständigen. Im Jahre 1993 verabschiedete das Parlament der Weltreligionen, die unter der Federführung von Hans Küng entworfene »Erklärung zum Weltethos«, in der sich die Vertreter aller Religionen - unabhängig von Religion, Ideologie, Geschlecht, Rasse und Nation - auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit (Ehrfurcht vor allem Leben), der Solidarität (Verwirklichung einer gerechten Wirtschaftsordnung), der Toleranz (Leben in einer gegenseitig sich respektierenden Wahrhaftigkeit) und der gleichberechtigten Partnerschaft von Mann und Frau verpflichten. Zur Zeit ist Hans Küng Professor emeritus für Ökumenische Theologie an der Universität Tübingen und Präsident der »Stiftung Weltethos«.

Siehe auch Wikipedika

Inhaltsverzeichnis

Was ist Religion?
Kann Gott erkannt werden
Wie ist das lenkende Wirken Gottes zu verstehen?
Gott und Welt
Es ist absolut unmöglich zu beweisen, dass Gott nicht existiert!
Dreieinigkeit – Dreifaltigkeit –Trinität
Existiert Gott?

Christus
Das Gottesverständnis nach Auschwitz
1. Gott ohnmächtig angesichts des Leids?
2. Schöpfung der Welt — Selbstbeschränkung Gottes?
5. Antwort auf die Theodizee-Frage
6. Sinnloses Leid nicht theoretisch verstehen, sondern vertrauend bestehen
7. Ein dritter Weg

Der fatale Antisemitismus eines Katholiken: Adolf Hitler

Muhammad - ein Prophet?

Was ist Religion?
Immer mehr Theologen begreifen es heute als verhängnisvoll, daß sich infolge des theologischen Umbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg und des Einflusses von Karl Barth christliche Theologie einerseits und Religionshistorie, Religionsphänomenologie, Religionswissenschaft überhaupt auseinander und oft sogar gegeneinander entwickelt haben; Barths berechtigten großen Intentionen kann die Theologie nachkommen, ohne daß sie sich der Religionswissenschaft verweigert und sich gegenüber den »Religionen« als christlicher »Glaube« abkapselt und einigelt. Eine »splendid isolation« ist heute keiner Religion mehr möglich. Die religiösen, sittlichen, ästhetischen Werte von Milliarden Menschen außerhalb des Christentums können und dürfen nicht länger ignoriert werden. Umgekehrt erkennen aber auch immer mehr Religionswissenschaftler — und auch hier sind Amerikaner führend —, daß auch sie auf die Dauer normativen Fragen nach Wahrheit und Werten nicht ausweichen dürfen.

Was Religion ist, läßt sich so schwierig definieren wie Kunst. »Ich wußte es, bis du mich fragtest, es zu erklären«, könnte man mit Augustin (auf die Frage, was »Zeit« sei) antworten. Oft völlig Verschiedenes wird im einen wie im anderen Fall unter einen Begriff gebracht. Der Ausdruck »Religion« ist in vielfacher Hinsicht problematisch und wird von Religionswissenschaftlern wie von Theologen kritischer Befrachtung unterzogen. Auf die weitverzweigte Debatte muß hier nicht eingegangen werden. Es genügt zu sehen, daß »Religion«, wenn auch nicht ein völlig äquivoker [verschieden deutbarer], so doch ein analoger Begriff ist, der Unähnlich-Ähnliches umschließt. Die Unähnlichkeit zeigt sich vor allem darin, daß der Begriff vom Glauben an viele Götter über den Glauben an den einen Gott bis hin zur Ablehnung eines Gottesglaubens (im frühen Buddhismus) beinahe alle Optionen abdecken muß. Auch diese Dialogvorlesungen zwischen Religionswissenschaftlern und einem christlichen Theologen setzen keinen normativen Begriff von Religion voraus. Und doch ist es wichtig, daß der christliche Theologe für sich Rechenschaft ablegt über seinen Gebrauch des Begriffs der Religion gleichsam in Form einer Arbeitshypothese. Dies ist möglich, weil bei aller Unähnlichkeit sich doch auch Ähnlichkeiten feststellen lassen, die ich nur skizzieren kann.

Immer geht es in der Religion um eine erlebnishafte »Begegnung mit dem Heiligen« (Rudolf Otto, Friedrich Heiler, Mircea Eliade, Gerhard Mensching) — mag diese »heilige Wirklichkeit« nun als Macht, als Mächte (Geister, Dämonen, Engel), als (personaler) Gott, (apersonales) Göttliches oder irgendeine letzte Wirklichkeit (Nirvâna) verstanden werden. »Religion« läßt sich deshalb für die Zwecke dieses Dialogunternehmens wie folgt umschreiben: Religion ist die in einer Tradition und Gemeinschaft sich lebendig vollziehende (in Lehre, Ethos und meist auch Ritus) sozial-individuell realisierte Beziehung zu etwas, was den Menschen und seine Welt übersteigt oder umgreift: zu einer wie immer zu verstehenden allerletzten wahren Wirklichkeit (das Absolute, Gott, Nirvâna). Im Unterschied zur Philosophie geht es in der Religion um Heilsbotschaft und Heilsweg zugleich.

Denn dies haben gerade auch die religionswissenschaftlichen Darlegungen deutlich gemacht: Religion ist mehr als eine rein theoretische Angelegenheit, gar nur eine Sache der Vergangenheit, Aufgabe für Urkundenforscher und Quellenspezialisten. Nein, Religion, wie sie hier geschildert wird, ist immer auch gelebtes Leben, eingeschrieben in die Herzen der Menschen und von daher für alle religiösen Menschen eine höchst gegenwärtige und durchaus den Alltag bestimmende Angelegenheit. Man kann sie mehr traditionell, oberflächlich, passiv leben oder aber tief empfunden, engagiert, dynamisch: Religion ist eine gläubige Lebenssicht, Lebenseinstellung, Lebensart, ist deshalb ein Menschen und Welt umgreifendes individuell-soziales Grundmuster, durch das der Mensch (ihm nur teilweise bewußt) alles sieht und erlebt, denkt und fühlt, handelt und leidet: ein transzendent begründetes und immanent sich auswirkendes Koordinatensystem, an dem sich der Mensch intellektuell, emotional, existentiell orientiert. Religion vermittelt einen umfassenden Lebenssinn, garantiert höchste Werte und unbedingte Normen, schafft geistige Gemeinschaft und Heimat.
S.12f.
Aus: Hans Küng/Josef van Ess, Christentum und Weltreligionen: Islam, Serie Piper SP 1908, Piper München Zürich Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng,
s. a. weltethos

Kann Gott erkannt werden?
Gott kann nicht wie ein uns vorgegebenes Gegenständliches erkannt werden. Es kann nicht allgemein überzeugend bewiesen werden, daß Gott existiert. Es kann aber noch weniger allgemein überzeugend bewiesen werden, daß Gott nicht existiert. Für die reine Vernunft, die nach Beweisen verlangt, scheint Gott nicht mehr als eine Idee ohne Realität, ein Gedanke ohne Wirklichkeit zu sein.

Unmöglich erscheint also eine deduktive Ableitung Gottes aus dieser erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch durch die theoretische Vernunft, um seine Wirklichkeit in logischen Schlußfolgerungen zu demonstrieren.

Nicht unmöglich erscheint hingegen eine induktive Anleitung, welche die einem jeden zugängliche Erfahrung der fraglichen Wirklichkeit auszuleuchten versucht, um so — gleichsam auf der Linie der »praktischen Vernunft«, des »Sollens«, besser des »ganzen Menschen« — den denkenden und handelnden Menschen vor eine rational verantwortbare Entscheidung zu stellen, die über die reine Vernunft hinaus den ganzen Menschen beansprucht. S.603

Aus: Hans Küng: Existiert Gott?, dtv 1628, Deutscher Taschenbuch Verlag
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
Weltethos

Wie ist das lenkende Wirken Gottes zu denken?
Gott wirkt in der Welt nicht in der Weise des Endlichen und Relativen, sondern als das Unendliche im Endlichen und das Absolute im Relativen.

Gott wirkt nicht von oben oder außen als unbewegter Beweger in die Welt hinein, sondern er wirkt als die dynamische wirklichste Wirklichkeit von innen im Entwicklungsprozeß der Welt, den er ermöglicht, durchwaltet und vollendet. Er wirkt nicht über dem Weltprozeß, sondern im Weltprozeß: in, mit und unter den Menschen und Dingen. Er selbst ist: Ursprung, Mitte und Ziel des Weltprozesses!

Gott wirkt nicht nur an einzelnen besonders wichtigen. Punkten oder Lücken des Weltprozesses, sondern er wirkt: als der schöpferische und vollendende Urhalt und so als der weltimmanent-weltüberlegene Lenker der Weltallgegenwärtig (omni-präsent) und allmächtig (omni-potent) — unter voller Respektierung der Naturgesetze, deren Ursprung er selber ist. Er selbst ist der alles umgreifende und alles durchwaltende Sinn-Grund des Weltprozesses, der freilich nur im glaubenden Vertrauen erfahren werden kann.

Gott, die absolute Freiheit, kann frei handeln, ja er kann ohne jegliches, den Kausalzusammenhang sprengendes Mirakel handeln: den Menschen »ansprechen« und in diesem (nicht übernatürlichen) Sinn auch »eingreifen«. Ein »Eingreifen« und Handeln also, das im Verborgenen geschieht: das nicht objektiv vorfindbar und vorweisbar ist, dessen Wirklichkeit nur im vertrauenden Sich-Einlassen erkannt wird. So kann der Mensch in seiner bestimmten individuellen und gesellschaftlichen Situation von Gott angesprochen werden, kann er einen Gedanken oder eine Entscheidung in aller Vorsicht und Zurückhaltung als wirkliche Eingebung Gottes für sein Leben verstehen, kann er selber dankend, lobend und bittend Gott ansprechen. S.96-97
Aus: Hans Küng, 24 Thesen zur Gottesfrage, Serie Piper SP 171, Piper München Zürich
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
Weltethos

Gott und Welt
Welt oder Gott - das ist keine Alternative: weder die Welt ohne Gott (Atheismus) noch Gott ohne Welt (Pantheismus) ! Jedoch Gott und Welt, Gott und Mensch auch nicht als zwei konkurrierende endliche Kausalitäten nebeneinander: wo die eine gewinnt, was die andere verliert. Wenn Gott wirklich der unendliche Urgrund, Urhalt und Ursinn von Welt und Mensch ist, so wird deutlich, daß Gott nichts verliert, wenn der Mensch gewinnt, sondern daß Gott gewinnt, insofern der Mensch gewinnt. Ja, insofern dieser Gott nach der Bibel als absolute Freiheit zu verstehen ist, ist er auch nicht bedroht durch des Menschen Freiheit; denn Gott selbst ermöglicht, ermächtigt und erlöst sie. Und insofern der Mensch relative Freiheit ist, wird er auch nicht erdrückt durch Gottes Freiheit; denn der Mensch lebt ganz und gar von dieser Freiheit, Also verhält es sich gerade umgekehrt wie bei zwei konkurrierenden endlichen Ursachen, wo die eine auf Kosten der anderen gewinnt: Je mehr Gott zugesprochen wird, um so mehr darf auch dem Menschen zugesprochen werden, und je mehr dem Menschen zugesprochen wird, um so mehr darf auch Gott zugesprochen werden! S.710
Aus: Hans Küng: Existiert Gott?, dtv 1628, Deutscher Taschenbuch Verlag
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
Weltethos

Es ist absolut unmöglich zu beweisen, dass Gott nicht existiert!
7. Alle Beweise oder Aufweise der bedeutenden Atheisten reichen zwar aus, um die Existenz Gottes fragwürdig zu machen, aber nicht, um Gottes Nicht-Existenz fraglos zu machen: Weder eine philosophisch-psychologische (Feuerbach) noch eine gesellschaftskritische (Marx) noch eine psychoanalytische (Freud) Deutung des Gottesglaubens kann über die Existenz oder Nicht-Existenz einer von unserem Denken, Wollen, Fühlen, von Psyche und Gesellschaft unabhängigen Wirklichkeit entscheiden.

8. Der Glaube an Gott darf nicht nur behauptet, kann aber auch nicht bewiesen werden. Doch soll er bewahrheitet werden.

16. Gott ist kein überirdisches oder außerirdisches Wesen im physikalischen oder metaphysischen Himmel, sondern Gott ist in dieser Welt und diese Welt in Gott. Gott ist auch kein ungeschichtliches oder übergeschichtliches Wesen, sondern ist der mitten in der Geschichte dynamisch Wirkliche und stetig Wirkende.

18. An Gott als den Lenker der Welt glauben, heißt nicht, daß Gott die Naturgesetze aufhebt, heißt vielmehr: Gott überläßt Welt und Mensch nicht ihrem Schicksal, sondern engagiert sich für sie in aller Verborgenheit.

19. An Gott als den Vollender der Welt glauben, heißt, in aufgeklärtem Vertrauen bejahen, daß Welt und Mensch nicht im letzten Wohin unerklärlich bleiben, sondern in Gott eine bleibende Geborgenheit und wahre Vollendung finden. S.46, 50, 84, 94, 98
Aus: Hans Küng, 24 Thesen zur Gottesfrage, Serie Piper SP 171, Piper München Zürich
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
Weltethos

Dreieinigkeit – Dreifaltigkeit –Trinität
Es geht ganz wesentlich um die richtige Zuordnung von Gott, Jesus (Sohn, Wort, Christus) und Geist, die sowohl die wahre Verschiedenheit wie auch die ungetrennte Einheit herausstellt. Die auf hellenistischen Vorstellungen beruhenden Deutungsversuche und die daraus hervorgegangenen dogmatischen Formulierungen dieser Zuordnung werden uns heute nicht immer helfen. Sie sind wie alle Formulierungen zeitbedingt und nicht einfach mit der biblischen Grundaussage identisch. Deswegen sind sie nicht etwa gedankenlos abzulehnen. Sie sind aber auch nicht gedankenlos zu wiederholen. Sie sind vielmehr vom Neuen Testament her für die Gegenwart differenziert zu interpretieren.

Gott ist durch den Sohn im Geist offenbar: Es ist wichtig, die Einheit von Vater, Sohn und Geist als Offenbarungsgeschehen und Offenbarungseinheit zu verstehen. Dabei kommt alles darauf an, die Einheit und Einzigkeit Gottes auf keinen Fall in Frage zu stellen, die Verschiedenheit der »Rollen« von Vater, Sohn und Geist nicht aufzuheben; die »Reihenfolge« nicht umzukehren und insbesondere Jesu Menschlichkeit keinen Augenblick außer acht zu lassen. Es ist ja die christologische Frage, von der her sich die trinitarische Frage entwickelt hat: Das Verhältnis von Gott und Jesus ist im Hinblick auf den Geist reflektiert worden; eine Christologie ohne Pneumatologie (Lehre vom Geist) wäre unvollständig. Wir haben gesehen: Als Gottes Sohn ist der wahre Mensch Jesus von Nazaret des einen wahren Gottes wirkliche Offenbarung. Die Frage lag nahe: Wie wird er für uns präsent? Die Antwort lautete: nicht physisch-materiell, aber auch nicht unwirklich, sondern im Geist, in der Daseinsweise des Geistes, als geistige Wirklichkeit. Der Geist ist die Gegenwart Gottes und des erhöhten Christus für die Glaubensgemeinschaft und den einzelnen Glaubenden. In diesem Sinn ist Gott selbst durch Jesus Christus offenbar im Geist.

Und nur folgerichtig ist es dann, wenn umgekehrt die Gebete immer — wie in der klassischen römischen Liturgie — »durch« den Sohn »im« Heiligen Geist an Gott, den Vater, selbst gerichtet werden. Es ist nicht zu vergessen: Die Trinität war ursprünglich nicht Gegenstand theoretischer Spekulation, sondern Gegenstand des Bekenntnisses und Lobpreises von Gottes »Herrlichkeit«: »Doxo-logie«. Und es gibt denn auch keinen schöneren Ausdruck des ursprünglichen Trinitätsverständnisses als die große Schlußdoxologie zum römischen Kanon: »Durch ihn und mit ihm und in ihm (Jesus Christus) wird dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Ehre und Verherrlichung von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« S.766f.
Aus: Hans Küng: Existiert Gott?, dtv 1628, Deutscher Taschenbuch Verlag
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
weltethos

Existiert Gott?
Existiert Gott? Auch für den Menschen von heute kann trotz aller Erschütterungen und Zweifel die einzig angemessene Antwort die sein, mit der glaubende Menschen aller Generationen seit alter Zeit immer wieder ihren Glauben bekannt haben. Sie beginnt mit einem Lob: »Te, Deum, laudamus« »Dich, Gott, loben wir«, und endet im Vertrauen: »In te, Domine, speravi, non confundar in aeternum!« »Auf dich, Herr, habe ich vertraut, und ich werde nicht zuschanden in Ewigkeit!« S.767
Aus: Hans Küng: Existiert Gott?, dtv 1628, Deutscher Taschenbuch Verlag
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
Weltethos

Das Gottesverständnis nach Auschwitz
Der Holocaust, dieses Geschehen von einmaliger menschlicher Brutalität, läßt die Frage nach Gott in einer bisher noch nie erreichten Tiefe aufbrechen. Um auch hier angesichts unendlich vieler Fragen nicht ins Uferlose zu geraten, will ich die bisherige Linie des Buches fortsetzen und mich vor allem mit jüdischen Gesprächspartnern auseinandersetzen. Ich will deshalb in die Problematik einsteigen durch die Auseinandersetzung mit einem Stück »spekulativer Theologie« das Hans Jonas, der jüdische Religionsphilosoph von der New School for Social Research in New York, in großem Freimut vorgelegt hat.1984 hielt Jonas einen angesichts seiner persönlichen Situation (vertrieben von den Nazis aus Deutschland; Tod der Mutter in Auschwitz) ergreifenden Vortrag an der Universität Tübingen über den »Gottesbegriff nach Auschwitz«. Und wenn ich im folgenden daran einige kritische Überlegungen anschließe, dann nicht in der Haltung des Besserwissens, sondern in Solidarität mit der Schwierigkeit, ja letzten Unlösbarkeit dieser Frage.

1. Gott ohnmächtig angesichts des Leids?
Kann man nach Auschwitz noch von Gott als dem allmächtigen, gütigen und verstehbaren »Herrn der Geschichte« sprechen? Nein, gerade diese uralte konventionelle Gottesvorstellung mit ihren traditionellen Prädikaten und Nomenklaturen ist für Jonas nach Auschwitz zu denken unmöglich geworden. Nach Auschwitz ist nun endgültig klar geworden, daß man Allmacht, Güte und Verstehbarkeit Gottes nicht versöhnen kann.

Entweder ist Gott allmächtig und absolut gütig — dann aber ist unverstehbar, warum er etwas so Grauenhaftes wie Auschwitz nicht verhinderte.

Oder Gott ist allmächtig und verstehbar, dann ist Auschwitz die Widerlegung seiner Güte.

Oder Gott ist gütig und verstehbar, dann aber ist Auschwitz der Beweis seiner Ohnmacht.

Alle drei Attribute zusammen — Allmacht, absolute Güte, Verstehbarkeit — sind für Jonas nach Auschwitz nicht mehr gleichzeitig zu haben. Die Alternative?

— Gegen die
biblische Vorstellung von der göttlichen Majestät stellt Jonas den leidenden Gott: »daß das Verhältnis Gottes zur Welt vom Augenblick der Schöpfung an, und gewiß von der Schöpfung des Menschen an, ein Leiden seitens Gottes beinhaltet«.

— Gegen den Gott, der in seinem vollständigen Sein identisch bleibt durch die
Ewigkeit, stellt er den werdenden Gott, nicht »eine indifferente und tote Ewigkeit ..., sondern eine, die wächst mit der sich anhäufenden Ernte der Zeit«.

— Gegen einen fernen, abgehobenen, in-sich-beschlossenen Gott stellt er den sich sorgenden Gott, der »verwickelt ist in das, worum er sich sorgt»: »ein gefährdeter Gott, ein Gott mit eigenem Risiko« ist.

— Gegen die Allmacht stellt er die Ohnmacht Gottes, einen Gott, der in Auschwitz und anderswo schwieg und nicht eingriff, »nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte«.

Anders gesagt: An Gottes Gutsein und seiner Verstehbarkeit hält Jonas fest — auch nach Auschwitz. Geopfert werden muß die Allmacht Gottes.

All diese Gedanken sind nicht einfach die Erfindung von Hans Jonas. Im Gegenteil: Jonas stellt sich damit bewußt in eine Tradition, die, wie wir im ersten Hauptteil hörten, der große jüdische Gelehrte Gershom Scholem im 20.Jahrhundert wieder neu zum Leuchten gebracht hat: die Tradition der jüdischen Mystik, der Kabbala. Und in der Tat gibt es in der Kabbala bei Isaak Luria im 16. Jahrhundert — jenem uns bereits bekannten »Löwen«(»An«), der dann freilich durch den Pseudomessias Sabbatai Zwi desavouiert wurde — die kosmogonische Spekulation darüber, wie Schöpfung überhaupt entstehen konnte. Lurias Antwort: da Gott »alles« ist, nur durch einen freiwilligen »Rückzug«, eine Selbstzurücknahme, Selbstbeschränkung Gottes.

Kabbalistisch ist dies die Lehre vom »Zimzum«, und ähnliche Gedanken finden sich ausgedrückt in chasidischen Vorstellungen vom »Selbstverzicht«, der »Entselbstung« und der »Herablassung« Gottes. »Zimzum«: Dieser Begriff ist älter als die Kabbala. Er bedeutet ursprünglich »Konzentration« oder »Kontraktion« von Gottes heiliger Gegenwart auf das Allerheiligste des Tempels oder des Berges Sinai! Von Luria aber wird dieser Begriff nicht nur ins Kosmogonische erweitert, sondern inhaltlich umgekehrt interpretiert: als eine Selbstbeschränkung Gottes schon am Anfang der Zeit — um eben so der Welt eine autonome Existenz, Raum und Zeit überhaupt erst zu ermöglichen.

»Die Existenz des Weltalls« — so Scholem — sei »durch einen Prozeß des Einschrumpfens in Gott möglich gemacht« worden. Gott habe »in seinem Wesen einen Bezirk freigegeben, aus dem er sich zurückzog, eine Art mystischen Urraum, in den er in der Schöpfung und Offenbarung hinaustreten konnte«.

Schöpfung wird hier also nicht mehr verstanden als Akt göttlicher Selbstentfaltung, sondern göttlicher Selbstbeschränkung!

Ein Gott, der sich selbst durch die Existenz der Schöpfung ein Stück weit verneint und der, »nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab ... nichts mehr zu geben« hat, so auch Hans Jonas. Es sei jetzt am Menschen, ihm zu geben.

Die Rede von Jonas über den »Gottesbegriff nach Auschwitz« war von großem Ernst geprägt, mit »Furcht und Zittern« vorgetragen — jenseits von platter religionskritischer Negation wie von orthodox-vollmundiger Affirmation Gottes. Und doch eine ganz befriedigende Antwort — für Juden, für Christen? Dies muß klar gesehen werden: In dieser Frage geht es nicht mehr um eine interreligiöse Kontroverse zwischen Juden und Christen, da einerseits viele Juden in dieser Frage anders denken als die Kabbalisten und andererseits auch einzelne christliche Theologen versuchen, unter anderem mit Hilfe dieser kabbalistischen »Geheimlehre« hinter die Geheimnisse Gottes zu kommen und das Wie der Schöpfung und das Warum des menschlichen Leidens zu entschlüsseln.

Doch abgrundtief ist die Frage des Leids, vor allem die des nicht selbstverschuldeten, des unverschuldeten Leids: des privat-individuellen Leids etwa unschuldiger Kinder, wie es Dostojewski und Camus gequält hat, und erst recht des welthistorischen Leids, der sinnlosen Naturkatastrophen, der großen Erdbeben mit Zehntausenden von Toten wie der unmenschlichen Menschheitstragödien, des Holocausts vor allem. Ich versuchte mir in dieser Frage schon lange meinen eigenen Weg zu suchen, fand es aber angesichts aller Erfahrungen besser, im Blick auf das ungeheure Leid und das unvorstellbare Böse, statt mich an die kosmogonischen Spekulationen gnostischer Herkunft (Basilides; Buch des großen Logos!) à la Luria oder Jakob Böhme lieber letztlich an die große klassische Tradition zu halten. Und dies schon, was die Schöpfung betrifft:

2. Schöpfung der Welt — Selbstbeschränkung Gottes?

Sollen wir als Voraussetzung der Schöpfung wirklich eine solche Selbstbeschränkung oder Selbstverschränkung des unendlichen Gottes aus sich selbst und in sich selbst annehmen? Dies erscheint mir nun doch, auch wenn die Selbstbeschränkung als Ausdruck von Gottes Allmacht erklärt wird, eine höchst anthropomorphe (»grobe«, »handfeste«, so auch Scholem) Vorstellung zu sein. Daß sich Gott in Menschenart zusammenziehen, kontrahieren müßte, um einem anderen neben sich Dasein und Wesen zu gewähren, Raum einzuräumen, Zeit zu geben, scheint mir Gott seiner Unendlichkeit, Ewigkeit und Vollkommenheit zu berauben. Schon Moses Maimonides polemisierte gegen die Vorstellung, Gott habe so etwas wie einen geheimnisvollen, strahlhaften Körper. Ob da jüdische Kabbalisten und christliche Theologen nicht zu sehr ins Anthropomorphe geraten, wenn sie mittels der Vorstellung eines Zimzum-Gottes nicht nur wissen möchten, daß Gott schafft, sondern wie er es schafft? Besteht nicht die Gefahr, daß Gott zu einem »Deus minor« wird, zu einem »Schrumpfgott« gar?

Heutige jüdische Theologie hält denn auch mit gutem Recht Distanz zur Kabbala und lehnt die Vorstellung eines angesichts des Übels beschränkten Gottes strikt ab. So drückt etwa der vielleicht kenntnisreichste jüdische Systematiker der Gegenwart, ein hervorragender Kenner auch der Kabbala, Louis Jacobs unüberhörbar seine Skepsis gegenüber der Kabbala aus: »Außer man glaubt, wie die Kabbalisten es taten, daß diese Lehre eine direkte göttliche Offenbarung bezüglich des Geheimnisses von Gottes Sein sei, muß man die Kabbala als ein gigantisches spekulatives Projekt ansehen, mit dessen Hilfe Juden über Ideen — neuplatonische und gnostische — meditierten, die ihnen aus der Vergangenheit überkommen waren.« Insbesondere zur Lehre des »Zimzum« im Rahmen von Lurias unerhört komplizierter Schöpfungslehre, wo sich zehn göttliche Potenzen (Eigenschaften, Kräfte, Manifestationen) von der Unermeßlichkeit Gottes her in die Schöpfung hinein ergießen, wovon die christlichen Zimzum-Vertreter freilich nichts wissen wollen, hält Louis Jacobs Distanz: »Die Lurianischen Ideen werden nur von sehr wenigen modernen Juden als offenbarte Wahrheit akzeptiert.« Nein, konstant und mit äußerster Schärfe hält dieser jüdische Theologe an der Einheit Gottes fest und lehnt jegliche trinitarische Interpretation der jüdischen Tradition scharf ab. Das gilt insbesondere für die Idee einer Beschränktheit Gottes angesichts des Übels in der Welt: »Es fordert den Verdacht heraus, daß ein solch beschränkter Gott keine Wirklichkeit besitzt, sondern die Erfindung einer scharfen menschlichen Einbildungskraft ist. Aus diesen Gründen und trotz ihrer brillanten Advokaten vermochte die esoretisch-mystische Lehre vom endlichen Gott nur wenige Anhänger zu gewinnen. Die schlichten Alternativen für den Menschen sind entweder der Glaube an Gott, wie er traditionell aufgefaßt wird, das ist an einen Gott, der allmächtig ist, oder eben ganz und gar Atheismus

Noch schärfer lehnt der führende Theologe der amerikanischen Orthodoxie, Joseph D. Soloveitchik, die neuere kabbalistische Interpretation des Zimzum ab, da dieses »in der Halacha Fragen der Kosmogonie überhaupt nicht berühre«: »Der (kabbalistische) Mystiker betrachtet die Existenz der Welt als eine Art >Affront< — Gott bewahre — gegen Gottes Ehre; der Kosmos, wie er nun einmal sei, schränke die Unendlichkeit des Schöpfers ein.« Dagegen Soloveitchik: »Die Schöpfung der Welt fügt der Idee der Gottheit keinerlei >Makel< (>blemish<) zu, sie schränkt die Unendlichkeit nicht ein; im Gegenteil, es ist der Wille Gottes, daß seine Schechina, seine Göttliche Gegenwart, sich zusammenzieht und sich selbst begrenzt im Bereich der empirischen Wirklichkeit.« Das heißt: Auch für traditionelle jüdische Theologie gilt, wie ich es für die christliche immer wieder dargelegt habe: Gott ist zu verstehen als das Unendliche in allem Endlichen, die Transzendenz im Konkreten, das Göttliche in der empirischen Wirklichkeit der Welt.

Angesichts dieses Befundes läßt man sich auch als christlicher Theologe doch besser nicht auf spekulative jüdische oder christliche Experimente ein, sondern hält sich an das klassische Bekenntnis zum »Deus semper maior«, der als das Maximum auch das Minimum ist und der so Minimum und Maximum überschreitet, wie es Nikolaus von Kues in seinem Früh- und Hauptwerk »De docta ignorantia« (»von der belehrten Unwissenheit«) dargelegt hat: »Vom Standpunkt der negativen Theologie findet sich in Gott nichts als Unendlichkeit.«

Schöpfung »aus dem Nichts« meint deshalb auch in der klassischen christlichen Tradition kein quasi schwarzes Nichts vor oder neben Gott, keinen verselbständigten Leerraum, den Gott freigeben müßte, um überhaupt schöpferisch tätig werden zu können.

Schöpfung »aus dem Nichts« ist nüchterner Ausdruck dafür, daß sich die Welt insgesamt — samt Raum und Zeit, wie schon Augustin betont — der ersten Ursache, Gott allein, und keiner anderen Ursache verdankt. Das Endliche aber kann, anders als anthropomorph denkende jüdische oder christliche Theologen es annehmen, das Unendliche von vorneherein nicht begrenzen. Ja, selbst ein in Raum und Zeit unendliches Universum — nach Einstein halten es die meisten Naturwissenschaftler für endlich — könnte den unendlichen Gott in allen Dingen nicht beschränken. Warum nicht? Weil Gott ganz anders ist: unendlich reiner Geist, den nichts beschränkt. Und weil die Dinge, die Menschen, die Welt, eben gerade nicht neben oder unter Gott existieren, sondern von vornherein in Gott, dem Unendlichen. Nicht neben, sondern in seinem göttlichen Sein und Wesen gewährt der Schöpfer Dasein und Wesen, räumt er Raum ein, gibt er Zeit.

Gott muß sich also nicht zusammenziehen und gleichsam den Atem anhalten, um die Schöpfung auszuhauchen. Gott zieht sich bei der »Schöpfung« nicht zurück, er gibt sich vielmehr selbst. Denn er wirkt in der Welt nun einmal nicht in der Weise des Endlichen und Relativen. Er wirkt als das Unendliche im Endlichen und als das Absolute im Relativen: nicht »der Seiende« neben oder über dem Seienden, sondern das dynamische Sein-Selbst (Thomas von Aquin), an dem alles Seiende teilhat. Die Welt kann so verstanden werden als »participatio« (Platon), besser: als »explicario Dei« (Nikolaus von Kues): als Entfaltung jenes Gottes, der selber das Viele ohne Vielheit und der der Gegensatz in der Identität ist — ohne daß die Welt sich an Gott verlöre oder umgekehrt Gott sich in die Welt auflöste. Nein, kein Pantheismus, aber ein Pan-en-theismus durchaus. Wirkt doch der Unendliche nicht von oben oder außen in die Welt hinein. Wirkt er doch als die dynamisch wirklichste Wirklichkeit von innen im Entwicklungsprozeß der Welt, den er zugleich ermöglicht, durchwaltet und vollendet. So nämlich ist Gott nach Nikolaus von Kues Spätwerk (Das »Nichtandere«) zu verstehen: als »Mitte der Mitte, Ziel des Zieles, Bezeichnung der Bezeichnung, Sein des Seins und Nichtsein des Nichtseins«. Mit anderen Worten: Gott wirkt nicht über der Weltgeschichte, sondern in der Weltgeschichte, in und mit den Menschen und Dingen — als deren Ursprung, Urhalt und Urziel. Der allesumgreifende, allesdurchwaltende unendliche Sinn-Grund der Welt und der Weltgeschichte: die zugleich immanente und transzendente aller-erste-allerletzte Wirklichkeit, die freilich nur in jenem vernünftigen Vertrauen angenommen werden kann, das wir Glauben nennen.

Selbstverständlich macht dieses Bekenntnis zum unbegreiflichen Gott, zum »Deus semper maior« eine »Theodizee«, eine »Rechtfertigung Gottes«, seine Verteidigung angesichts des eingeklagten unendlichen Elends dieser Welt, der unheimlich finsteren Dimensionen der Weltgeschichte und ganz besonders des Holocausts nicht gerade leichter. S.714-720 […]

5. Antwort auf die Theodizee-Frage
Wenn man sich seit Jahrzehnten mit all den Versuchen der Theodizee — in der Neuzeit von Gottfried Wilhelm Leibniz bis Hans Jonas — immer wieder beschäftigt hat, darf man es sicher so direkt sagen: Eine theoretische Antwort auf das Theodizee-Problem, scheint mir, gibt es nicht! Von einer gläubigen Grundhaltung her ist nur das eine zu sagen:

Wenn
Gott existiert, dann war Gott auch in Auschwitz! Gläubige verschiedener Religionen und Konfessionen haben selbst in dieser Todesfabrik daran festgehalten: Trotz allem — Gott lebt.

Zugleich aber hat auch der Gläubige zuzugestehen: Unbeantwortbar ist die Frage: Wie konnte Gott in Auschwitz sein, ohne Auschwitz zu verhindern?

Aller frommen Apologetik zum Trotz ist nüchtern einzugestehen: Wer als Theologe hier hinter das Geheimnis, das Geheimnis Gottes selbst, kommen möchte, findet dort bestenfalls sein eigenes Theologumenon, sein eigenes Theologenfündlein. Weder die Hebräische Bibel noch das Neue Testament erklären uns, wie der gute, gerechte und mächtige Gott — alle diese Attribute kann man schließlich und endlich doch nicht aufgeben, wenn es noch um Gott gehen soll! —, wie er in dieser seiner Welt solch unermeßliches Leid im Kleinen (aber was ist hier »klein«?) und im Großen (ja, Übergroßen) hat geschehen lassen können, wie er »ansehen« konnte, daß Auschwitz möglich ge¬macht wurde, und »zusehen« konnte, wie das Gas ausströmte und die Verbrennungsöfen brannten.

Oder soll ich mich einfach mit der klassischen theologischen Formel über all das Leid des Holocausts hinwegtrösten: Gott »will« das Leid nicht; er will es aber auch nicht nicht, er läßt es vielmehr nur geschehen: »permittit«, »läßt es zu«. Doch löst das alle Rätsel auf? Nein, das löste gestern so wenig, wie es heute etwas löst. Aber Gegenfrage:

Sollen dann ausgerechnet wir dieses Urproblem des Menschen aus der Welt schaffen können? Aufgrund welcher neuen Erkenntnisse, aufgrund welcher eigenen Erfahrungen? Es braucht ja nicht unbedingt den Holocaust. Manchmal genügt schon ein beruflicher Mißerfolg, eine Krankheit, der Verlust, der Verrat oder der Tod eines einzigen Menschen, um uns in Verzweiflung zu stürzen. So erging es auch dem amerikanischen Rabbi Harold S. Kushner. Weil er durch eine tragische Krankheit ein Kind verlor, schrieb er ein Buch, das dann zum Bestseller wurde, mit dem Titel: »When Bad Things Happen to Good People« (»Wenn böse Dinge guten Leuten passieren«). Sein Lösungsvorschlag: die Vorstellung von Gottes Allmacht ist abzuschaffen. Andere empfinden nicht weniger Anfechtungen bei dem Gedanken »When Good Things Happen to Bad People« (»Wenn gute Dinge bösen Menschen passieren«) und möchten gerne Gottes Güte und Gerechtigkeit leugnen. Beides aber ist kein Ausweg aus dem Dilemma. Denn ein aller Allmacht beraubter Gott hört auf, Gott zu sein, und die Vorstellung, daß Gott statt gütig und gerecht grausam und willkürlich wäre, ist erst recht unerträglich.

Wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden: Weder solch vorschnelle Negationen noch solch hochspekulative Affirmationen lösen das Problem. Welche Vermessenheit des Menschengeistes, ob er nun im Kleid der theologischen Skepsis, der philosophischen Metaphysik, der idealistischen Geschichtsphilosophie oder der trinitarischen Spekulation daherkommt! Vielleicht lernt man es von daher, die Gegenargumente eines Epikur, Bayle, Feuerbach oder Nietzsche gegen solche Theodizee weniger als Blasphemie Gottes zu verstehen denn als Spott über der Menschen und besonders der Theologen Anmaßung. Besser schiene mir an diesem äußersten Punkt, bei dieser schwierigsten Frage, eine Theologie des Schweigens. »Würde ich Ihn kennen, so wäre ich Er«, ist ein altes jüdisches Wort. Und manche jüdische Theologen, die angesichts allen Leids auf eine letzte Rechtfertigung Gottes lieber verzichten, zitieren nur das lapidare Schriftwort, welches auf den Bericht vom Tod der beiden durch Gottes Feuer getöteten Söhne Aarons folgt: »Und Aaron schwieg.« (Lev. 10, 3)

Keiner der großen Geister der Menschheit — weder Augustin noch Thomas noch Calvin, weder Leibniz noch Hegel — haben das Urproblem gelöst. »Über das Versagen aller philosophischen Versuche einer Theodizee«: Immanuel Kant schreibt dies 1791, als man in Paris an Absetzung Gottes dachte und dessen Ersetzung durch die Göttin Vernunft betrieb. Aber umgekehrt gefragt: Ist der Atheismus denn eine Lösung? Ein Atheismus, der in Auschwitz sein Faustpfand sähe? Auschwitz — der Fels des Atheismus schlechthin? Oder vielleicht doch Auschwitz — Folge und Ende des Atheismus? Erklärt denn Gottlosigkeit die Welt besser? Ihre grandeur und ihre misére? Erklärt Unglaube die Welt, wie sie nun einmal ist? Vermag Unglaube in unschuldigem, unbegreiflichem, sinnlosem Leid zu trösten? Als ob an solchem Leid nicht auch alle ungläubige Ratio ihre Grenze hätte! Nein, der Antitheologe ist hier nicht besser dran als der Theologe.

Gerade der jüdische Schriftsteller Eli Wiesel, dessen autobiographisches Auschwitz-Buch wir bereits genannt haben, hat durch sein ganzes umfangreiches Dramen- und Prosa-Werk hindurch gezeigt, daß man mit »Auschwitz« weder durch eine Spekulationstheologie noch mit einer Antitheologie adäquat umgehen kann. Auf die Frage, ob wir nach Auschwitz »über Gott« reden könnten, sagte er zugespitzt: »Ich glaube nicht, daß wir über Gott reden können, wir können nur — wie es Kafka sagte — wir können nur zu Gott reden. Es hängt davon ab, wer redet. Was ich versuche, ist, zu Gott zu sprechen. Selbst wenn ich gegen ihn spreche, spreche ich zu ihm. Und selbst wenn ich einen Zorn auf Gott habe, versuche ich, ihm meinen Zorn zu zeigen. Aber genau darin liegt ein Bekenntnis zu Gott, nicht eine Negation GottesOb es dann nach Auschwitz überhaupt noch eine Theologie geben könne? Wiesel antwortete: »Ich persönlich glaube es nicht. Es kann keine Theologie nach Auschwitz und schon gar nicht über Auschwitz geben. Denn wir sind verloren, was immer wir tun; was immer wir sagen, ist unangemessen. Man kann das Ereignis niemals mit Gott begreifen; man kann das Ereignis nicht ohne Gott begreifen. Theologie, der Logos von Gott? Wer bin ich, um Gott zu erklären? Einige Leute versuchen es. Ich glaube, daß sie scheitern. Und dennoch ... Es ist ihr Recht, es zu versuchen. Nach Auschwitz ist alles ein Versuch.« Was also bleibt, wenn es doch das Recht auf einen theologischen Versuch gibt?

6. Sinnloses Leid nicht theoretisch verstehen, sondern vertrauend bestehen
Wir kommen um das ernüchternde Eingeständnis nicht herum: Wenn weder eine theologische noch eine antitheologische »Theorie« das Leid erklärt, dann ist eine andere Grundhaltung gefordert. Es ist meine über Jahrzehnte gewachsene Einsicht, zu der ich bisher keine überzeugende Alternative gefunden habe: Leid, übergroßes, unschuldiges, sinnloses Leid — individuelles wie kollektives — läßt sich nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen. Für Christen und Juden gibt es auf das Theodizee-Problem nur eine praktische Antwort. Welche? Juden wie Christen mögen in dieser Frage auf verschiedene und doch zusammenhängende Traditionen verweisen:

Im äußersten Leid haben Juden, aber auch Christen die Gestalt des Hiob vor Augen, die zweierlei erkennen läßt: Gott ist und bleibt für den Menschen letztlich unbegreiflich, und doch ist dem Menschen die Möglichkeit geschenkt, diesem unbegreiflichen Gott statt Resignation oder Verzweiflung ein unerschütterliches, unbedingtes Vertrauen entgegenzubringen. Von Hiob her können Menschen darauf vertrauen daß Gott auch des Menschen Protest gegen das Leid respektiert und sich schließlich doch als sein Schöpfer manifestiert, der ihn vom Leiden erlöst.

Für Christen — und warum nicht auch für Juden? — scheint im äußersten Leid über die (letztlich doch fiktive Gestalt des Hiob hinaus die wahrhaft historische Gestalt des leidenden und sterbenden »Gottesknechtes«(Jes 52, 13-53, 12) des Schmerzensmannes aus Nazaret, auf. Sein Ausgeliefertsein, Ausgepeitschtsein, Verhöhntsein, sein langsames Dahinsterben am Kreuz hat die dreifache furchtbare Erfahrung der Opfer des Holocaust (Susan Shapiro) vorausgenommen: nämlich jene alles durchdringende Erfahrung, daß man von allen Menschen verlassen, daß man sogar des Menschseins beraubt, ja, daß man auch von Gott selbst verlassen werden kann.

Der Historiker Martin Gilbert berichtet in seiner Monographie »The Holocaust« die Geschichte des l6jährigen Jungen Zwi Michalowski: »Am 27. September 1941 sollte der Junge mit über 3 000 anderen litauischen Juden umgebracht werden. Er stürzt in die Grube. unmittelbar bevor die Salve die anderen trifft. In der Nacht darauf kriecht er aus dem Massengrab und flieht ins nächste Dorf. Ein Bauer, der ihm öffnete, sieht den Nackten, mit Blut Beschmierten und sagt: >Jude, geh zurück ins Grab, wo du hingehörst!< — Verzweifelt beschwört Zwi Michalowski schließlich eine ältere Witwe: >Ich bin dein Herr, Jesus, Christus. Ich bin vom Kreuz gestiegen. Sieh mich an — das Blut, der Schmerz, das Leiden der Unschuldigen! Laß mich ein!< Die Witwe, erinnert sich Zwi, warf sich ihm zu Füßen und versteckte ihn drei Tage. Dann machte sich der junge Mann auf in den Wald. Dort überlebte er den Krieg als Partisan.«

Hatte Jesu Tod einen Sinn? Man soll dieses Sterben in Gottes- und Menschenverlassenheit nicht durch allerlei menschenförmige Theorie spekulativ überspielen und überhöhen wollen. Warum nicht? Weil allein im nachhinein, von der geglaubten Auferweckung Jesu zu neuem Leben durch und mit Gott, ein »Sinn« in dieses sinnlose, gottverlassene Sterben hineinkommt. Nur aufgrund dieses Glaubens ist der zu Gottes ewigem Leben erweckte Gekreuzigte die Einladung, auch bei sinnlosem Leiden hoffend, vertrauend, auf einen Sinn selbst im sinnlosen, gottverlassenen Sterben zu vertrauen und für sich selber in diesem Leben ein Durchstehen und Durchhalten bis zum Ende einzuüben. Also nicht die Erwartung eines Happy Ends auf Erden wie in der Rahmengeschichte des Hiob, dem am Ende sogar die drei Töchter zurückgegeben werden. Sondern ganz radikal das Angebot, selbst im (zur Not bis zum bitteren Ende durchgestandenen) sinnlosen Leiden einen Sinn zu bejahen: einen verborgenen Sinn, den der Mensch nicht von sich aus entdecken, wohl aber im Licht dieses einen von Gott und Menschen Verlassenen und doch Gerechtfertigten geschenkt erhalten kann. Leiden und Hoffnung gehören für die Schrift unlösbar zusammen! Hoffnung auf einen Gott, der sich trotz allem nicht als launisch-apathischer Willkürgott, sondern als Gott der rettenden Liebe erweisen und durchsetzen wird.

Ohne daß also das Leiden verniedlicht, uminterpretiert oder glorifiziert oder auch einfach stoisch, apathisch, gefühllos hingenommen wird, läßt sich vom leidenden Gottesknecht Jesus her erkennen und in oft beinahe verzweifelter Hoffnung in Protest und Gebet bekennen,

— daß Gott auch dann noch, wenn das Leiden scheinbar sinnlos ist, verborgen anwesend bleibt;

— daß Gott uns zwar nicht vor allem Leid, wohl aber in allem Leid bewahrt;

— daß wir so, wo immer möglich, Solidarität im Leiden beweisen und es mitzutragen versuchen sollten;

— ja, daß wir das Leid so nicht nur ertragen, sondern, wo immer möglich, bekämpfen, bekämpfen weniger im Einzelnen als in den leidverursachenden Strukturen und Verhältnissen.

Ob dies eine lebbare Antwort ist, die das Leid nicht vergessen, aber verarbeiten hilft, muß jeder, muß jede für sich selbst entscheiden. Betroffen gemacht und ermutigt hat mich die Tatsache, daß selbst in Auschwitz ungezählte Juden und auch einige Christen an den trotz aller Schrecknisse dennoch verborgen anwesenden, an den nicht nur mitleidenden, sondern sich auch erbarmenden Gott geglaubt haben. Sie haben vertraut, und sie haben — was oft übersehen wird — auch gebetet selbst noch in der Hölle von Auschwitz! Unterdessen sind viele erschütternde Zeugnisse gesammelt worden, die beweisen, daß in den KZs nicht nur in aller Heimlichkeit aus dem Talmud rezitiert und Festtage begangen wurden, sondern daß selbst angesichts des Todes im Vertrauen auf Gott gebetet wurde. So berichtet Rabbi Zvi Hirsch Meisels, wie er am Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrstag unter Lebensgefahr 1400 zum Tode verurteilten Jungen auf deren Bitten heimlich ein letztes Mal den Schofar (»Widderhorn«) blies und, als er ihren Block verließ, ein Junge rief: »Der Rebbe hat unseren Geist gestärkt, indem er uns sagte, daß >selbst wenn ein scharfes Schwert an der Gurgel eines Menschen liegt, er nicht an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln solle<. Ich sage Euch, wir können hoffen, daß die Dinge besser werden, aber wir müssen darauf vorbereitet sein, daß sie schlechter werden. Um Gottes willen, laßt uns nicht vergessen, im letzten Moment das Schema Israel mit Hingabe auszurufen.« So haben denn ungezählte Juden (und einige Christen) in den KZs darauf vertraut, daß es einen Sinn hat, das eigene Leid hinzunehmen, den verborgenen Gott anzurufen und anderen Menschen, soweit noch möglich, beizustehen. Und weil Menschen sogar in Auschwitz gebetet haben, ist das Gebet nach Auschwitz zwar nicht leichter geworden, aber sinnlos, nein, sinnlos kann es jedenfalls deshalb nicht sein.

7. Ein dritter Weg
Und haben nun die Menschen in Auschwitz — ob Juden oder Christen — in ihren Gebeten zu einem schwachen, törichten, gefangenen, ohnmächtigen, totenGott gefleht? Unvorstellbar! Wenn überhaupt, dann dürften sie zu einem lebendigen, teilnehmenden, wenngleich abwesenden, verborgenen Gott gerufen haben, auf dessen Macht und Güte sie vertrauten — durch alle Gewalt und Bosheit der Menschen hindurch: zur Sonne, die von dunklen Wolken völlig verdeckt ist. Wie es ein Jude auf die Mauern des Warschauer Gettos geschrieben hatte:

»Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.
Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.«


Nein, nicht der ohnmächtige Gott, sondern der mit-leidende Gott der Liebe, Stärke, Güte und Barmherzigkeit machte die Opfer stark, dem Grauen zu widerstehen.

Den barmherzigen Gott in Todeslagern bekennen, heißt also nicht, Gott selber als Gefangenen, als Opfer, als Toten bezeugen. Sondern das heißt, Gott selber als einen lebendigen Gott für die Gefangenen, für die Opfer, für die Toten bekennen. Einen Gott jedenfalls, der eindeutig auf der Seite der Opfer, nicht auf der Seite der Henker steht. Unser gemeinsamer jüdischer und christlicher Glaube gilt einem Gott, dem die Zukunft gehören wird, der in Gerechtigkeit den Rechtlosen Recht verschafft und so an den Ohnmächtigen seine Macht beweisen wird, einen Gott der Lebendigen und nicht der Toten!

In summa: Die konkrete Frage des »Nicht-Eingreifens« und des »Nicht-verhindert-Habens« durch Gott habe ich mit dieser Antwort theoretisch nicht gelöst, weil ich sie nicht lösen kann. Aber ich habe versucht, sie zu relativieren. Ein mittlerer Weg — scheint mir — ist uns, Christen und Juden, angesichts der ungeheuren Negativität theologisch angeboten: Auf der einen Seite die Gottlosigkeit jener, die in Auschwitz ihr stärkstes Argument gegen Gott zu finden meinen und die doch nichts erklären. Auf der anderen die Gottgläubigkeit jener, die Auschwitz trinitätstheologisch spekulativ verarbeiten, in eine innergöttliche Leidensdialektik hinein aufheben und so die letzte Ursache des Leidens ebenfalls nicht erklären. Dieser mittlere, bescheidene Weg ist der Weg des unerschütterlichen, nicht irrationalen, sondern durchaus vernünftigen Gottvertrauens — trotz allem: des Glaubens an einen Gott, der das Licht bleibt trotz und in abgrundtiefer Dunkelheit. Weil es Auschwitz gibt, sagt der Gottlose, ist mir der Gedanke an Gott unerträglich. Und der Gottgläubige, ob Jude oder Christ, darf antworten: Nur weil es Gott gibt, ist mir der Gedanke an Auschwitz überhaupt erträglich.

So sieht es aus der Perspektive jüdischer Theologie auch der orthodoxe amerikanische Theologe Michael Wyschogrod: »Der jüdische Glaube ist deshalb von Anbeginn an Glaube, daß Gott tun kann, was menschlich unbegreiflich ist. In unserer Zeit schließt das den Glauben ein, daß trotz Auschwitz Gott Seine Verheißung erfüllen wird, Israel und die Welt zu erlösen. Kann ich verstehen, wie das möglich ist? Nein. Und erst recht kann ich nicht verstehen, wie Gott es jemals wieder an denen gutmachen kann, die im Holocaust umkamen. Aber mit Abraham glaube ich, daß er es tun wird. Ist dieser Glaube anstößig? Macht er es sich mit dem Leiden der Ermordeten zu leicht? In gewisser Hinsicht ja, ganz bestimmt aber aus menschlicher Sicht. Aber Gott kann und wird es tun. Er ist nicht an das gebunden, was menschenmöglich ist. Er hat versprochen, uns zu erlösen, und Er wird es tun.« Darüber scheint mir, müßte man in Zukunft mehr reden zwischen Juden und Christen. Ist es doch genau das, was der Apostel Paulus meint mit jenen hymnisch klingenden, aber von eigener Leidenserfahrung tief gezeichneten Sätzen, die er heute auch über Auschwitz, Hiroschima und Archipel Gulag schreiben könnte: »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? ... Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.« (Röm 8, 31. 38f.)

Doch erst am Ende wird offenbar, was der agnostische jüdische Philosoph Max Horkheimer so sehr von »dem ganz Anderen« erhofft hatte: »daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«. Und auch unsere jüdischen Brüder und Schwestern werden einstimmen können in das, was da im Anschluß an die Propheten auf den letzten Seiten des Neuen Testaments über das Eschaton als Zeugnis der Hoffnung geschrieben steht: »Und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen« (Offb 21. 33f.) S.726ff.
Aus: Hans Küng, Das Judentum, Serie Piper SP 12827, Piper München Zürich
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a
Weltethos

Der fatale Antisemitismus eines Katholiken: Adolf Hitler
Bei allen notwendigen historischen Strukturanalysen des nationalsozialistischen Antisemitismus — die ausschlaggebende ganz persönliche Rolle Adolf Hitlers und seiner Helfershelfer darf man nicht außer acht lassen. Geschichtsschreibung kann nie mathematische Exaktheit erreichen, und die Beschreibung von ökonomisch-sozialen Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten reicht erst recht nicht aus. Nur eine Verbindung von Strukturgeschichte, politischer Geschichtsschreibung und biographischer Interpretation dürfte der Wirklichkeit annäherungsweise gerecht werden.

Über Hitlers Weg zur Macht, zur Totalherrschaft, in den Krieg, zum Mord an den Juden lese man etwa die zusammenfassenden Analysen des Stuttgarter Historikers Eberhard Jäckel: Es ging tatsächlich um Hitlers »Weltanschauung«, um Hitlers »Herrschaft«. Oder man lese des Münsteraner Historikers Hans-Ulrich Thamer große Synthese über das Deutschland von 1933 bis 1945 mit dem Titel »Verführung und Gewalt«. Was die NS-Vernichtungspolitik gegenüber den Juden betrifft, stellt Jäckel fest, daß »die Entfernung der Juden Hitlers ältestes Ziel« war. Und Thamer: »Unübersehbar ist, daß der Antisemitismus mit Hitlers Eintritt in die Politik die zentrale Rolle in seinem politischen Denken und Agitieren spielte und daß der Antisemitismus seine Politik blieb.« Man bedenke: Schon im September 1919 (als er noch Angehöriger der Armee war), hatte Hitler geschrieben: »Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen (sie). Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte des Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.«

Was heißt das? Das heißt: Schon bevor Hitler großdeutscher Nationalist war, war er radikaler Antisemit. Und wie andere die Geschichte einfach als Klassenkampf ansahen, sah Hitler sie — wir haben die fatale Traditionslinie angedeutet — als Rassenkampf: Kampf der germanischen Herren-Rasse um die Weltherrschaft. Und diejenige Rasse, die es in diesem Kampf vor allem zu besiegen galt, war für ihn das »internationale Weltjudentum«: der Menschheitsfeind Nummer 1! Lebensraumeroberung und Judenvernichtung die beiden zentralen Programmpunkte der Nationalsozialistischen Bewegung — gehören für Adolf Hitler von Anfang an zusammen. Weltkrieg und Holocaust gründen hier.

Bereits als Schüler muß Hitler, der, sechsjährig, als Chorknabe und Meßdiener begonnen und sich »oft und oft am feierlichen Prunke der äußerst glanzvollen kirchlichen Feste« berauscht hatte, durch einen primitiv-autoritären Religionsunterricht irreligiös gemacht worden sein. Einfluß auf den Schüler hatten vor allem antijudaistische Aussagen des Johannesevangeliums (»Kinder des Lichts« = Christen; »Kinder der Finsternis« Juden), und auch später ist Hiters Judenhaß ohne das antisemitische Klima Österreichs und Wiens, von dessen Kirche und christlich-sozialer Partei, undenkbar. Es ist bekannt:

Schon seit der Aufklärung hatte Österreichs katholische Kirche den traditionellen Antijudaismus der österreichischen Bevölkerung geschürt, ja, bewußt als politisches Instrument eingesetzt, und zwar sowohl gegen die Monarchie wie gegen die Demokratie: zuerst gegen den aufgeklärten Kaiser Joseph II., den die jüdische Bevölkerung wegen seines Toleranz-Patents hoch verehrte; dann gegen Kaiser Franz Joseph I. wegen persönlicher Beziehungen zu Juden und schließlich auch gegen die liberalen Bürgerlichen, die als »jüdisch verseucht« und für den Untergang der Donaumonarchie verantwortlich galten. Kein Zufall also, daß es nach 1918 der höchst populäre Wiener Bürgermeister, antisemitische Gründer und Führer der christlich-sozialen Partei, Karl Lueger, war, der Hitlers erstes Vorbild als großer charismatischer Massenführer wurde. Der österreichische Historiker Friedrich Heer hat in seiner monumentalen Studie über den Glauben des Adolf Hitler (1968) — im katholischen Milieu viel zu wenig beachtet — dazu das Nötige gesagt.

Wie war es denn damals gewesen? Wien, Schmelztiegel unzähliger Völker und volkhafter Elemente, hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend unter sozialer Not gelitten. Alte Vorurteile waren wieder wach geworden: Juden, deren Bevölkerungsanteil in der ihnen gewogenen Kaiserstadt von circa 6 200 im Jahr 1857 auf weit über 200.000 im Jahr 1923 gestiegen war, nahmen sowohl in Finanz und Handel als auch in Ärzteschaft und Justiz sowie schließlich in Presse und Universität eine immer beherrschendere Stellung ein. Nach Österreichs Niederlage bei Königgrätz von 1866 und erst recht nach dem Börsenkrach von 1873 aber hatten sie wieder einmal als Sündenböcke für die verschlechterte wirtschaftlich-gesellschaftliche Lage der Massen herzuhalten. All die immensen Probleme der modernen Urbanisierung, der Industrialisierung und des Frühkapitalismus — sie wurden »den Juden« angelastet. »Die Juden« steckten angeblich überall dahinter: hinter Aufklärerei, Liberalismus und Libertinismus, aber auch hinter Sozialismus und Marxismus. Wie bequem: Kirchen und bürgerliche Parteien, aber Teile auch der Sozialdemokratie hatten plötzlich einen gemeinsamen Gegner im Kampf um die Gunst der Massen. »Die Juden« galten als Urheber nicht nur der wirtschaftlichen Krise, sondern auch als Verschwörer gegen Kirche, Klerus und religiöse Ordnung. Und der Katholik Adolf Hitler? Er hat diese antisemitische Luft Wiens und Österreichs von Jugend an tief eingeatmet . . .

Aber zugleich muß deutlich gesagt werden: Hitlers persönlicher Antisemitismus war wesentlich mehr als der religiöse Antijudaismus der Kirche, der ja nie auf physische Ausrottung, sondern auf Ausgrenzung oder Bekehrung ausgerichtet war. Er war auch wesentlich mehr als der sozial begründete Antisemitismus der finanziell Verschuldeten, der sich gegen jüdische Geldverleiher und nicht etwa gegen jüdische Ärzte richtete. Nein, der Antisemitismus Hitlers war biologistisch-rassistisch und damit total — gegen »den Juden« schlechthin. Wesentlichen Einfluß schon auf den jungen Hitler hatten die wirren Hefte eines Ex-Mönchs gehabt, eines gewissen Georg Lanz von Liebenfels; Einfluß aber hatte auch Hitlers »Freund Bernhard«, jener katholische Ex-Ordensmann Bernhard Stempfle, der an der Redigierung von »Mein Kampf« beteiligt war und Hitler noch in München nahestand, bis er dann durch einen Irrtum der SS beim Röhm-Putsch 1934 aus Versehen miterschossen wurde (Hitler empört: »Diese Schweine haben meinen guten Pater Stempfle auch umgebracht!«).

Gewiß: Parteiführer geworden, verachtete Hitler die deutschen Bischöfe als Schwächlinge, obwohl er als Machtmensch die Organisation, Dogmenfestigkeit und liturgische Prachtentfaltung der 2 000-jährigen römischen Kirche (und insbesondere die Disziplin der Jesuiten) bewundern konnte. Und wenngleich er seine Kirchensteuer bis zum bitteren Ende korrekt an die katholische Kirche abführte, so sann er für die Zeit nach dem Krieg auf Rache gegenüber zahlreichen schweigsamen, renitenten katholischen Pfarrern und Kaplänen. Die Juden aber, die haßte Hitler mehr als alles andere in der Welt.

Und wahrhaftig, als er angesichts der totalen Niederlage am 30. April 1945 durch Selbstmord seinem Leben ein Ende setzte, hätte er seinem ideologisch-pathologischen Vernichtungswillen beinahe wirklich einen »Holo-caust«, ein »Ganz-Opfer« dargebracht: Fast sechs Millionen Menschen starben, nur weil sie Juden waren, dazu kamen noch 500 000 nichtjüdische Häftlinge. »Holocaust« (vom jüdisch­amerikanischen Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Eli Wiesel eingeführt), ist dabei ein nicht unproblematisches Wort, meint es doch ursprünglich im religiösen Sinn ein »Ganz-Opfer« oder »Brand-opfer«. Die vernichteten Juden aber wollten ja nun keineswegs »Opfer« sein, sondern leben! Und die Vernichter wollten nicht eigentlich ein »Opfer« vollziehen (wem gegenüber eigentlich?), sondern total ausrotten. Das ist der Grund, warum viele Juden heute für diese Massenvernichtung das Wort »Schoa« vorziehen, das Jesaja 47,11 entnommen ist und »Unheil«, »Katastrophe«, meint. Ob man dabei freilich genug bedacht hat, daß sich das Wort Schoa bei Jesaja nicht auf Israel, sondern auf Babel bezieht? Bevor freilich kein adäquates Wort gefunden ist, wird man sich am besten an den am weitesten verbreiteten Sprachgebrauch »Holocaust« halten.

Die Schuldfrage aber am Holocaust ist durch die Konzentration auf den »Führer« selbstverständlich noch nicht beantwortet. Zu viele — und wahrhaftig nicht nur die über 10 Millionen Parteigenossen — haben sich nach dem Krieg in die Unwahrhaftigkeit geflüchtet. Freilich verführte gerade die schematische und auf die ganze Bevölkerung ausgedehnte alliierte Entnazifizierungskampagne dazu, das in die Fragebogen zur Entlastung Hineingeschriebene auch zu glauben und die Sache damit erledigt sein zu lassen. So wurden aus Hauptschuldigen Belastete, aus Belasteten Mitläufer und aus Mitläufern Entlastete. Im übrigen hatte man sich jetzt zunächst um Essen und Wohnung, um Wiederaufbau der zerstörten Städte, um Reorganisation des Wirtschaftslebens und den Neubau eines demokratischen Staatswesens zu kümmern! Was vorbei ist, ist vorbei!?

Und so ist es denn nicht verwunderlich, wenn die zunächst und dann so lange verdrängten Fragen nach den Verantwortlichkeiten erst Jahrzehnte später wieder neu aufbrachen: In auffälliger Gleichzeitigkeit mit dem Historiker-Streit und dem Fall des Gestapo-Schergen Barbie in Lyon auch der »Fall« des früheren Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kurt Waldheim in Wien. Auf Betreiben gerade der Christlich-Sozialen zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt, erwies sich Waldheim, der immer mehr als Mitmacher in Hitlers Kriegsmaschinerie überführt wurde, als fast ideale Identifikationsfigur vieler seiner Landesgenossen, die Vergangenheit durch Verleugnen oder Verdrängen des eigenen Schuldanteils zu bewältigen.

Bedenklich ist: Die Kritik an Waldheims Verhalten, die nicht nur von jüdischen Organisationen, sondern auch von Ungezählten in Österreich erhoben wurde, führte weniger zu einer Selbstbesinnung als zu einem deutlich spürbaren Neuaufflackern des Antisemitismus in Österreich. Kein geringerer als der Wiener Weihbischof Krätzl sah sich deshalb gezwungen, im März 1988 gegen solche Tendenzen Stellung zu nehmen: »Mit Schweigen und Zuwarten wird man den Antisemitismus nicht zum Verschwinden bringen. Bis vor kurzem noch habe ich geglaubt, es sei übertrieben, in Österreich noch immer allzuviel Antisemitismus zu vermuten. Seit ich aber am Nationalfeiertag in Mariazell darüber predigte, wie unchristlich eigentlich Antisemitismus sei, bin ich eines anderen belehrt worden. Persönlich gleich nach der Messe, später in Briefen und per Telefon erhielt ich kräftige Vorwürfe über meine Aussagen. Wir Christen hätten ganz und gar nichts mir den Juden zu tun. Man müsse die Schuld am Antisemitismus diesen nur neu hervor. Einer verstieg sich sogar zur Behauptung, die ganz allein bei den Juden suchen. Über Antisemitismus zu reden, rufe Immer wieder erwähnten Greueltaten in Auschwitz seien nur eine Geschichtslüge. Es scheint also wieder notwendig zu sein, den Wurzeln des Antisemitismus nachzugehen und zu fragen: War er wirklich noch da oder ist er wieder neu entflammt?«

Zur Beschreibung gerade der kirchlichen Situation bedürfen heute besonders vier Problemfelder weiterer, auch historischer Aufklärung:
die Verantwortung der deutschen Protestanten, die des Vatikans, die der deutschen katholischen Bischöfe und die des polnischen Katholizismus. S.294ff.
Aus: Hans Küng, Das Judentum, Serie Piper SP 12827, Piper München Zürich
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng, s. a.
Weltethos

Muhammad — ein Prophet?
Gestalt und Botschaft des Muhammad sind im geschichtlichen Kontext zu sehen, sind mitten im riesigen Strom der einen religiösen Geschichte der Menschheit; davon kann man bei heutiger Forschung ausgehen. Und ein so bedeutender Islam-Kenner wie Wilfred Cantwell Smith fordert dazu auf, diesen riesigen Strom als ein historisches Kontinuum zu verstehen, wo man zwischen den zwar verschiedenen, aber keineswegs disparaten Religionen in der Tat überall zahlreiche Übergänge und Überschneidungen, Interdependenzen und Interaktionen, ein Nehmen und Geben feststellen kann. Ist es doch gerade Muhammad, der — historisch betrachtet — an einer weltgeschichtlichen Kreuzung steht, wo die altarabische Stammesreligion sich mit Judentum und Christentum überschneidet und sich so von vornherein gewisse Elemente eines gemeinsamen religiösen Erbes (von der Gottesidee bis hin zum religiösen Brauchtum) versammelt haben.
Und doch: gerade der Fall Muhammads macht deutlich, daß dieses historische Kontinuum der religiösen Geschichte der Menschheit — dialektisch! — als ein Kontinuum in Diskontinuität zu verstehen ist. Gewiß ist eine »Big-Bang-Theorie«, wie sie Smith ironisch nennt, zur Deutung der Religionsgeschichte ungeeignet:
Weder für Muhammad und den Islam noch auch für Buddha und den Buddhismus noch schließlich für Jesus Christus und das Christentum steht am Anfang eine »creatio ex nihilo«, eine plötzliche Schöpfung aus dem Nichts, sondern steht immer ein ganz bestimmter historischer Kontext, aus dem heraus gesprochen und gehandelt wird und der eine Verbindung mit allem Vorausgegangenen und allem Gleichzeitigen garantiert.

Andererseits aber dürfte es wohl auch nicht, wie Smith meint, um so etwas wie eine »creatio continua« gehen, um eine gleichmäßig kontinuierliche Schöpfung, um einen einzigen großen religiösen Strom. Organische Bilder wie die vom Strom oder Baum lassen leicht übersehen, daß auch die religiöse Geschichte der Menschheit kein organisches »Fließen« oder »Wachsen« ist. Ganz ohne »Dialektik« (Hegel), ohne die »Kategorie Novum« (Ernst Bloch) und die »maßgebenden Menschen« (Karl Jaspers) läßt sich diese religiöse Geschichte eben doch nicht erklären. Geschichte ist immer Entwicklung und Verwicklung, ein Prozeß mit nicht nur quantitativen, sondern qualitativen Sprüngen, mit Übergängen und Brüchen, Absterben und Neuwerden. Und Muhammad — genauer der Koran — bedeutet in der Geschichte der arabischen Völker unübersehbar einen epochalen Einschnitt: Muhammad gleichsam das Dis-continuum in Person, eine letztlich irreduktible [nicht wiederherstellbare, zurückführbare, ableitbare] Gestalt, die nicht einfach aus dem Vorausgegangenen abgeleitet werden kann, sondern die, durchaus disparat, mit dem Koran neue bleibende Maßstäbe setzt. Insofern bedeutet Muhammad, bedeutet der Koran für die Religiosität der arabischen Völker eine Scheidung, eine Entscheidung: Abkehr von der Vergangenheit, Hinkehr auf eine neue Zukunft. In der Tat zu Recht: der Beginn einer neuen Zeitrechnung! Ohne diese Quelle kein Fluß, ohne dieses Reis kein Baum!

Es ist also nicht so, als ob in der religiösen Geschichte der Menschheit alles kreiste: so wie etwa die Übung des ursprünglich hinduistisch-buddhistischen, dann islamischen und schließlich christlichen Rosenkranzes oder die Wanderlegende des christlichen Heiligen »Josaphat«, der ursprünglich niemand anders ist als der »Boddhisattva«, der Buddha! Zu ganz bestimmten Zeiten taucht nun einmal unableitbar aus dem kontinuierlich dahin-fließenden Strom die Gestalt des Prophetischen auf, oder besser: steigt der Prophet in den trägen Strom religiöser Geschichte und versucht mit aller Kraft, ihm eine andere Richtung zu geben. Erreicht er es, gehört er eben zu jenen »maßgebenden Menschen«, die dann auch für alle folgenden Jahrhunderte ihrer Religion das Maß vorgegeben haben, an dem sie stets zu messen sind. Daß freilich Muhammad — angeblich wegen Mangels an Originalität — bei Karl Jaspers keine Beachtung findet, ist ein schweres Mißverständnis. Hat dieser Prophet doch für einen großen Teil der Menschheit wie ein religiöser Archetyp gewirkt, hat man doch durch alle die Jahrhunderte immer wieder bewußt auf ihn, die Urgemeinde, den Koran, zurückgegriffen.

Bekanntlich gibt es viele Religionen, die keine Propheten im strengen Sinn kennen: Die Hindus haben ihre Gurus und Sadhus, die Chinesen ihre Weisen, die Buddhisten ihre Meister; sie alle haben nicht wie Juden, Christen und eben auch die Muslime ihre Propheten. Kein Zweifel indessen, wenn einer in der gesamten Religionsgeschichte schlechthin »der Prophet« genannt wird, weil er behauptete, dies zu sein, aber auf keinen Fall mehr— dann war es Muhammad. Und war er es? Wir hörten es, und ich kann mich kurz fassen. Auch der rechtgläubige Christ (oder Jude) kann, falls er sich orientieren läßt, bestimmte Parallelen nicht bestreiten:

- Wie die Propheten Israels wirkte auch Muhammad nicht kraft eines von der Gemeinschaft (oder ihren Autoritäten) verliehenen Amtes, sondern aufgrund einer besonderen persönlichen Beziehung zu Gott.

- Wie die Propheten Israels war Muhammad eine willensstarke Persönlichkeit, die sich von ihrer göttlichen Berufung völlig durchdrungen, total beansprucht, exklusiv beauftragt sah.

- Wie die Propheten Israels, so hat auch Muhammad in eine religiös-gesellschaftliche Krise hineingesprochen, stand er mit seiner leidenschaftlichen Frömmigkeit und seiner umstürzenden Verkündigung in Opposition zur vermögenden herrschenden Kaste und zu der von ihr gehüteten Tradition.

- Wie die Propheten Israels will Muhammad, der sich meist »Warner« nennt, nichts als Sprachrohr Gottes sein und Gottes Wort, nicht sein eigenes, verkünden.

- Wie die Propheten Israels kündet Muhammad unermüdlich den einen Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet und der zugleich der gütige Schöpfer und barmherzige Richter ist.

- Wie die Propheten Israels, so fordert auch Muhammad gegenüber diesem einen Gott unbedingten Gehorsam, Unterwerfung, »Hingabe« (»Islam«): alles das, was Dankbarkeit gegenüber Gott und Großzügigkeit gegenüber den Mitmenschen einschließt.

- Wie die Propheten Israels verbindet auch Muhammad seinen Monotheismus mit einem Humanismus, den Glauben an den einen Gott und sein Gericht mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit: Gericht und Erlösung, Drohungen den Ungerechten, die in die Hölle gehen, und Verheißungen den Gerechten, die zu Gottes Paradies versammelt werden.

Wer immer die Bibel, das Alte Testament zumal, und den Koran nebeneinander legt und nebeneinander liest, der fragt sich: Haben nicht die drei Offenbarungsreligionen semitischen Ursprungs — Judentum, Christentum und Islam —, haben nicht insbesondere Altes Testament und Koran dieselbe Basis? Redet nicht in beiden überdeutlich der eine und selbe Gott? Entspricht das »So spricht der Herr« des Alten Testaments nicht dem »Sage« des Koran, das alttestamentliche »Geh hin und künde!« nicht dem koranischen »Stell dich auf und warne!«? In der Tat: auch die Millionen arabisch sprechender Christen kennen für »Gott« kein anderes Wort als — »Allah«!

Ist es also nicht vielleicht doch nur ein dogmatisches Vorurteil, wenn wir zwar Amos und Hosea, Jesaja und Jeremia als Propheten anerkennen, Muhammad aber nicht? Was immer man vom Standpunkt westlich-christlicher Moralität gegen Muhammad einwenden mag (Waffengewalt, Polygamie, Sinnenleben), es ist nun einmal unbestreitbar, daß noch heute bald 800 Millionen Menschen in den riesigen Räumen zwischen Marokko im Westen und Bangladesch im Osten, den Steppen Zentralasiens im Norden und der indonesischen Inselwelt im Süden alle durch die fordernde Kraft eines Glaubens geprägt sind, der wie kaum ein anderer seine Bekenner zu einem einheitlichen Typus hat werden lassen;

daß alle diese Menschen verbunden sind durch ein einfaches Glaubensbekenntnis (»Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet«); verbunden sind durch fünf Grundpflichten (Glaubensbekenntnis, Gebet, Armensteuer, Fastenmonat, Wallfahrt); verbunden sind durch die alles durchdringende Ergebenheit in Gottes Willen, als dessen unabänderliche Entscheidung auch das Leid hinzunehmen ist; daß in allen diesen Völkern ein Sinn lebendig geblieben ist für eine grundsätzliche Gleichheit der Menschen vor Gott und eine übernationale Brüderlichkeit, welche die Rassen (Araber und Nichtaraber) und sogar die indischen Kasten mindestens grundsätzlich zu überwinden vermochte.

Ich bin sicher, es wächst in der Christenheit heute die Überzeugung: Wir kommen angesichts des welthistorischen Faktums Muhammad nicht darum herum, Korrekturen vorzunehmen. Die aus dogmatischer Unduldsamkeit stammende »Exklusivitätsseuche«, die der liberale britische Universalhistoriker Arnold Toynbee geißelte, ist aufzugeben, und in bezug auf die Figur des Propheten ist zuzugeben:

- daß die Menschen im Arabien des 7. Jahrhunderts zu Recht auf die Stimme Muhammads gehört haben;

- daß sie — gemessen am sehr diesseitigen Polytheismus der altarabischen Stammesreligionen — auf ein ganz anderes religiöses Niveau, eben das einer monotheistischen Hochreligion, gehoben wurden;

- daß sie allesamt von Muhammad — besser: vom Koran — unendlich viel Inspiration, Mut und Kraft zu einem religiösen Neuaufbruch empfangen haben: zum Aufbruch in größere Wahrheit und tiefere Erkenntnis, zum Durchbruch auf Verlebendigung und Erneuerung der überlieferten Religion. Der Islam als die große Lebenshilfe!

Wahrhaftig, für die Menschen des arabischen Raumes und schließlich weit darüber hinaus war und ist Muhammad der religiöse Reformator, Gesetzgeber und Führer: der Prophet schlechthin. Ja, im Grunde ist Muhammad, der immer nur ein Mensch sein wollte, für diejenigen, die ihm nachfolgen (»imitatio Mahumetis«), mehr als für uns ein Prophet: Er ist ein Lebensmodell für jene Lebensform, die der Islam sein will. Und wenn die katholische Kirche nach der Erklärung über die nichtchristlichen Religionen des Vatikanum II (1964) — man möge mir in diesem Kontext die nicht nur rituelle Zitation gestatten — »auch die Muslime mit Hochachtung betrachtet, die den alleinigen Gott anbeten..., der zu den Menschen gesprochen hat«: dann müßte meines Erachtens dieselbe Kirche — und müßten alle christlichen Kirchen — auch den einen »mit Hochachtung betrachten«, dessen Namen in jener Erklärung aus Verlegenheit verschwiegen wird, obwohl doch er und er allein die Muslime zur Anbetung dieses einen Gottes geführt hat und nun einmal durch ihn dieser Gott »zu den Menschen gesprochen hat«: Muhammad, den Propheten!

Es wird ja oft übersehen: Schon in alttestamentlicher Zeit gab es sehr verschiedene Propheten; und vielleicht waren auch sie nicht alle große Heilige. Nach Aussagen des Neuen Testaments indessen gibt es auch nach Jesus echte Propheten: Menschen, die ihn und seine Botschaft bestätigen, deuten und in eine neue Zeit und Situation hinein aussagen. So nahmen die »Propheten« etwa in den paulinischen Gemeinden (wie aus dem ersten Korintherbrief hervorgeht) die zweite Stelle nach den Aposteln ein. Doch ist die Prophetie — ein Phänomen vor allem judenchristlichen Ursprungs bald nach dem Ende der paulinischen Mission und mit dem Zurücktreten des Judenchristentums aus dem Erscheinungsbild der meisten christlichen Gemeinden verschwunden; nach der montanistischen Krise im 2./3. Jahrhundert (die urchristlich-apokalyptisch inspirierte Lehre des Montanus gab sich als »die neue Prophetie«) sind die Propheten (und Prophetinnen!) weithin in Verruf geraten. Aber vom Neuen Testament her gesehen muß man sich nicht von vornherein dogmatisch dagegen wehren, wenn sich Muhammad als ein echter Prophet nach Jesus verstand, der beanspruchte, mit ihm in grundlegender Übereinstimmung zu sein. Freilich: das Verhältnis zwischen Jesus, dem Christus, und Muhammad, dem Propheten, bleibt im einzelnen noch zu klären. Doch hätte nicht schon diese Zuerkennung des Prophetentitels für Muhammad schwerwiegende Konsequenzen, besonders für die Botschaft, die er verkündet hat, die niedergelegt ist im Koran?
S.46-52
Aus: Hans Küng/Josef van Ess, Christentum und Weltreligionen: Islam, Serie Piper SP 1908, Piper München Zürich Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Hans Küng,
s. a. weltethos